8.

 

Pauline atmete tief durch. Alles war gut gegangen. Vor wenigen Minuten hatte ihr ein Expressbote die Originale des Sion-Dossiers – als Werbebroschüren deklariert – in einem Paket zugestellt. Das Dossier war unbemerkt in die Bibliothek zurückgelangt. Jahzara würde sich in etwa zwei Stunden die Kopien bei Andreia abholen. Das Ganze hatte sie viel Nerven gekostet. Große Bedenken waren ihr gekommen, als sie sich die Frage gestellt hatte, wie und vor allem wo sie so viele Dokumente heimlich kopieren könne. Ein Kopierladen schied aus. Einige der alten Schriften waren in einem sehr schlechten Zustand. Sie mit der Hand anzufassen, war nicht ratsam. Die Säuren auf den Fingern zersetzten erfahrungsgemäß mit der Zeit die Seitenränder. Schließlich war ihr gestern am späten Abend der rettende Gedanke gekommen. Ihre Freundin Andreia arbeitete im Centro Cultural de Belém, nicht weit von der Bibliothek entfernt. Das Kultur- und Kunstzentrum verfügte über einen hochmodernen Scanner, die jede Seite automatisch umblätterte und digital kopierte. Deshalb hatte sie ihrer Freundin noch am Abend die Dokumente übergeben. Sonderlich wohl hatte sie sich dabei nicht gefühlt. Wie eine Diebin war sie sich vorgekommen, als sie das komplette Dossier, unter ihrer Kleidung versteckt, an dem Sicherheitsbeamten des Hauses vorbei rausgeschmuggelt hatte. Aber es hatte geklappt. Vereinbarungsgemäß hatte Andreia dann das Original per Boten zurückgeschickt. Niemand wäre auf die Idee gekommen, ein ankommendes Paket nach vertraulichen Unterlagen aus dem Museum zu durchsuchen.

Pauline schaute auf die Uhr und verließ ihr Büro. Sie hatte sich mit Jahzara zum Mittagessen in der Cafeteria Quadrante im Kulturzentrum verabredet. Am Haupteingang des Hieronymosklosters herrschte Hochbetrieb. Sie drängte sich durch die Menschenmassen vor dem archäologischen Nationalmuseum, setzte sich für einige Minuten auf eine Bank im Praça do Império und schlenderte dann zu dem bunkerähnlichen Betonkomplex des Kultur- und Kongresszentrums, den viele als hypermodernes architektonisches Wunderwerk bezeichneten, den sie selbst jedoch als grauenhaft hässlich empfand.

Im Café wartete Jahzara bereits auf sie. Ihre Augen glänzten. »Hallo, Mama. Ich bin so aufgeregt. Danke, dass du das für mich getan hast!«

»Meine liebe Prinzessin, ich weiß, ehrlich gesagt, nicht, warum ich mich auf diese Sache eingelassen habe. Versprich mir, um Gottes willen, mit diesem Dossier sehr sorgsam umzugehen. Das ist Sprengstoff, sage ich dir! Wenn deine Dissertation dieses sehr unrühmliche Kapitel der Beziehung zwischen der römisch-katholischen Kirche und den Christen Äthiopiens enthüllt, wird es viel Aufregung geben. Im Vatikan ebenso wie hier in Lissabon. Dein Vater hat sich übrigens, wie von dir erbeten, mit einigen Freunden in Addis Abeba in Verbindung gesetzt. Er wird versuchen, dass diese Leute dir als Gesprächspartner zur Verfügung stehen, wenn du nach Hause fliegst. Jetzt aber genug von diesem Thema. Mich interessiert was ganz anderes. Und zwar dieser Peter. Er ist nett, ein sehr interessanter Mann. Aber ein bisschen alt für dich, oder?«

Pauline lächelte ihre Tochter an. Sie sah, wie Jahzara verlegen wurde.

»Was du schon wieder denkst. Sicherlich ist er nett. Sehr nett sogar. Er ist einer der wenigen Männer, die nicht gleich mit mir ins Bett gehen wollen. Zudem ist er sehr einfühlsam und klug.«

Pauline riss erstaunt die Augen auf. »Der will nicht mit dir ins Bett? Mit der hübschesten Äthiopierin Lissabons?«

»Ach, Mama, du weißt schon, wie ich das meine. Natürlich sehe ich in seinen Augen auch Begierde. Aber er stiert mir nicht so unverfroren auf meinen Hintern wie die anderen Männer. Er hat Stil. Außerdem respektiert er mich. Und er liebt Afrika.«

Pauline lachte schelmisch. »Vorsehung, meine kleine Prinzessin! Was da geschieht, kannst du als Wink des Schicksals betrachten. Charles wollte, dass ihr euch in Venedig kennen lernt. Gottes Fügung hat es verhindert. Und jetzt habt ihr euch hier in Lissabon getroffen. Vielleicht will er mit dir nach Äthiopien fliegen. Weiß er schon, dass du demnächst abreist?«

»Nein, ich habe es ihm noch nicht gesagt. Momentan ist alles so aufregend. Ich komme überhaupt nicht dazu, in Ruhe nachzudenken. Er ist jetzt in der Nationalbibliothek. Heute Abend treffen wir uns wieder. Bis dahin habe ich mir das Dossier durchgelesen. Und vielleicht sage ich ihm dann auch, dass ich fliegen werde. Ob ich aber möchte, dass er mitkommt, weiß ich noch nicht so recht. Er ist Mitte, vielleicht sogar schon Ende vierzig, und ich bin gerade mal achtundzwanzig! Außerdem nimmt mich meine Dissertation voll in Beschlag. Das ist die Chance meines Lebens! Jetzt fahre ich erst mal nach Hause und vergrabe mich in diese Dokumente.«

Wenig später verließen Pauline und Jahzara das Kulturzentrum. Arm in Arm schlenderten sie durch die Parkanlagen entlang der Avenida da Índia. Es war angenehm warm. Die Palmen wiegten sich im Mittagswind. Zwei Hochseeschiffe tuckerten am Entdeckerdenkmal vorbei den Rio Tejo entlang.

Jahzara hielt ihre große Handtasche mit den Dokumenten unter ihrem rechten Arm gepresst. In Höhe der Straßenbahnhaltestelle gegenüber dem Kloster blieben beide am Straßenrand stehen.

»Lass es dir gut gehen, Jahzara! Sei vorsichtig. Wenn ich ehrlich sein soll, dann wäre es mir lieber, wenn dieser Peter sich für dich interessieren und in deiner Nähe bleiben würde. Was in Venedig und hier geschehen ist, bereitet mir große Sorgen. Das ist eine sehr gefährliche Sache, an der du recherchierst. Ein Mann in deiner Nähe würde mich beruhigen.«

Eine Viertelstunde später stieg Jahzara an der Straßenbahnhaltestelle an den Cais do Sodré aus. In der völlig überfüllten Straßenbahn hatte sie sich nicht getraut, ihre Handtasche zu öffnen, um in den Dokumenten zu blättern. Sie brannte darauf, endlich nach Hause zu kommen, um das Dossier zu sichten. Nervös stieg sie aus. Wie immer herrschte auf der Avenida da Ribeira das Naus extrem viel Verkehr. Die Fußgängerampel zeigte rot an. Ihre Gedanken waren bei Peter. Er war irgendwo in der Stadt, um von den Fotos, die er von den Dokumenten gemacht hatte, Abzüge machen zu lassen. Die würden sie nun nicht mehr benötigen. Sie hatten nun Kopien des kompletten Dossiers – und damit vielleicht Beweise für all das, was bislang nur als vager Verdacht oder als Fantasien des unbekannten Buchautors im Raum gestanden hatte.

Plötzlich hatte Jahzara das Gefühl, beobachtet zu werden. Panisch blickte sie sich um. Hinter ihr standen dutzende Menschen: Männer, Frauen, Kinder. Aber kein Araber! Ihr Blick schweifte über die Menge. Die Ampel schaltete um. Ängstlich presste sie ihre Handtasche unter den Arm und ließ alle Fußgänger an sich vorbei auf den Zebrastreifen gehen. Da war niemand, der verdächtig aussah.

»Du fängst an zu spinnen, Jahzara«, murmelte sie leise vor sich hin. Demonstrativ hängte sie ihre Handtasche leger über die Schulter. Ganz locker, ermahnte sie sich, nicht so verkrampft. So wie du hier gehst, ahnt jeder Handtaschendieb, dass du etwas Wertvolles mit dir trägst. Also ganz ruhig!

Sie war gerade zwei Schritte auf dem Zebrastreifen vorwärtsgegangen, als sie das Geräusch hörte. Sie konnte nicht ausmachen, woher es kam. Doch es war da. Ganz plötzlich. Der Lärm der Hauptverkehrsstraße dämpfte das Geräusch. Links von ihr standen viele Autos in Schlange vor dem Zebrastreifen. Sie starrte suchend in die Autos hinein. Alles harmlose Menschen. Nur das Geräusch war noch da und wurde immer lauter. Dann sah sie es. Geschockt erstarrte sie mitten auf dem Zebrastreifen. Ein Motorrad mit zwei Männern raste zwischen den wartenden Autoschlangen hindurch auf den Zebrastreifen zu. Jahzara sah das schwarze Helmvisier des Fahrers, sah den ausgestreckten, muskulösen Arm des Soziusfahrers. Sie wusste, was diese Männer wollten. Ihr Verstand riet ihr, wegzulaufen. Aber ihre Beine reagierten nicht. Dann war das Aufheulen des Motors neben und über ihr. Die Wucht des Zusammenpralls mit dem Vorderrad warf sie zu Boden. Sie schrie auf. Ihre Hüfte schmerzte. Der Sozius wirkte plötzlich wie ein Monster, als er neben ihr stand. Der behaarte Arm griff nach ihrer Handtasche und riss sie brutal an sich. Die Lederriemchen der Tasche rissen. Ihre Bluse wurde zerfetzt. Ihre Haare fielen ihr ins Gesicht, und sie konnte nur noch hören, wie das Motorrad mit aufheulendem Motor davonraste.

 

Heftiger Regen prasselte gegen die Panoramascheiben und übertönte die Musik. Die melancholischen Fado-Lieder passten zum Wetter. Lissabon lag unter einer dichten Nebeldecke. Die Scheinwerfer der Kirchen unten im Tal sahen im Zwielicht der Abenddämmerung wie gigantische Augen grässlicher Monster aus. Jahzara lag auf ihrem Bett und starrte aus dem Fenster. Sie tat das schon seit einer halben Stunde, ohne ein Wort zu sagen.

Peter konnte nur ahnen, welche Gedanken und Ängste sie plagten. Er wusste nicht, wie er ein Gespräch einleiten sollte. Die letzten Tage war sie kaum zugänglich gewesen. Wann immer sie sich getroffen hatten, war ihr. anzusehen, dass sie kurz davor war, zu weinen. Ihr Elan war einer Furcht erregenden Lethargie gewichen. Sie redete wie in Trance. Die Situation hatte ihn veranlasst, seinen Rückflug nach Deutschland zu stornieren. Er fühlte sich verpflichtet, Jahzara beizustehen. Er sah es als Vertrauensbeweis an, dass sie ihn schließlich gebeten hatte, in ihre Wohnung zu kommen. Aber auch als Ausdruck ihrer nicht zu übersehenden depressiven Stimmung. Sie hatte Angst. Panische Angst. Wie gerne hätte er sie in diesem Moment in den Arm genommen, sie getröstet, gestreichelt und seine Gefühle vermittelt. Doch er traute sich nicht. Es schien, als hätten die Ereignisse einen Keil zwischen sie getrieben.

Plötzlich klingelte das Telefon. Jahzara ließ das Handy lange klingeln, bevor sie sich widerwillig über das Bett rollte und danach griff. Der Tonfall dokumentierte ihre Stimmung: »Ja?«

Peter konnte eine Frauenstimme aus dem Handy hören. Es war offenbar Pauline. Jahzara bekam glänzende Augen. Plötzlich huschte ein unübersehbarer Anflug von Trotz über ihr Gesicht. In ihren Augen zeigte sich ein abrupter Stimmungswandel.

Jahzara klang auf einmal sehr bestimmt: »Das ist sehr beunruhigend! Und erstaunlich. Hast du eine Ahnung, woher diese Anweisung kommt? Schade! Nein, nein, daran ist nichts zu rütteln. Ich werde fliegen. Niemand wird mich abhalten. Die Äthiopier haben ein Recht darauf, von diesen Dingen zu erfahren. Mach dir keine Sorgen. Peter ist bei mir. Ich werde ihn fragen, ob er mitkommt. Bis dann.«

Peter mochte seinen Ohren nicht trauen. Jahzara war wie ausgewechselt. Was immer es auch gewesen war, was ihre Mutter gesagt hatte, es hatte sie endlich aus ihrer Lethargie gerissen. Und noch etwas war geschehen. Sie hatte, vielleicht ohne dabei an seine Gegenwart zu denken, erkennen lassen, dass sie sich sehr wohl, sicher und geborgen in seiner Gesellschaft fühlte. Peter spürte, wie diese Erkenntnis seinen Endorphinspiegel hochschnellen ließ.

Jahzara schaute ihn trotzig an. Ihre Stimme klang selbstbewusst: »Das war Pauline. Unglaublich! Der Leiter der Bibliothek hat vom Kultusministerium die Anweisung bekommen, das Sion-Dossier wie eine Verschlusssache zu klassifizieren und von nun an im Tresor des Archivs zu verwahren. Ein Zugriff darauf erfolgt nur noch mit persönlicher und schriftlicher Genehmigung des zuständigen Staatssekretärs.«

Peter riss erstaunt die Augen auf. »Was? Wie kommt das denn zu Stande? Hat man bemerkt, dass wir es in den Fingern hatten?«

»Nein, dass glaubt sie nicht. Weder sie noch wir haben irgendjemanden davon erzählt, dass mir die Kopie des Dossiers gestohlen wurde – « Jahzara hielt abrupt inne und schaute ihn entsetzt an. Sie suchte nach Worten und verdrehte die Augen auf höchst merkwürdige Weise. Dann schritt sie eilig zu ihrem Glasschreibtisch vor dem Fenster, riss ein Blatt Papier aus dem Drucker und griff nach einem Kugelschreiber. Bevor sie zu schreiben begann, blickte sie in seine Richtung und signalisierte ihm mit einem über den Mund gepressten Zeigefinger, zu schweigen. Hastig kritzelte sie einige Sätze auf das Blatt. Er konnte sehen, wie aufgeregt sie atmete. Von Weitem streckte sie ihm das Papier entgegen: »Wir werden abgehört. Mein Handy! Lass uns in eine Bar gehen.«

 

Jahzara begann wie ein Wasserfall zu reden, kaum dass sie einen Platz in der Bar des Chapitô gefunden hatten. Ihre Augen funkelten. Sie war wütend, aber auch ängstlich.

»Außer dir habe ich nur einem Menschen von dem Zwischenfall mit dem Dossier erzählt: meiner Mutter. Dir habe ich es persönlich gesagt. Da konnte niemand mithören. Mama habe ich es am Telefon erzählt! Peter, das Kultusministerium hat heute verfügt, dass das Sion-Dossier unter Verschluss genommen wird. Mama hat keine Ahnung, wieso. Sie ist sicher, dass niemand im Archiv was von der Aktion mitbekommen hat. Also gibt es nur eine Erklärung. Mein Handy wird abgehört! Da sind Leute bestrebt, den Inhalt dieses Dossiers der Öffentlichkeit vorzuenthalten. Wer immer das auch ist, sie haben mitgehört. Erst klauen sie mir die Kopien. Und jetzt wollen sie sicherstellen, dass ich nicht mehr an das Dossier rankomme. Das ist absoluter Wahnsinn! Was sind das für Leute, Peter? Wer hat so viel Macht, die bis in Kultusministerium reicht?«

Peter nahm ihre Hand und versuchte, sie zu beruhigen. »Wahrscheinlich hast du Recht mit deiner Vermutung. Möglicherweise sind in deiner Wohnung auch Wanzen versteckt. Die haben gewusst, dass du dich mit deiner Mutter getroffen hast, um die Kopien des Dossiers abzuholen. Wenig später haben sie dich überfallen. Die wussten wahrscheinlich auch, dass du nach Venedig reist. Und von meiner Verabredung mit Charles am Roten Meer und in Burano. Sie wussten alles! Nicht nur dein Handy wird abgehört. Charles ist auch abgehört worden. Vielleicht ist mein Handy ebenfalls angezapft. Das sind mächtige, sehr gefährliche Leute, Jahzara! Die wollen etwas haben, von dem wir beide nicht mal genau wissen, was es ist.«

Er bemerkte plötzlich, dass er noch immer Jahzaras Hand festhielt. Ihre Handflächen waren feucht. Dennoch spürte er, dass sie den Körperkontakt mit ihm als angenehm empfand. Verlegen wich er ihrem Blick aus. Ihre Handtasche erregte seine Aufmerksamkeit. Ein Gedankenblitz durchzuckte ihn. Die großen Seemuscheln, die als Halterung für die Träger in das Leder eingearbeitet waren! Hatte sie nicht erzählt, dass sie das Gefühl gehabt habe, ein Fremder sei in ihrer Wohnung gewesen? Nun legte er einen Zeigefinger über seinen Mund und signalisierte ihr damit, zu schweigen. Er holte einen Kugelschreiber aus seiner Jacke, schrieb etwas auf einen Bierdeckel: »Nur noch Belangloses sprechen. Wanzen! Du musst dich ausziehen!«

Jahzara starrte ihn entgeistert an. Er griff nach einem zweiten Bierdeckel. Ihre Augen folgten seinen Zeilen: »Wir gehen auf die Toilette. Zieh dich dort aus. Ganz. Ich auch. Vielleicht tragen wir Abhörgeräte mit uns.«

Peter sah Jahzara in die Augen. Ihr Blick signalisierte ihm grenzenloses Vertrauen – und Panik. Sie standen auf und gingen durch den Garten auf zwei Türen des Nebentraktes zu. Jahzara verharrte, schaute ihn verunsichert an.

Durch ein Kopfnicken deutete Peter auf die Damentoilette. Er blickte sich um. Niemand beobachtete sie. Sein Puls begann, schneller zu pochen. Er war sich bewusst, was für eine skurrile Situation gleich entstehen würde.

In der Damentoilette gab es zwei nebeneinanderliegende Kabinen. Er wies sie lautlos an, die rechte zu nehmen. Mittels Handzeichen forderte er sie auf, sich gänzlich auszuziehen und ihm ihre Sachen unter der Trennwand der beiden Toiletten hindurchzuschieben.

Jahzara grinste. Sie presste sich eine Hand auf den Mund, um nicht lauthals loszulachen. Auch er musste sich beherrschen. Sie schauten sich in die Augen. Für einen Moment war da keine Angst mehr, nur Vertrauen und Begehren.

Peter atmete tief durch, öffnete seine Kabine und schloss die Tür hinter sich. Er hörte, wie sich Jahzara nebenan auszog. Er zitterte. Die Vorstellung, dass sie sich – nur durch eine hauchdünne Holzwand getrennt – neben ihm entkleidete, tauchte ihn in eine Welt erotischer, lasziver Fantasien. Das Rascheln von nebenan verstummte abrupt. Unter der Trennwand tauchten ihre Jeans auf. Dann ihre Handtasche, die Bluse und ihre Schuhe. Es war still im Raum. Er wusste, dass sie ein T-Shirt und einen BH trug. Von Abhörwanzen hatte er keine Ahnung, ging jedoch davon aus, dass sie nicht in einem BH oder in einem T-Shirt versteckt werden konnten. Sollte er? Er grinste vor sich hin. Leise klopfte er gegen die Trennwand. Ahnte sie, was er forderte? Ihr Atmen hörte sich nun lauter an. Er glaubte, ihre Erregung zu spüren. Oder war es Wut, Hilflosigkeit? Seine Fantasie überschlug sich. Die attraktivste Frau, die er seit Langem getroffen hatte, stand nahezu nackt neben ihm. Einige Sekunden vergingen. Dann schob sie ihren Büstenhalter und das T-Shirt zu ihm herüber. Er musste abermals grinsen. Das war die verrückteste Situation, die er je erlebt hatte. Er bückte sich, tastete ihre Kleidungsstücke ab. Der BH war noch warm von ihrer Haut. Wollust durchströmte ihn. Die Luft war erfüllt von ihrem Geruch und von ihrer Aura.

Peter riss sich zusammen und konzentrierte sich auf die Handtasche. Sie stammte fraglos aus Äthiopien. Feine Garnfäden in den äthiopischen Nationalfarben Grün, Gelb und Rot waren in die Tragegurte eingewirkt. Er entleerte die Tasche: Makeup-Utensilien, ein Notizbuch, OBs, Taschentücher. Was immer er untersuchte, er konnte keinen Gegenstand finden, der seines Erachtens geeignet wäre, ein Abhörgerät zu verbergen. Die Schuhe waren zu fein, als dass sie Möglichkeiten boten, darin etwas einzubauen. Sein Blick fiel abermals auf die zwei fast faustgroßen Seemuscheln. Vorsichtig nahm er die Tasche, hielt sie an sein Ohr und schüttelte sie. Tatsächlich war ein leises Scheppern zu hören. Technisch war es wahrscheinlich möglich, eine Wanze oder einen Peilsender in eine dieser Muscheln einzubauen. Er wusste es nicht. Aber es galt, das Risiko auszuschließen.

Ein sehr dezentes Klopfen an der Zwischenwand ließ ihn erahnen, dass Jahzara, so nackt, wie sie in dem kühlen Raum stand, allmählich ungeduldig wurde. Die Vorstellung, dass sich Gänsehaut über ihren Busen ausbreitete, erregte ihn. Auf seinen Reisen in Afrika hatte er an den Stränden schon viele Afrikanerinnen in Bikinis gesehen. Wassertropfen perlten auf deren geschmeidigen, glänzenden Haut wie Regentropfen auf einem Blatt ab. Afrikanerinnen hatten eine andere Haut als Europäerinnen. Schnell atmend schob er ihre Sachen unter der Trennwand zurück. Er hörte, wie sie sich hastig ankleidete. Sein Blick ging zum Fußboden. Der schwarze BH lag noch immer da. Er schob ihn dezent zu ihr hinüber und klopfte an die Wand, um sie darauf aufmerksam zu machen. Sie hob ihn nicht auf. Er erstarrte. War das Absicht?

Nun zog er sich aus, tastete Knöpfe, Gürtelschnalle, Jackett, Schuhe und sein Hemd ab. Nichts Verdächtiges! Ein leises Klopfen von nebenan riss ihn aus seinen Gedanken. Wieder klopfte es. Diesmal fordernd. Er schaute auf den Boden. Der BH lag noch immer dort. Das konnte nicht sein! Nein, nicht Jahzara! Oder doch? Beinahe hätte er lauthals losgelacht. Waren es seine lasziven Gedanken, die ihn auf solch absurde Ideen brachten? Vielleicht war sie gar nicht so prüde, wie sie tat. Warum ließ sie den Büstenhalter liegen? Sie musste ihn doch sehen. Er entschied, es auf einen Versuch ankommen zu lassen. Er ließ seine Cordhose fallen und schob sie mit dem Fuß so dicht an die Trennwand, dass sie glauben konnte, es sei keine Absicht. Schneller als erwartet verschwand die Hose auf der anderen Seite. Er unterdrückte ein lautes Lachen. Wahnsinn! Sie spielte, kokettierte mit ihm! Erneut klopfte es. Er konnte sich vorstellen, dass Jahzara lächelte. Ob sie noch nackt war?

Stück für Stück schob er seine Wäsche zu ihr hinüber. Nur wenige Sekunden vergingen. Ihre schlanke Hand mit den rosafarbenen Innenflächen fingerte nach seinen Kleidern. Ihm war noch nie zuvor aufgefallen, dass eine Hand so erotisch sein konnte. Mensch, Peter, dachte er, beherrsch dich. Er holte tief Luft, unterdrückte seine Fantasien. Kein Geräusch, kein Kleiderrascheln. Nur ihr Atmen.

Auf einmal hörte er die Tür ihrer Kabine aufgehen. Nein, das wird sie nicht tun! Niemals! Dafür war die Situation wahrlich zu prekär. Schritte hallten durch den Toilettenraum. Er versuchte, sie zu lokalisieren. Das darf nicht wahr sein! Die Eingangstür knarrte und fiel scheppernd zu. Hinter ihr! Er schüttelte ungläubig den Kopf, blickte an sich hinunter. Jahzara war weg! Er hatte außer einem Slip nichts an. Der BH lag noch auf dem Boden. Nein, das konnte sie doch nicht tun!

Eine Minute verging. Er fröstelte. Was, zum Teufel, sollte er tun? Halb nackt durch den Innenhof in die Bar rennen? Er fror, zugleich war ihm heiß. Und er spürte, wie sich ein nicht mehr zu kontrollierendes Lachen und grenzenloses Verlangen nach ihr in ihm aufbaute. Dann brüllte er los, laut, vor Tollheit und in kindlichem Übermut. Sein Lachen hallte durch den Raum, und er war sich sicher, dass es auch noch in der Bar zu hören war. Er fühlte sich so unglaublich glücklich und befreit, dass ihm der Rest der Welt gleichgültig war. Übermütig riss er die Kabinentür auf, wollte so schnell wie möglich hinter sich bringen, was wahrscheinlich hochpeinlich werden würde. Er erstarrte. Auf dem Boden inmitten des vorderen Toilettenraums lagen seine Kleider, fein säuberlich gestapelt, die Schuhe obenauf gestellt. Der Gürtel penibel zusammengerollt daneben. Wieder schüttelte er sich vor Lachen und wankte gerade auf seine Sachen zu, als die Tür aufging. Eine Frau stand in der Tür. Das Mütterchen war um die 70, hatte mehr Falten als Haare und kleine, sehr liebe Augen, die ihn fragend und irritiert anstarrten. Sie taxierte den BH in seiner Hand, ließ ihre alten Augen über seinen knappen Slip wandern. Auch er schaute auf den schwarzen Büstenhalter, der von seiner Hand baumelte wie eine Trophäe. Er schämte sich, wartete auf ihren Schrei. Aber das Mütterchen blickte nur überrascht auf das Schild an der Toilettentür, schien es für möglich zu halten, sich in die Männertoilette verirrt zu haben, murmelte etwas vor sich hin und ging.

Peter konnte sich nicht erinnern, sich jemals so schnell angezogen zu haben. Schnell zog er den Reißverschluss seiner Hose hoch, fuhr sich mit der Hand durch die Haare und stürmte aus der Toilette auf den Hof.

Eine Frauenstimme stoppte ihn. »Was machen Sie denn da in der Damentoilette?«

Einige der Gäste wandten sich zu ihm um, taxierten den BH in seiner Hand. Peter las in ihren Augen, was sie dachten. Es war ihm grenzenlos peinlich.

Jahzara hockte direkt neben dem Eingang, mit dem Rücken an die Wand gelehnt. Sie versuchte krampfhaft, ernst zu bleiben. Es gelang ihr nur kurz. Dann prustete sie los, weinte vor Lachen. Tränen kullerten über ihre schwarze Haut, rannen über ihr Dekolletee. »Kann… kann… kann ich meinen Büstenhalter wiederhaben, oder brauchst du ihn noch?«, presste sie hervor und krümmte sich vor Lachen.

Peter ging leicht verärgert auf sie zu. Der BH baumelte noch immer von seiner Hand. Gäste kamen aus der Bar und schauten sie beide lächelnd an. Er ging vor ihr in die Hocke. Jahzara hob den Kopf und schaute ihn mit den glücklichsten Augen, die er je in seinem Leben gesehen hatte, an. Ihr Haar war zerzaust, und ihre Schminke rann ihr in bläulichen Streifen über die Wangen. Er ließ den BH fallen, grinste und prustete ebenfalls los, bevor er ihren Kopf mit beiden Händen umfasste und zu sich heranzog. Sie wehrte sich nicht, lehnte sich an seine Brust, zitterte am ganzen Körper und schluchzte ihre Angst und Glückseligkeit ungehemmt in die Welt hinaus.

 

Wenig später saßen sie in einem Internetcafé. Jahzara hatte ihre Handtasche mit den verdächtigen Seemuscheln in der Bar abgegeben und um Verwahrung gebeten. Ihr Handy lag in ihrer Wohnung. Sein Handy hatte er ins Hotel gebracht.

»Du siehst hässlich aus mit deiner verwischten Schminke«, versuchte er, sie zu necken. Sie reagierte nicht darauf. »Ich habe mich noch nie so schön gefühlt. In mir ist heute alles schön und weich und sanft und glücklich. Aber konzentrier du dich jetzt mal auf deinen Chat. Schau mal, dein Freund wartet auf deine Antwort.«

Peter blickte auf den PC. Frank hatte ihm geantwortet. Sein alter Freund aus Schulzeiten war einer jener Internetjunkies, deren Leben nur aus Chats und Blogs und Foren zu bestehen schienen. Wo immer Frank auch war, sein Laptop war online. So hatte es nur wenige Minuten gedauert, bis Frank auf seine Mail-Anfrage reagiert hatte. Frank, so hoffte er, würde ihm weiterhelfen können. Er war ein absoluter Technikfreak. Ein Chatfenster öffnete sich. Peter tippte seine Frage ein.

»Alter, grüß dich! Ich bin in Lissabon. Viel Zeit habe ich nicht, dir zu erklären, was hier läuft. Sag, kennst du dich mit Wanzen und Abhörgeräten aus?«

»Denke schon. Was willst du wissen?«

»Wie spüre ich Wanzen und so was auf? In der Wohnung, im Handy, in der Kleidung?«

»Ist kompliziert und schweineteuer! Am besten ist ein Funkscanner. Das Ding muss eine brauchbare Feldstärkenanzeige haben. Du musst herausfinden, auf welcher Frequenz das Objekt deiner Begierde sendet. Im Zweifelsfalle findest du damit harmlose Sachen wie den Funkkopfhörer der schwerhörigen Oma. Die Dinger werden oftmals als Spionageequipment angeboten und sind einfachste Breitbandempfänger. Die melden aber nur das, was sendet.«

»Uff, das hört sich kompliziert an. Bei mir geht es wahrscheinlich um Wanzen. Vielleicht auch Peilsender.«

»Professionell würde man mit Messempfängern, Richtantennen und Spektrumanalysatoren rangehen. So ein Ding kostet so viel wie ein Mittelklassewagen. Tut mir leid, Peter, aber ich denke, du solltest dir lieber einen anderen Job suchen. Oder die Finger von dem lassen, was du gerade vorhast. Dann hast du auch keine Wanzenprobleme.«

»Ist schon klar, Alter. Noch eine Frage: Kann man ein Handy verwanzen? Oder wird das über den Provider abgehört? Kann man ein Handy als Peilsender manipulieren?«

»Alles geht! Absolut alles! Aber wenn du glaubst, dass du über dein Handy abgehört wirst, kann ich dir nur eins raten: Steck das Ding in einen Briefumschlag und schicke es rund um die Welt. Dann haben die Jungs, die dich abhören oder anpeilen, viel Spaß, während du in Afrika unter einer Palme sitzt. That’s it, Peter. Hoffe, dir geholfen zu haben. Ich habe gleich noch einen Termin. Pass auf dich auf.«

 

Die Handys zu verpacken, hatte nicht lange gedauert. Jahzara hatte ihres postlagernd an eine Freundin in London geschickt, mit der Bitte, es erst nach zwei Wochen abzuholen. Peter hatte seines mit einem ähnlichen Begleitschreiben an einen Freund in Deutschland auf den Weg gebracht. Beide grinsten triumphierend, als sie das Postamt am Praça dos Restauradores verließen. Wer immer auch ihre Handys abhörte oder per satellitengestütztem Peilsender zu lokalisieren versuchte, würde in nächster Zeit viel zu tun haben und sich sehr wundern. Sie hatten zudem beschlossen, sich nicht mehr in Jahzaras Wohnung aufzuhalten. Ob dort Wanzen untergebracht waren, ließe sich nicht ohne großen technischen Aufwand klären. In einem Elektronikgeschäft kauften sich beide schließlich neue Handys mit Prepaid-Karten und schlenderten dann hinunter zum Tejo. Der Ausflugdampfer, den sie ausgewählt hatten, legte wenig später ab und tuckerte den Fluss entlang. Sie waren die einzigen Passagiere auf dem Deck des Schiffes. Genüsslich streckten sie ihre Gesichter der Sonne entgegen und schwiegen lange Zeit.

Jahzara ergriff als Erste das Wort: »Was machen wir jetzt?«

Peter fiel es schwer, auf ihre Frage zu antworten. Seine Gedanken drehten sich im Kreis. Seit er Jahzara nach der gleichsam peinlichen wie auch lustigen Situation vor der Damentoilette des Chapitô in die Arme genommen hatten, war er emotional völlig aus der Balance. Wie Blitze zuckte ein Konglomerat aus Erinnerungen, Emotionen und Fragmenten rationalen Denkens durch seinen Kopf. Er dachte an seine verstorbene Frau, wusste nicht damit umzugehen, dass sich tief in ihm irgendetwas in seinen Gefühlen zu wandeln schien. Er wollte das nicht. Dennoch geschah es. An Yvonne dachte er auch. Sie tat ihm leid. Er vermisste sie. Die wenigen Momente vor der Damentoilette gingen ihm nicht mehr aus dem Kopf.

Ohne Zweifel: Jahzara empfand viel für ihn. Vielleicht hatte ihre Angst aber auch nur seinen Beschützerinstinkt geweckt. Möglicherweise gierten seine Triebe nur nach ihrem reizvollen Körper. Sie zog ihn auf jeden Fall an, wie ein Magnet haltloses Metall anzieht. Ja, das war es wohl! Er war haltlos, wusste nicht, was er wollte – sollte, durfte, konnte. Nicole – Yvonne – und nun diese äthiopische Schönheit. Jahzara faszinierte ihn maßlos. Doch etwas stand zwischen ihnen. Vielleicht die Andersartigkeit, die kulturellen und sozialen Unterschiede zwischen einer Afrikanerin und einem Europäer. Er hatte sich noch nie wirklich Gedanken über multikulturelle Beziehungen gemacht. Sexuell hatte das sicherlich seinen Reiz. Aber alles darüber hinaus, mit dem er sich nun konfrontiert sah, verunsicherte ihn. Sie lebten beide nach höchst unterschiedlichen Werten und Normen, wobei ihre Religiosität sicherlich eine große Rolle spielte. Jahzara war politisch wie gesellschaftlich eher konservativ, orientierte sich an traditionellen afrikanischen Denkweisen und strengen christlichen Normen und Werten. Er kannte diese Denkweisen, hatte sich jedoch noch nie damit auseinandersetzen oder sie leben müssen. Schon gar nicht in einer Beziehung.

Peter wunderte sich, warum er auf einmal über eine Beziehung grübelte, Yvonne hingegen all die Jahre gesagt hatte, dass er dazu nicht wirklich fähig sei. Liebte er Yvonne und begehrte Jahzara nur körperlich? Schlagartig wurde ihm bewusst, dass er die letzten Jahre ein sehr oberflächliches Leben geführt hatte. Alles war in Bewegung gewesen. Doch eigentlich suchte er ein Zentrum, innere Zufriedenheit, die Balance, die er nach dem Tod von Nicole verloren hatte. Yvi hätte ihm das gerne geboten, hatte es ihm fast schon aufgedrängt. Nur hatte er es nie angenommen, hatte sie vielmehr von sich weggestoßen.

Die plötzlich aufkeimende Erkenntnis, dass Yvonne ihm diese fehlende Balance wahrscheinlich eher geben konnte als Jahzara, erschütterte Peter. Verunsichert verdrängte er seine emotionalen Turbulenzen und versuchte, Jahzaras Frage losgelöst von solchen Gedanken zu beantworten. Er sah sich um. Jahzara schaute vom Boot Richtung Ufer, wo die Avenida Infante Dom Henrique unterhalb von Alfama stadtauswärts führte. Er zog in Erwägung, seinen Arm um sie zu legen, tat es dann aber nicht.

»Ich mache keinen Hehl daraus, dass die Geschehnisse der letzten Zeit eine so brisante Eigendynamik entwickelt haben, dass ich nicht mal richtig zum Nachdenken gekommen bin. Aber genau das ist es, Jahzara, was wir unbedingt tun sollten. Ich habe zwar einen gewissen Hang zu Abenteuern. Doch nur solange ich das Risiko kalkulieren kann! Und das scheint mir hier nicht wirklich der Fall zu sein. Wir haben es mit extrem gefährlichen Leuten zu tun. Wobei wir nicht mal wissen, wer sie sind und was sie wollen. Vielleicht sollten wir besser die Finger davon lassen.«

Jahzara schaute ihn für Sekunden mit einem Hauch von Verständnis an. Dann bekamen ihre Augen wieder jenen Glanz, der bei ihr Aufsässigkeit und Trotz signalisierte.

»Das geht nicht! Das ist die Chance meines Lebens. Außerdem habe ich jetzt schon so viele Leute heißgemacht auf meine Dissertation mit diesen sensationellen Thesen, dass ich nicht mehr zurückkann. Nein, Peter, ich werde nicht kneifen. Mein Vater hat weltweit sehr gute Kontakte. Er wird uns helfen, dass uns diese Kriminellen nicht mehr ins Handwerk pfuschen. Wie immer du für dich auch entscheiden wirst, Peter, ich mache weiter! Ich habe schon vor geraumer Zeit einen Flug nach Äthiopien gebucht. Und ich werde auch fliegen. Jetzt erst recht. Wenn du willst, kannst du mitkommen. Ich würde mich sehr darüber freuen. Sehr! Aber ich fliege auch allein.«

Peter war erstaunt, mit welcher Vehemenz Jahzara sprach. Allmählich wurde ihm klar, dass sie nicht nur eine äußerst selbstbewusste, sondern auch eine sehr ehrgeizige Frau war. Er hatte enormen Respekt vor ihr. Letztendlich reizte es ihn ja auch, in dieser Sache weiterzurecherchieren. Es würde viel Zeit und Geld kosten. Und er nahm in Kauf, dass er höchstwahrscheinlich seinen Job kündigen musste. Er war gut in seinem Job, und er hatte schon einige lukrative Angebote anderer Firmen bekommen. Das Geschäft mit GPS-Satellitennavigation boomte. Über seine berufliche Zukunft brauchte er sich keine Sorgen zu machen. Seine Ersparnisse würden reichen, ein Jahr zu überbrücken. Aber was, wenn sich die Sache mit der verschollenen Karawane als Hirngespinst herausstellen würde? Da lag der große Unterschied zwischen ihm und Jahzara: Ihn reizte die Schatzsuche maßlos. Er liebte Abenteuer. Jahzara hingegen hatte ideelle Motive. Zudem wusste sie noch nicht, was da eventuell im Sand der Sahara verborgen lag. Oder doch? Bislang hatte er Jahzara jedenfalls noch nicht gesagt, dass es sich hier möglicherweise um die legendäre Schatzkarawane handelte. Allerdings hatte sie schon mehrfach angedeutet, dass diese mysteriöse Karawane etwas mit der Bundeslade zu tun haben könnte. Immerhin gab es einige Indizien, die nachdenklich machten. Er hatte mal davon gehört, dass Tempelritter die Bundeslade von Jerusalem nach Rom gebracht hätten. Und Templer waren angeblich von Jerusalem aus in Äthiopien gewesen. Und das genau in jener Zeit, in der dieser mysteriöse Brief des Priesterkönigs Johannes in Europa für Aufregung sorgte. Aber waren das nicht abstruse Verschwörungstheorien? Ein guter Freund, der an der Uni Arabistik lehrte, hatte vor Jahren mal scherzhaft gesagt: »Was, wenn in dieser Bundeslade überhaupt nicht das drin war oder ist, was die Kirchenfürsten in Rom uns seit Jahrtausenden einreden? Was, wenn es die Zehn Gebote gar nicht gibt? Stell dir mal vor, da liegen Steintafeln in arabischer Schrift drin! Vielleicht steht da nichts von Moses, sondern von Mohammed, nicht von Gott, sondern von Allah. Wer weiß?« Natürlich hörte sich das absurd an. Fakt jedoch war, dass sich alle drei großen Weltreligionen im Laufe der Zeit unter den Völkern der arabischen Wüste entwickelt hatten. Als Erstes das Judentum, danach das Christentum, schließlich der Islam. Zwischen diesen Religionen gab es höchst wundersame Parallelen. Das Christentum zählt zu seinen heiligen Büchern auch das Alte Testament der Juden; die Moslems wiederum sehen neben den jüdischen Propheten ebenso Johannes und Christus als ihre Propheten an. Stammvater aller Religionen ist Abraham. Der Erzengel Gabriel ist Mohammed angeblich in menschlicher Gestalt erschienen. Und die Bundeslade spielt für die Juden und Christen und erstaunlicherweise auch für die Moslems eine Rolle.

Peter war sich sicher, dass Jahzara über diese eigentümlichen Übereinstimmungen viel mehr wusste als er. Charles auch. Dennoch gab es irritierende Aspekte. Jahzara hatte ein Gespräch mit dem Direktor des Marinemuseums in Venedig geführt. Bislang wusste er von diesem Gespräch absolut keine Einzelheiten. Wieso eigentlich nicht? Charles hatte gewollt, dass Jahzara auf ihn und er auf sie angewiesen war. Ihm blieb also nichts anderes übrig, als mit ihr gemeinsam weiterzurecherchieren. Es gab nur eine Möglichkeit herauszufinden, was Jahzara wirklich wollte und was sie wusste: mit ihr zusammen nach Äthiopien fliegen.

»Jahzara, ich bin dabei! Ich kann nicht widerstehen. So etwas passiert einem nur ein Mal im Leben. Außerdem komme ich dann endlich wieder nach Afrika! Vorher sollten wir allerdings sicherstellen, dass wir diese Kriminellen loswerden. Dazu sollten wir uns in nächster Zeit an einem anderen Ort aufhalten, nicht bei dir in der Wohnung. Weiß der Teufel, was diese Mistkerle aushecken! Jetzt sind sie erst mal damit beschäftigt, unsere Handys auf der Reise durch Europa zu verfolgen. Sehen wir es mal ganz pragmatisch: Wir haben einige Trumpfkarten in der Hand! Zum Beispiel die zwanzig Seiten des Sion-Dossiers, die ich fotografiert habe. Zusammen mit dem Buch von Charles, der Landkarte, den Informationen vom Direktor des Museums in Venedig sowie deinen Hintergrundinformationen über Kaiserin Eleni und Heinrich den Seefahrer wissen wir mehr, als die ahnen. Da sollten wir etwas draus machen.«