Carlo Ponti war missmutig.
»Viel Arbeit für nichts«, fluchte er vor sich hin, steckte den Untersuchungsbericht in einen Umschlag und verließ sein Büro. Die ganze Nacht hindurch hatten er und seine Mitarbeiter der Kriminaltechnischen Abteilung im Polizeipräsidium von Venedig versucht, der Karte, die der Tote von San Francesco del Deserto im Mund hatte, ihr Geheimnis zu entlocken. Sonderlich erfolgreich waren sie nicht gewesen. Das Papier war zu lange dem ätzenden Erbrochenen ausgesetzt gewesen. Selbst mit modernsten Techniken waren Teile der Karte nicht mehr sichtbar zu machen. Nachdem das Blatt gereinigt und geglättet worden war, ließen sich nur mit viel Fantasie die Umrisse von Kontinenten erahnen. Die Schriftfragmente ergaben keinen Sinn. Einige der Schriftzeichen waren überhaupt keiner gängigen Sprache zuzuordnen. So gesehen, war die Arbeit von drei erfahrenen Kriminaltechnikern umsonst gewesen. Enttäuscht ging Carlo durch die langen Flure des Polizeipräsidiums zum Büro von Commissario Toscanelli, um seinen Bericht abzugeben.
Im Büro seines Kollegen aus Mailand saßen eine Frau und ein Mann. Carlo Ponti hatte nicht den Eindruck, dass es sich um Verdächtige oder gar Festgenommene handelte. Commissario Toscanelli wirkte allerdings sehr angespannt. Die Frau mit den blonden Haaren schien wütend zu sein. Der etwa 45-jährige, auffällig braungebrannte Mann neben ihr war sichtlich nervös. »Ciao, Commissario«, grüßte er knapp, »ich habe hier den Bericht über den Toten. War nicht besonders erfolgreich, unsere Arbeit. Das Blatt Papier war schon sehr zersetzt. Was wir noch herausgefunden haben, steht im Bericht. Ist nicht sonderlich viel. Warum der arme Kerl Kerzen gefressen hat, konnten wir beim besten Willen nicht klären.«
Commissario Toscanelli hatte seinem Kollegen von der Kriminaltechnik nicht wirklich zugehört. Seine Gedanken kreisten um die Frage, was dieser Deutsche wirklich wusste und was nicht. Gab es zwischen ihm, dieser Afrikanerin auf dem Bild, dem Täter und Charles Bahri eine Verbindung, die über das hinausging, was Peter Föllmer behauptete? Die ganze Angelegenheit war verworren. Geistesabwesend schaute er seinen Kollegen an, der noch immer im Türrahmen stand. »Wieso Kerzen?«
Carlo Ponti kratzte sich am Kopf. »Nun ja, welche andere Erklärung soll es sonst dafür geben, dass der Tote auffällig viel Wachs im Mund und in der Speiseröhre hatte? Sogar im Magen haben wir Wachsreste gefunden. Wir konnten ziemlich genau bestimmen, wann er dieses Wachs zu sich genommen hat: nämlich kurz vor Eintritt des Todes. Aber der Grund dafür ist uns schleierhaft. Ebenso, was wir mit dieser Karte und den Wortfragmenten anfangen sollen. Schade, denn wir hatten schon gedacht, dass es vielleicht eine Schatzkarte ist. Doch selbst wenn, die Karte ist jetzt nicht mehr lesbar. Diesen Schatz wird mit Sicherheit niemand mehr bergen.«
Yvonne hatte die Worte des Kriminalbeamten nur vage wahrgenommen, dennoch richtete sie sich plötzlich auf, blickte fragend zwischen dem Commissario und dem Mann an der Tür hin und her. Aus dem Augenwinkel heraus sah sie, wie Peter sie anstarrte.
»Entschuldigen Sie, dass ich mich einmische, Signore Toscanelli. Habe ich das richtig verstanden? Der Tote aus dem Kloster hatte Wachs im Mund?«
Der Commissario blickte Yvonne Steimer verwundert an. Sie hatte lange nichts mehr gesagt. Der Konflikt zwischen ihr und ihrem Freund hatte eine lähmende Atmosphäre kreiert.
»Carlo…«, hüstelte er, »… war das richtig? Wachs?«
»Ja, Wachs! Es ist ganz eindeutig Wachs. Und zwar von Kerzen in einer Konsistenz, wie sie heutzutage üblich ist.«
Yvonne stand langsam auf und schritt auf den Kriminaltechniker zu: »Kann… kann ich die Karte mal sehen?«
Toscanelli blickte seinen Kollegen fragend an, der mit einem Achselzucken signalisierte, dass dagegen nichts einzuwenden sei. Der Kriminaltechniker öffnete die Akte, holte eine Plastikfolie hervor und reichte sie der Frau mit den blonden Haaren.
Yvonne nahm die Folie entgegen, zog das gelbliche Blatt vorsichtig heraus und betrachtete die Karte gegen das Fensterlicht. Ihre Augen blitzten auf: »Haben Sie Kaffee?«
Ihre Frage erschien dem Commissario so absurd, dass er auflachte: »Tut mir leid, Signora, wir haben im Automaten draußen auf dem Flur nur Softdrinks!«
Yvonne schaute ihn nicht mal an. Ihr Blick haftete noch immer auf der Karte. »Ich meine Kaffeepulver. Ganz ordinäres Kaffeepulver. Fertigkaffee…«
Sowohl der Commissario als auch sein Kollege wollten soeben nachfragen, was sie damit bezwecke, als sie erklärte: »Gehen Sie bitte mal davon aus, dass ich genau weiß, was ich hier tue. Ich bin Buchrestauratorin. Und keine Angst, ich werde Ihr Beweismittel nicht beschädigen.«
Commissario Toscanelli ging wortlos hinter seinen Schreibtisch, zog eine der Schubladen auf, kramte nach längerem Wühlen einen kleinen Beutel Kaffeepulver hervor und hielt ihn Yvonne Steimer entgegen. »Der ist aber mindestens zwei Jahre alt! Wach werden Sie davon nicht mehr«, versuchte er zu scherzen.
Yvonne reagierte nicht darauf. Hoch konzentriert ging sie auf den Schreibtisch zu, legte die Karte darauf und riss behutsam den Kaffeebeutel auf.
Der Commissario und sein Kollege traten schweigend an den Tisch heran und verfolgten gespannt, was die Deutsche tat. Yvonne zitterte ein wenig. Peter saß wie versteinert auf dem Stuhl nahe dem Fenster und starrte sie erwartungsvoll an. Vorsichtig streute sie einen Teil des Kaffeepulvers auf das Papier. Mit Kennerblick hatte sie längst registriert, dass dies kein Blatt aus einem alten Buch war. Es war schnödes Industriepapier mit hohem Holzanteil. Aber sie hatte auch noch etwas anderes entdeckt.
Das Kaffeepulver lag nun als kleines Häufchen auf dem Blatt. Yvonne beugte sich langsam über den Schreibtisch. Aus dem Augenwinkel heraus sah sie, wie sich der Commissario und sein Kollege mit Achselzucken und Augenaufschlägen verständigten, sie gewähren zu lassen. Im Raum herrschte angespannte Ruhe. Sie konnte ihren eigenen Atem hören. Nur wenige Zentimeter über dem Blatt mit dem Kaffeehäufchen spitzte Yvonne ihre Lippen und blies das Pulver ganz vorsichtig über das Papier. Sorgfältig wiederholte sie den Vorgang. Sie versuchte, sich ihre Überraschung nicht anmerken zu lassen. Tatsächlich! Das braune Pulver hatte sich auffallend unregelmäßig verteilt. Sie wusste, was das bedeutete. Insgeheim hoffte sie, dass die anderen nicht das erkannten, was sie nun auf dem Blatt sah. Es war nicht sehr deutlich zu erkennen, dennoch eindeutig. Die drei Männer im Raum starrten sie fragend an.
Plötzlich richtete sie sich auf. Sie wirkte sehr selbstbewusst. Ihr Blick wanderte vom Commissario zu dessen Kollegen. Peter traute sie sich nicht anzuschauen. Wissend lächelte sie: »Volltreffer! Wachs!« Mehr sagte sie nicht. Der Blick des Kriminaltechnikers verriet ihr jedoch, dass dieser sofort verstand, was geschehen war.
Commissario Toscanelli fiel es schwer, nicht so irritiert zu wirken, wie er es letztendlich war. »Signora Steimer, können Sie mir, bitte, freundlicherweise mal sagen, was hier eigentlich vor sich geht?«
»Demaratos, Commissario!«, murmelte der Kriminaltechniker kaum hörbar.
Yvonne griff das Stichwort auf: »Ja, das hier ist die angewandte Erkenntnis aus der Geschichte von Demaratos. Aufgeschrieben von niemand anderem als von Herodot. Den, so vermute ich mal, werden Sie ja kennen, Signore Toscanelli.«
Bevor der Commissario auf die Überheblichkeit der Deutschen reagieren konnte, mischte sich der Kriminaltechniker ein. Auch er hatte sich zwischenzeitlich über den Schreibtisch gebeugt und starrte das Blatt Papier mit dem Kaffeepulver an. Anerkennend murmelte er: »Ohne Frage: Wachs! Wie bei Demaratos! Ein uralter Trick. Eine Geheimschrift. Gratuliere, Signora, meine Hochachtung!«
Ohne auf die Frage des Commissarios zu warten, dozierte Yvonne stolz: »Geheimschriften gibt es schon seit Jahrtausenden. Herodot war einer der ersten, der davon berichtete. In seinem Werk Historien schreibt er unter anderem über den Verlauf des Kriegs zwischen Griechen und Persern. Damals war Xerxes I. König von Persien. Er stellte die größte Streitmacht der Geschichte zusammen, um gegen Athen und Sparta zu ziehen. Ein in Persien im Exil lebender Grieche namens Demaratos bekam die Vorbereitungen für den Überraschungsangriff mit und machte sich Gedanken, wie er seinen Landsleuten eine geheime Nachricht zukommen lassen konnte. Sein Trick ging in die Geschichte ein. Demaratos schabte das Wachs einer Holztafel ab, ritzte seine Nachricht direkt auf die Holztafel, übergoss die Tafel erneut mit Wachs – womit seine Warnung an seine Landsleute nicht mehr zu sehen war – und schmuggelte die verdeckte Nachricht an den Wachen des Perserkönigs vorbei nach Griechenland. Die geheime Information über die Kriegsvorbereitungen wurde entdeckt. Daraufhin rüsteten die Griechen ihre Flotte auf und schlugen bei der Schlacht bei Salamis die Perser vernichtend.«
»Und was hat dieser historische Ausflug nun mit dieser Karte zu tun?«, unterbrach Commissario Toscanelli Yvonnes Redefluss, weil dessen Geduld inzwischen überstrapaziert war.
»Nun«, fuhr Yvonne unbeirrt weiter, »aus dieser Geheimschrift entwickelte sich später eine andere – eine, die ohne Zweifel bei dieser Karte angewandt wurde. Jemand hat ein Blatt genommen, es mit Wachs eingestrichen und es mit der Wachsseite auf diese Karte gelegt. Auf der Rückseite des Blattes mit der Wachsschicht hat man dann mit großem Druck etwas aufgezeichnet. Sehen Sie hier: Das Wachs hat sich an den Druckstellen auf die Karte übertragen. Es ist nur noch gegen das Licht zu sehen. Wenn ich jetzt dieses Kaffeepulver oder irgendein anderes feines Pulver über dieses Blatt streue, bleibt das Pulver auf dem Wachs kleben – und die Nachricht wird sichtbar. Bedauerlicherweise hat das Erbrochene das Blatt und den Wachs zum größten Teil aufgelöst. Das erklärt allerdings, warum Wachs im Magen und in der Mundhöhle des Toten gefunden wurde. Leider ist nicht mehr genug von der versteckten Nachricht zu erkennen. Der Tote nimmt sein Geheimnis mit ins Grab.«
Yvonne genoss die ebenso erstaunten wie auch anerkennenden Blicke der beiden Kriminalbeamten.
Der Commissario hielt seinen Kopf schräg dicht über die Karte. »Genial…«, flüsterte er. Er sah zu Peter Föllmer, der auf der anderen Seite des Schreibtisches saß. Die Augen des Deutschen hatten einen höchst seltsamen Ausdruck. Wieder beschlich Commissario Toscanelli das unrühmliche Gefühl, als tausche dieser Mann mit seiner Freundin Nachrichten aus. Irgendetwas stimmte hier nicht.
Yvonne hoffte, dass niemand im Raum ihre Lüge bemerkt hatte. Der Kriminaltechniker schien ihr jedenfalls zu glauben. Sie bemühte sich, nicht nervös zu wirken. Verstohlen schielte sie zu Peter. Ihre Blicke kreuzten sich. Ein kurzes Aufblitzen in seinen Augen verriet ihr, dass er spürte, dass sie gelogen hatte. Er kannte sie zu gut. Was er spürte, war für sie Gewissheit. Da war tatsächlich etwas auf der Karte zu sehen. Nicht wirklich viel. Aber zusammen mit Peters Überlegung, dass auf seiner geheimnisvollen Karte der afrikanische Kontinent abgebildet war, ergaben die Wachsfragmente mit dem daran hafteten Kaffeepulver Sinn. Von den Umrissen des Kontinents war zwar kaum mehr was zu erkennen, dennoch sagten die Fragmente ihr, dass es um Afrika ging.
Eine Linie zog sich im Zickzackkurs quer über das Blatt, von Ostafrika westwärts bis zum Zentrum des Kontinents. Dort, wo die Linie offenbar endete, nahe einem Bogen, der wahrscheinlich eine Flussbiegung darstellte, waren auf dem Blatt die Wachsfragmente von sechs seltsamen Schriftzeichen zu sehen. Sie nahm an, dass es sabäische Buchstaben waren. Der erste der Buchstaben, der wie zwei übereinander angeordnete Dreiecke aussah, ließ erahnen, dass es der Buchstabe M war. Der zweite und die beiden letzten Buchstaben waren nicht mehr zu identifizieren. Die zwei in der Mitte ähnelten auf dem Kopf stehenden dreizackigen Gabeln, weshalb Yvonne vermutete, dass es ein doppeltes sabäisches SS war. Also konnte dort »M.SS.« geschrieben stehen. Doch mehr als eine Vermutung war das nicht. Unterhalb dieser Schriftzeichen standen klar und deutlich in lateinischen Buchstaben die Begriffe »IDA« und »ELENI«. Was sie bedeuteten, wusste sie nicht, und doch war sie grenzenlos nervös. Für sie stand fest, dass auf dieser Karte eine Route eingezeichnet war, die zu einem bestimmten Punkt in der Sahara führte. Dort musste etwas verborgen sein, das Charles Bahri und einem Mönch das Leben gekostet hatte. Und Peter beinahe auch.
Yvonne sah, wie Peter aufstand und langsam auf den Schreibtisch zukam. Fragend schaute er abwechselnd auf sie und auf die Karte.
»Signore Föllmer, Sie werden Verständnis dafür haben, dass ich Ihnen einen Blick auf diese Karte verwehren muss. Es ist ein polizeiliches Beweismittel.« Die Worte von Commissario Toscanelli hallten wie ein Befehl durch den Raum und stoppten Peter kurz vor dem Schreibtisch. Im Zimmer herrschte extreme Anspannung. Yvonne schluckte verlegen. Der Kriminaltechniker griff, irritiert von den Worten des Commissarios, blitzschnell nach der Karte und steckte sie hastig zurück in die Plastikfolie.
Eine Viertelstunde später verließen Yvonne Steimer und Peter Föllmer das Polizeipräsidium. Wortlos schritten sie durch die Gassen, bis Peter auf einer Brücke nahe der Kirche San Francesco della Vigna abrupt stehen blieb. Er schaute ihr direkt in die Augen. Sie konnte erkennen, dass er nicht mit ihr streiten wollte, dennoch schien er verärgert. »Können wir uns jetzt mal wie zwei erwachsene Menschen benehmen? Das ist ja nicht mehr auszuhalten! Ich weiß doch ganz genau, dass du auf dieser Karte mehr gesehen hast, als du dem Kommissar gesagt hast.«
Yvonne überlegte angestrengt. Suchte Peter die Versöhnung oder wollte er nur herausfinden, was sie wusste? Sie zwang sich zur Ruhe: »Findest du nicht auch, dass wir uns erst mal umarmen sollten? Komm, lass uns diese blöde Sache vergessen. Du hast mir wehgetan, als du diese afrikanische Schönheit fotografiert hast. Und ich habe überreagiert. Lass uns wegen so einer Lappalie nicht alles andere infrage stellen.«
Yvonne schmiegte sich an ihn und umarmte ihn. Sie spürte den Widerstand in seinem Körper.
Seine Worte zerstörten ihre Hoffnungen: »Es ist sinnlos, Yvonne, wenn wir uns in regelmäßigen Abständen wegen ein und derselben Sache streiten, um uns dann wieder zu versöhnen. Wir haben ein grundsätzliches Problem. Und du weißt, dass dieses Problem bei dir angesiedelt ist. Du ignorierst gewisse Tatsachen, verdrängst, was ich immer gesagt habe. Du lebst anscheinend nach wie vor in der Hoffnung, dass sich meine Einstellung im Lauf der Zeit wandeln wird. Aber das wird nicht der Fall sein, Yvi! Du willst mehr, als ich dir geben kann. Damit zerstörst du, was uns verbindet. Und das ist sehr viel. Aber ich denke, darüber sollten wir später reden. Ganz in Ruhe, ja?«
Yvonne fühlte, wie sich ihre Beziehung in diesem Moment veränderte. Angestrengt überlegte sie. Sollte sie ihr Wissen über die Zeichen auf der Karte nutzen? Ja, sie könnte auf diesem Wege sicherstellen, dass er weiterhin ihre Nähe suchte, sie brauchte.
Seine Worte unterbrachen ihre Überlegungen. »Mach jetzt nicht den Fehler, Yvi, diese Karte als Druckmittel zu verwenden. Es wäre sehr unklug zu glauben, dass dies etwas an unserem Problem ändern würde. Ich weiß genau, dass du den Kommissar belogen hast. Aber diese Landkarte mit den versteckten Hinweisen wird kein Weg zu meinem Herzen sein. Ich möchte bestehen lassen, was ist, Yvi. Du bist mir wichtig. Ich mag dich. Ich bin gerne mit dir zusammen. Ob mit oder ohne Karte. Aber mehr wird nicht sein.«
Yvonne schluckte. Nicht, was Peter sagte, sondern das Wie, dieser Unterton in seinen Worten, beunruhigte sie. Nie zuvor hatte er so gefühllos zu ihr gesprochen. Sie ahnte, dass es nicht klug wäre, ihr Wissen zu missbrauchen.
Mit leiser Stimme sagte sie: »Auf dieser Karte war eine Route eingezeichnet. Für mich stellt es sich so dar, als führe sie vom heutigen Äthiopien westwärts quer durch die Sahara bis in den Westen Afrikas. Die Route endet dort, wo offensichtlich ein Fluss von Süden kommend einen großen Bogen gen Westen macht. An dieser Stelle konnte ich aus den Wachsabdrücken Zeichen lesen. Von den sechs Buchstaben des ersten Wortes waren nur ein M und zwei S zu erkennen. Wahrscheinlich sabäische Buchstaben. Drunter stand in lateinischen Buchstaben ›IDA‹ geschrieben. Und daneben ›ELENI‹. Was das heißt, weiß ich nicht. Doch ich denke, dass dieses Wissen tödlich sein kann. Auch für unsere Beziehung.«
»Das Meer der Dunkelheit oder das Meer der Finsternis, wie es auch genannt wurde, ist ein Terminus, den portugiesische Seefahrer für ein Naturphänomen verwendeten, das diese wagemutigen Entdecker in Angst und Schrecken versetzte.«
Gebannt lauschte Peter den Ausführungen seines Freundes Markus. Der kleinwüchsige Hamburger mit dem rötlichen Vollbart und den seit jeher vor unbändiger Lebenslust funkelnden Augen hatte bereits während seines Archäologiestudiums einen Privatpilotenschein gemacht und sich dann auf Luftbildarchäologie spezialisiert. Deswegen hatte Peter ihn gebeten, ihm behilflich zu sein. Markus war ein viel gefragter Experte. Im Mittelmeerraum und in Nordafrika kannte er sich besonders gut aus. Seit sich Libyen zunehmend dem Westen öffnete, richtete sich das Augenmerk europäischer Wissenschaftler vermehrt auf dieses nordafrikanische Land. In der einstigen römischen Provinz Cyrenaica vermuteten die Archäologen bedeutsame Kunstschätze. Luftbildaufnahmen waren eine gute Möglichkeit, sie zu ausfindig zu machen. Dabei war das Fliegen über der Sahara manchmal extrem gefährlich, wie Markus an diesem Abend durch allerlei persönliche Erlebnisse untermalt hatte. Eines der größten Risiken waren Sandstürme. Davon erzählte Markus nun schon seit einer halben Stunde.
»Das Meer der Finsternis wird von den Bewohnern Nordafrikas Harmattan, Ghibli oder auch Kamsin genannt. Es ist ein extrem trocken-heißer Südostpassatwind in der Westsahara, der feinste Sandpartikel mit einem hohen Anteil an rotem Lateritstaub mit sich trägt. Ich sage euch, wenn ihr einen solchen Sandsturm mal erlebt habt, dann wisst ihr, warum die Portugiesen damals glaubten, sie befänden sich an der Pforte zur Hölle! Die Getreuen von Heinrich dem Seefahrer, die an der Westküste Afrikas entlang südwärts schipperten, glaubten wirklich, dass die Luft mit Blut angereichert sei. Dieser rote Staubsturm ist mit Worten nicht zu beschreiben. Er kann hunderte von Kilometern breit sein und reicht bis weit hinauf in die Atmosphäre. Wenn du mit deinem Flugzeug da reinfliegst, war es das! Da kommst du lebend nicht mehr raus. Im Winter weht der Harmattan manchmal weit auf den Atlantik hinaus, wo die portugiesischen Seefahrer mit diesem Phänomen konfrontiert wurden. Hin und wieder erreichen seine Ausläufer Spanien und die Alpen. Es hat sogar Jahre gegeben, da rieselte roter Schnee auf die Gipfel der Alpen. In Extremfällen lädt sich der Harmattan an den Leeseiten der nordafrikanischen Gebirgsketten wie ein Fönsturm auf und erreicht dann Temperaturen bis zu 50 Grad Celsius. Dann stirbt alles. Die Hitze saugt Menschen und Tieren das Leben aus den Körpern. Selbst Bäume verdorren in diesem gigantischen Sandstrahlgebläse. Es ist wie im dichtesten Nebel. Alles um dich herum ist rot und dunkel und glühend heiß. Und das ist es wohl, was dein Freund auf dieser mystischen Karte mit dem Meer der Dunkelheit meinte: ein Wüstensturm. Wahrscheinlich ist diese Karawane in einen tödlichen Sturm geraten.«
Peter nickte seinem Freund dankend zu. Seit Stunden saß er mit ihm und mit Jens zusammen. Noch von Venedig aus hatte er die beiden über sein Anliegen informiert und sie gebeten, ihm bei der Lösung des Rätsels zu helfen. Beide hatten in der Kürze der Zeit noch befreundete Wissenschaftler kontaktiert und Informationen zusammengetragen. Das Treffen gestaltete sich immer spannender. Markus hatte ihm auf seinem Laptop unglaublich interessantes Luftbildmaterial aus dem nördlichen und nordöstlichen Afrika gezeigt. Sein Studienfreund Jens wiederum hatte ihn mit seinem Fachwissen als Geologe beeindruckt. Von Markus hatte er heute auch erfahren, dass Wissenschaftler es für möglich hielten, dass die unter den Dünen der Sahara verborgenen Kulturschätze vielleicht sogar mit jenen Ägyptens zu vergleichen wären. Vor tausenden von Jahren war Nordafrika fruchtbares Kulturland gewesen. Weite Teile der jetzigen Sahara waren einst Urwald gewesen, mit riesigen Seen und mächtigen Strömen. Dramatische klimatische Veränderungen hatten aus dem Grünland Wüste werden lassen. Unter deren Dünen verbargen sich viele Geheimnisse. Jens starrte soeben gebannt auf einige Luftbildaufnahmen von Markus: »Ist ja Wahnsinn! Da sind ja hunderte von Pyramiden! Mitten in der Wüste. Wo ist das?«
Markus zoomte das Bild heran. Peter schaute ihm fasziniert über die Schulter. Markus hatte all die Luftbildaufnahmen ausgewählt, die vermutlich entlang der Route lagen, die Charles auf der Karte eingezeichnet hatte. Was er zu den einzelnen Aufnahmen zu erzählen hatte, war fantastisch.
»Das sind die Pyramiden des einstigen Reiches von Meroe. Sie liegen ungefähr 200 Kilometer nordöstlich der sudanesischen Hauptstadt Khartum – und damit genau an der Route der Karte. Diese meist aus Stein erbauten Pyramiden von Meroe sind mit einer Höhe von unter 30 Meter zwar kleiner als die bekannten ägyptischen Pyramiden. Aber es sind ungefähr 900 an der Zahl. Stellt euch das mal vor! 900 Pyramiden! Sie dienten den Königen, Königinnen und hohen Beamten des Reiches von Kusch als Grabstätten. Ihr Entstehungszeitraum reicht hauptsächlich von 300 vor bis etwa 300 nach Christus. Da könnt ihr mal erahnen, um was für ein mächtiges Reich und um was für eine hochstehende Kultur es sich gehandelt hat. Aber wir wissen ziemlich wenig darüber.«
»Warum grabt ihr die Sahara nicht längst um?«, fragte Peter seinen Freund.
Markus lächelte.
»Wenn das mal so einfach wäre«, schaltete sich nun Jens ein. »Ein Großteil der Saharastaaten ist militärisches Sperrgebiet. Oder es herrscht Krieg. In den Norden des Sudans, also dort, wo die Pyramiden stehen und wo diese Karawanenroute durchführt, lassen die Sudanesen niemanden hin. Für die ist jeder Archäologe ein verkappter CIA-Agent. Nein, lieber Peter, was unter diesen Dünen der Sahara verborgen liegt, bleibt uns wahrscheinlich noch für lange Zeit verschlossen.«
Peter setzte sich auf einen Sessel und nippte an einem Glas Wein. Vor ihm auf dem Tisch lagen Charles’ Briefe mit den kryptischen Andeutungen sowie die Karte. Daneben lag eine Kopie, die er angefertigt hatte. Auf ihr war eine Route nach den Angaben von Yvonne eingezeichnet. Sie führte vom Norden Äthiopiens westwärts in die Sahara. Er beugte sich über die Unterlagen, fuhr mit dem Zeigefinger über die einzelnen Karten, kritzelte mit einem Bleistift Notizen auf die Kopie, legte eine vierte, auf Klarsichtfolie aufgezeichnete Karte Nordafrikas über die Kopie und richtete sich plötzlich auf: »Ich hab’s! Das muss Mali ein. Die geheimnisvolle Route endet in Mali, irgendwo nördlich von Timbuktu. Timbuktu hatte sich wegen des Karawanenhandels zu einer der blühendsten Städte Afrikas gewandelt. Von dort brachen die Karawanen nach Marokko, Tunesien, Libyen, Ägypten und auch zum Roten Meer auf. Und dort macht der aus dem Süden kommende Niger eine große Schleife, um dann westwärts zu fließen. Das, liebe Freunde, ist es, was auf dieser Karte eingezeichnet ist.«
Eine Stunde später zischte Jens ein stolzes »Voilà« in die Runde. Wieder und wieder hatten die drei Männer Karten von alten Karawanenrouten, selbst gefertigte Skizzen und Folien eingescannt und über eine spezielle Software, die Jens als Geologe besaß, in eine fiktive Route quer durch Afrika umgewandelt. Schließlich hatte Jens diese Daten im Laptop mit den aktuellen geomorphologischen Gegebenheiten im nördlichen Afrika abgeglichen, während Markus seinen Datenbestand aus den jeweiligen nordafrikanischen Ländern zu einem parallel zu der fiktiven Route passenden Mosaik von Luftbildaufnahmen zusammengefügt hatte. Nach kurzer Zeit baute sich auf dem Bildschirm ein gestochen scharfes Bild auf.
»Wow! Das ist allererste Sahne!«, rief Peter aus und starrte fasziniert auf das vollbrachte Werk. »Jungs, wir sind Weltklasse. Teamwork in Perfektion.«
Jens legte ein Raster aus Längen- und Breitengraden über das Bild und zoomte das Endprodukt an der Stelle heran, wo die vermutete Route in Nordostafrika begann. Dann gab er die ungefähren Koordinaten – zwölf Grad, 36 Minuten Nord und 37 Grad, 28 Minuten Ost – in die Suchmaske ein. Die Umrisse des afrikanischen Kontinents erschienen auf dem Bildschirm. Ein See tauchte auf. Aus der Satellitenperspektive waren Gebirge, Flüsse, Straßen und Ansiedlungen zu sehen. Einige der Aufnahmen waren so gestochen scharf, dass Autos und Menschen zu erkennen waren.
»Yeeep! Ein Hoch auf die Technik! Und auf uns!«, jubelte Jens. »Das da, liebe Leute, ist der Tanasee im Nordosten von Äthiopien. Das viel gepriesene Dach Afrikas. Da gibt es 4000 Meter hohe Berge. Der Tanasee ist keineswegs ein Tümpel. Das ist ein kleines Meer. Schätzungsweise 80 Kilometer lang und fast 70 Kilometer breit. Er gehört, wie auch die anderen großen Seen Nord- und Ostafrikas, zum ostafrikanischen Grabenbruch. Am Tanasee entspringt der Blaue Nil und strömt dann westwärts, bis er in der sudanesischen Hauptstadt Khartum in den Weißen Nil mündet. Und eins ist klar: Wo so ein großer Fluss seinen Weg findet, gibt es auch einen Weg für Menschen – für Karawanen. Auf diesen Karawanenrouten wurden über Jahrhunderte Elfenbein, Gold, Edelsteine, aber auch Sklaven quer durch Afrika transportiert. Würde mich nicht wundern, wenn Charles auf eine alte, kaum bekannte Karawanenroute hinweisen wollte.«
Wie elektrisiert horchte Peter bei diesen Stichworten auf: Gold, Edelsteine, Elfenbein. Er erinnerte sich an die fantastisch anmutenden Passagen aus dem Brief, in dem es um hundsköpfige Menschen, Giganten, Zyklopen und um unvorstellbare Schätze ging. Aufgeregt wühlte er in seinen Unterlagen und zog schließlich den Brief hervor.
»Hört mal zu, Leute. Was hier geschrieben steht, liest sich wie ein Märchen aus Tausendundeiner Nacht: ›An Gold und Silber und Edelsteinen haben unsere Hoheit Überfluss… unter dem Übrigen, was sich wunderbarerweise in unserem Land befindet, ist ein sandiges Meer ohne Wasser -‹«
Markus unterbrach ihn. »Ach ja, das hätte ich fast vergessen. Du hast mich doch gebeten, irgendetwas über diesen ominösen Brief herauszufinden. Ich konnte! Ein Freund von mir, seines Zeichen Religionswissenschaftler, hat die Zeilen sofort zuordnen können. Es ist ein Brief aus dem zwölften Jahrhundert, der in verschiedenen Sprachen existiert und zu den am meisten diskutierten Dokumenten der Neuzeit gehört. Verfasser dieses Werkes soll angeblich – und jetzt halte dich fest, Peter – der mysteriöse christliche Priesterkönig Johannes gewesen sein.«
Im Raum herrschte angespannte Stille. Peter konnte seine Nervosität nicht weiter unterdrücken. Seine Augen glänzten. »Wer, zum Teufel, war das nun wirklich, dieser Priesterkönig Johannes? Alles, was ich bis jetzt herausgefunden habe, deutete darauf hin, dass es eher eine Fantasiegestalt war, ein Mythos. Ich dachte, der Brief sei ein Sammelsurium aus orientalischen Märchen, christlichen Fantasien und mittelalterlichen Hirngespinsten. Jetzt hat diese vermeintliche Fantasiegestalt namens Johannes angeblich einen Brief geschrieben? Das ist ja Aberwitz!«
Markus grinste. »Aberwitz? Keineswegs. Dieser Brief, der angeblich aus dem Griechischen ins Lateinische und später in alle möglichen europäischen Sprachen übersetzt wurde, ist Gegenstand höchst kontroverser wissenschaftlicher Untersuchungen geworden. Im Original ist er viel länger. Und noch viel fantastischer. Angeblich wurde der Brief im Jahre 1165 an Kaiser Manuel I. Komnenos von Byzanz geschrieben. Es gibt allerdings auch Leute, die sagen, der Brief sei eine perfekte Fälschung, die einzig und allein das Ziel hatte, die erschlaffte Bereitschaft der Europäer für Kreuzzüge gegen die Moslems wieder mit neuem Leben zu erwecken. Quasi mit einem mächtigen Christenkönig als Verbündeten. Andere sagen, es sei sehr wohl das Original, es mangle den Wissenschaftlern der Neuzeit lediglich an geistiger Flexibilität und Fantasie, um zu glauben, was dort geschrieben steht. Denn, lieber Peter, eins hat mir mein Freund, der Universitätsprofessor, auch noch gesagt: Dieser Brief wurde beantwortet. Und zwar von Papst Alexander III.! Dieser Priesterkönig hatte nämlich ein sehr konkretes Anliegen vorgetragen. Er wollte einen Altar in der Grabeskirche in Jerusalem errichten lassen. Wartet, ich habe hier einen Auszug aus diesem Brief vom Papst, gerichtet an: ›Johannes, erhabener und herrlicher König der Inder… Je erhabener und großmütiger sein Verhalten sein wird, je weniger er sich seiner Macht und seines Reichtums zu rühmen gedenkt, desto williger werden wir seinem Wunsch, einen Altar in der Grabeskirche zu Jerusalem zu erhalten, Beachtung schenken.‹«
Peter verdrehte ungläubig die Augen. »Willst du mir etwa erzählen, dass der Papst mit diesem Priesterkönig Johannes korrespondierte?«
»Könnte sein! Der Brief des Priesterkönigs erregte damals ein solches Aufsehen, dass sich Papst Alexander III. wohl zu einer umfassenden Gegendarstellung genötigt sah. Die Reaktion des Papstes war zwiespältig. Er fürchtete zum einen um seinen Alleinvertretungsanspruch, erhoffte sich aber zum anderen die tatkräftige Hilfe des sagenhaften Priesterkönigs bei der Befreiung Jerusalems. Aber es kommt noch besser: Noch im gleichen Jahr entsandte dieser Papst seinen Arzt Philipp mit einer persönlichen Botschaft an Johannes nach Asien, in der er um Unterstützung für einen weiteren Kreuzzug gegen die Muslime ersuchte. Philipps Reise endete offenbar ohne Ergebnis, er blieb verschollen. Aber du siehst, der Papst hat die Existenz des Priesterkönigs Johannes nicht angezweifelt. Wie auch immer, fest steht derzeit nur, dass dein Freund Charles offenbar eine Verbindung zwischen diesem mysteriösen christlichen Priesterkönig und Äthiopien sowie zu dieser Karawanenroute hergestellt hat. Aber warum? Ist schon eigentümlich, dass eine Karawane im Nordosten Äthiopiens aufbricht, um quer durch die Sahara gen Westen zu ziehen. Und warum werden deswegen heute Menschen umgebracht?«
»Am besten, du fährst die Route mal ab«, scherzte Jens. »Wenn du Glück hast, findest du zwischen Äthiopien und Mali eine im Sand verschollene Karawane. Vielleicht liegt da ein Schatz in der Sahara. Und vielleicht auch die Gebeine des mystischen Priesterkönig Johannes.«
Die Männer schauten sich wortlos an. Alle drei hatten denselben Gedanken. Aber keiner wagte, ihn auszusprechen.
Markus war es schließlich, der nüchtern resümierte: »Der Gedanke ist ebenso verlockend wie verrückt. Stellt euch das mal vor – eine Expedition von Äthiopien quer durch die Sahara nach Mali. Geil! Da wäre ich sofort dabei. Doch das könnt ihr vergessen. Überall militärische Sperrgebiete. Räuberische Wüstennomaden. Und völlig unbekannte Sandmeere, die mit keinem Geländewagen zu schaffen sind. Wenn da ein Schatz liegt, dann liegt er auch in tausend Jahren noch dort.«
Peter tat sich schwer, die Flut der Informationen dieses Tages zu verarbeiten. Zudem lösten die letzten Worte von Jens bei ihm wirre Fantasien aus. Die Sahara von Ost nach West durchqueren – was für eine Herausforderung! Monate würde man dafür brauchen. Nachdenklich schritt er durch den Raum, grübelte vor sich hin und sprach schließlich in einem auffallend ernsten Ton: »Ich erinnere mich an eine Geschichte, von der ich im Laufe meiner Saharatouren immer wieder mal gehört habe. Die Tuareg in Algerien hatten mir davon erzählt und die Haussa in Nordnigeria ebenfalls. Sogar die Fulani im Osten des Senegals haben darüber gemunkelt. Stets war von einer legendären Karawane die Rede gewesen. 2000 Kamele, beladen mit Elfenbein, Gold und Edelsteinen, so erzählten mir diese Wüstenvölker, waren angeblich vor hunderten von Jahren irgendwo in der Sahara, an einem Ort, den die Tuareg das Land der Leere nennen, für immer verschwunden. Ist eine nette Geschichte, die man sich abends am Lagerfeuer erzählt. Habe ich bis heute jedenfalls gedacht. Vielleicht hat es diese Karawane aber tatsächlich gegeben. Und möglicherweise liegt da sogar noch was ganz anderes unter dem Sand begraben. Etwas, das mit diesem Priesterkönig Johannes und mit den Portugiesen zu tun hat. Ich sag’s euch, mir ist ganz mulmig zu Mute!«
Plötzlich merkte Peter, wie seine beiden Freunde ihn entgeistert anstarrten.
»Schaut mich bloß nicht so an! Ihr wisst, dass ich nicht so ein Verschwörungstyp bin. Aber seid doch mal ehrlich, diese Geschichte ist so unvorstellbar und doch so nahe an gewissen historischen Geschehnissen, dass wir da weitermachen müssen. Irgendwo müssen wir ansetzen. Vielleicht in Äthiopien. Dort suchte man den mystischen Priesterkönig Johannes ja auch. Und eins weiß ich, im Tanasee liegen viele Inseln, auf denen sich jahrhundertealte christliche Klöster befinden. Da oben liegt das legendäre Lalibela – auch Neu-Jerusalem genannt. Mit den weltberühmten Felsenkirchen. Nicht weit davon entfernt liegt Aksum, eine der mystischsten Städte Afrikas. Dort existierten einst mächtige Königreiche, christliche Reiche. Irgendwo dort, so vermute ich, brach vor vielen hundert Jahren eine Karawane auf Richtung Khartum, westwärts durch die Sahara bis nach Mali, in die Nähe von Timbuktu. Hunderte Tage Wüste, schroffe Gebirge, Trockenheit, Tod und Verderben. Wahnsinn! Die Frage ist, wer diese Leute waren, die diese eigentlich von Menschen kaum zu bewältigende Strecke quer durch die Sahara zurücklegten. Was transportierte diese Karawane? Und wo verschwand sie? Diese Karte ist laut Yvonne einem portugiesischen Buch entnommen worden. Die Portugiesen waren ja auch auf der Suche nach dem legendären Christenreich des Priesterkönigs Johannes. Es gab Abgesandte des portugiesischen Königs, die mit den damaligen Königen von Aksum und Lalibela verhandelten. Wenn portugiesische Seefahrer die Meere durchkreuzten, waren immer Spione des Papstes dabei. Einer von ihnen war ein Franziskaner. So wie die beiden Toten von San Francesco del Deserto. Glaubt ihr an solche Zufälle?«
Er schaute seine beide Freunde fragend an, erhielt aber keine Antwort.
»Sagt mal, kann einer von euch beiden Portugiesisch?«
Jens und Markus schüttelten verwundert den Kopf.
»Mist, das hatte ich befürchtet. Dann werde ich notgedrungen Yvonne bitten müssen, mit mir nach Lissabon zu fliegen. Dort finde ich wahrscheinlich Antworten auf viele Fragen.«
Zur gleichen Zeit, da Peter zusammen mit seinen Freunden Markus und Jens seine Wohnung in der Rosenheimer Straße verließ, um in einem nahegelegenen Restaurant essen zu gehen, stieg Jahzara am Flughafen von Lissabon in ein Taxi und wies den Fahrer an, sie zu ihrer Wohnung im Stadtteil Alfama zu fahren. Ängstlich drehte sie sich auf der viertelstündigen Fahrt in die Stadt mehrmals um und beobachtete die hinter ihnen fahrenden Autos. Nichts Auffallendes war zu sehen.
Das auf einem Hügel hoch über der Stadt thronende Castelo de São Jorge erstrahlte in gelblichem Flutlicht und hob sich romantisch gegen den sternenklaren Abendhimmel ab. Die Bruchsteinmauern des Kastells vermittelten ihr ein Gefühl der Geborgenheit. Endlich wieder zuhause, in einem vertrauten Umfeld. Und doch war sie nervös. Der Tod von Charles Bahri hatte sie erschüttert. Das Gefühl, dieses dumpfe Bewusstsein, verfolgt zu werden, wollte einfach nicht weichen. Wovor hatte Charles Bahri Angst gehabt? Vor der katholischen Kirche? Vor dem Papst? Diese Dokumente waren brisant, würden weltweit für Aufregung sorgen. Aber deswegen war er bestimmt nicht umgebracht worden. Außerdem fragte sie sich, was diese Geschehnisse mit jenen Dingen zu tun hatten, die der Direktor des Museo Storico Navale von Venedig ihr erzählt hatte? Gänsehaut lief ihr über den Rücken, als sie sich an den Moment erinnerte, in dem sie in dem Schifffahrtsmuseum plötzlich diese Männerstimme hinter sich gehört hatte. Ihr Herz wäre beinahe stehen geblieben, solch panische Angst hatte sie gehabt. Der Araber! Das war ihr erster Gedanke gewesen. Jener dunkelhäutige Mann mit diesem seltsamen Mal auf der Stirn. Der, dessen Gegenwart sie noch immer zu spüren glaubte, obwohl sie ihn seit dem Zwischenfall auf dem Vaporetto nicht wiedergesehen hatte. Seit der Sache auf dem Boot fühlte sie sich verfolgt. Dabei hatte sich der Araber nicht einmal auffällig verhalten. Er hatte auf dem Vaporetto nahe der Kapitänskajüte gestanden und sich, ebenso wie alle anderen Passagiere, die prächtigen Paläste entlang des Canal Grande angeschaut. Nur einmal, für Bruchteile von Sekunden, hatten sich ihre Blicke gekreuzt. Sehr flüchtig, unbeabsichtigt. Und doch war da etwas in diesen Augen gewesen, das sie hatte erstarren lassen. Dieser Mann trug Böses in sich! Ein undefinierbarer, eiskalter, gefühlloser Blick war es gewesen. Sie kannte den Fremden nicht. Aber er kannte sie, das spürte sie. Ja, dieser Araber wollte etwas von ihr. So, wie der andere Mann auch.
Einen Augenblick lang musste sie an den gut aussehenden Mann denken, der sie auf dem Boot fotografiert hatte. Aufgefallen war er ihr eigentlich nur, weil er so braungebrannt war und weil sein schwarzes Haar im Fahrtwind ständig über sein Gesicht fiel und ihn am Fotografieren hinderte, was ihn zu lustigen Grimassen und seltsamen Handbewegungen veranlasst hatte. Dann hatte sie bemerkt, dass dieser breitschultrige Mann mit dem kantigen Gesicht sie durch das Objektiv seiner Kamera hindurch beobachtete, sie fotografierte. Sie hatte seine Blicke auf ihrem Körper geradezu gespürt. Und sie hatte es genossen. Ohne zu wissen, warum. Dieser Mann strahlte etwas aus, das sie faszinierte. Vielleicht war es seine selbstbewusste Körperhaltung oder sein Lächeln, seine Mimik. Es war eine eigentümliches Situation gewesen: hinter ihr ein Araber, vor dem sie sich fürchtete, vor ihr ein Europäer, der fast die gleiche Kleidung wie der Araber trug und der sie durch die Linse seiner Kamera beobachtete, sie in seinen Fantasien vielleicht sogar auszog. Angst im Nacken und ein Kribbeln im Bauch – das hatte sie auf dem Boot empfunden. Geblieben war die Angst. Bis hierher nach Lissabon.
Am Platz vor dem Teatro National bat sie den Taxifahrer, zwei Mal um den Kreisverkehr herumzufahren. Misstrauisch taxierte sie jedes Fahrzeug, das hinter ihnen fuhr. Niemand schien ihnen zu folgen.
»Hast du Angst, dass dir dein Mann auf die Schliche kommt und dich mit deinem Liebhaber ertappt? Oder hast du etwa für heute Nacht noch keinen Lover? Das ließe sich schnell ändern«, sagte der junge, ungepflegt wirkende Fahrer in schlechtem Portugiesisch und starrte ihr über den Rückspiegel völlig ungeniert auf ihren Busen.
Die anzüglichen Bemerkungen ärgerten sie. Er hatte Ekel erregenden Mundgeruch und fettiges Haar. Ohne Zweifel war er Brasilianer. Wahrscheinlich einer dieser mittellosen Immigranten aus den einstigen portugiesischen Kolonien, die zu hunderten tagsüber am Platz nahe der Statue von Dom Pedro IV. herumlungerten. Ihre Reaktion war harsch.
»Sehe ich etwa so aus, als würde ich mich mit einem Taxi fahrenden Clochard mit einer Mutter und vielen Vätern einlassen?«, fauchte sie und starrte demonstrativ aus dem Fenster.
Wenige Minuten später erreichten sie die Kathedrale am Fuße des Stadtteils Alfama. Der Anblick des unscheinbaren Backsteingebäudes mit den zwei quadratischen Glockentürmen beruhigte sie. Hier kannte sie jeden Winkel, jede Gasse – und viele Menschen. Hier lebten ihre Freunde. In Alfama war sie sicher. Sie stieg aus, überquerte die Straße und ging die für Fahrzeuge gesperrte Rua da Saudade hinauf, bis sie die enge Rua das Damas erreichte. Nochmals verharrte sie, prüfte, ob jemand ihr gefolgt war. Sie sah nur einen jungen Mann, der auf einer Bank am Ende der Gasse unter einem Baum saß und eine Zigarette rauchte. Gegen das Licht der Straßenlaterne sah er ein wenig wie ein Araber aus. In Alfama wohnten allerdings sehr viele Afrikaner, Südamerikaner und auch Araber. Schon im zwölften Jahrhundert war es Heimat maurischer Handwerker und Händler gewesen. Seit Künstler und Intellektuelle dieses Viertel für sich entdeckt hatten und immer mehr avantgardistische Szenenlokale hier öffneten, veränderte sich das Flair dieses Viertels zunehmend. Aber noch galt Alfama in Lissabon als Refugium für Ausländer, Ausgegrenzte und Verarmte. Es war eine in sich geschlossene Welt der Andersartigkeit.
Sie atmete auf. Niemand war ihr gefolgt. Ihr Blick schweifte über das altblau getünchte Haus, an dessen brüchige Fassade defekte Strom- und Telefonleitungen herabhingen. So sah es im gesamten Viertel aus. Alfama war eine marode Welt mit mittelalterlichem Flair.
Wenig später stand sie auf dem winzigen Balkon ihrer kleinen Wohnung im Dachgeschoss und genoss den Blick über die Stadt und die Kais. Die Nacht war mild. Wie immer wehte eine Brise vom Rio Tejo herauf. Die beiden weißen Türme der Iglesia de San Vicente de Fora und die Kuppel von Santa Engracia hoben sich, von Scheinwerfern angestrahlt, zu ihrer Linken gegen den Nachthimmel ab. Auf der anderen Seite des Flusses funkelten die Lichter der Stadtteile Barreiro und Lavradio. Weiter entfernt, zu ihrer Rechten, schimmerten die Lichterketten der Ponte 25 de Abril.
Sie liebte dieses Panorama. Mit viel Zeit, Geld und viel Liebe zum Detail hatte sie aus der einst tristen Zweizimmerkaschemme ein wahres Schmuckstück gemacht. Als sie vor Jahren hier einzog, hatte es nur zwei mickrige kleine Fenster gegeben. Die Lehmwände bröckelten, das Schindeldach war undicht gewesen. Es war ein dunkles Loch gewesen, mehr nicht. Inzwischen bestand die gesamte Wohnungsfront hin zum Fluss aus Glas. Helles Laminat und weiße Wände ließen die sechzig Quadratmeter großzügiger erscheinen. Selbst wenn sie im Bett lag, konnte sie den Tejo und die darauf fahrenden Schiffe sehen. Wenn der Wind aus dem Westen wehte, konnte sie sogar den Atlantik riechen. Von hier oben konnte sie alles überblicken, aber niemand konnte sie sehen.
Plötzlich fühlte sie sich entspannt und glücklich. Ihr Blick fiel auf die Bücher und Dokumente, die sie von Charles und vom Museumsdirektor erhalten hatte. Morgen würde sie mit ihrer Recherche anfangen. Und bald würde sie weltweit Aufsehen erregen! Sie zog sich auf dem Weg ins Schlafzimmer aus, ließ ihre Kleider auf den Boden gleiten, legte sich auf das Bett und starrte durch das Panoramafenster auf das Flusstal. Ihre Gedanken kreisten um Charles, seine sensationellen Bücher und um diese geheimnisvolle Karte, mit der sie nichts anzufangen wusste. Wie Wetterleuchten huschten tausende Gedanken durch ihren Kopf. Sie verdrängte den kurz aufkommenden Gedanken an den Araber und lächelte vor sich hin bei der Erinnerung an den sympathischen Mann mit der Kamera und dessen warmherziges Lächeln.
Langsam fielen ihr die Augen zu. Schläfrig hörte sie ein Containerschiff den Tejo ostwärts Richtung Atlantik schippern. Das Tuckern der Dieselmaschinen vereinte sich in ihrem Halbschlaf mit den Worten des Direktors vom Museo Storico Navale in Venedig, die wie ein Echo durch ihre Erinnerung hallten: »Diese abenteuerliche Geschichte, Signora, fing an, als Heinrich, dritter Sohn des portugiesischen Königs Johann I. im Jahre 1434 den Kapitän Gill Eanes und fünfzehn auserwählten Männern den geheimen Auftrag erteilte, das Mar Tenebroso, das Meer der Finsternis, zu durchqueren. Dom Anrrique, wie der Königssohn in Portugal genannt wurde, befahl diesen wagemutigen Männern, die von der Kurie proklamierten Grenzen des Universums zu ignorieren, um eines der größten Geheimnisse der damaligen Zeit zu lüften. Jene furchtlosen Seemänner fuhren los, um etwas zu suchen, was der Papst und seine Vasallen weder hofften, dass es überhaupt existiert, geschweige denn wollten, dass es je gefunden werde: das legendäre Christenreich des Priesterkönigs Johannes. Die katholische Kirche sah in dem mystischen Priesterkönig eine Bedrohung des Alleinvertretungsanspruches des Papstes. Der Heilige Vater hoffte, dass dieses angeblich so mächtige Christenreich nie gefunden oder Informationen darüber die Christen Europas erreichen werde. Dafür war man in Rom bereit, alles zu tun. Alles! Der visionäre Dom Henrique hingegen sah in diesem Christenkönig einen potenziellen Verbündeten im Kampf gegen die ungläubigen Mauren. Und einen Mitstreiter bei der Befreiung Jerusalems. Jetzt, nach dem Tod von Charles Bahri, wird ans Licht der Öffentlichkeit gelangen, was damals wirklich passierte. Denn jemand hat aufgeschrieben, was geschah. Vielleicht war der anonyme Verfasser ein portugiesischer Getreuer des Infanten. Oder einer der zum Tode Verurteilten aus den Kerkern Portugals, die als Seeleute für dieses Abenteuer angeheuert worden waren mit dem Versprechen, dass sie, sollten sie jemals vom Ende der Welt zurückkehren, freie Männer sein würden. Vielleicht war es auch ein Franziskaner. Was damals geschah, ist eine sehr traurige Geschichte über Macht und Missgunst, Hass und Liebe. Ein unrühmliches Kapitel in der Geschichte der katholischen Kirche.«
In dem Moment, in dem Jahzara in ihrer Dachgeschosswohnung einschlief, warf Mohammed seine Zigarette weg. Seit Ankunft der Äthiopierin waren zwei Stunden vergangen. Davor hatte er vier Stunden lang auf der Bank unter dem Baum am Ende der Rua das Damas auf sie gewartet. Nachdem sie dann endlich das Haus betreten hatte, hatte er sofort Abu Fares angerufen. Statt von diesem langweiligen Auftrag entbunden zu werden, war ihm aufgetragen worden, zu warten, bis er abgelöst werden würde. Er hatte keine Ahnung, um was es hier ging. Es wollte und musste es auch nicht wissen. Er war es gewohnt, in Unwissenheit gelassen zu werden. Die Männer, für die er gelegentlich Aufträge durchführte, mochten es nicht, mit Fragen malträtiert zu werden. Was sie wollten, tat man. Was sie befahlen, führte man bedingungslos aus. Ihre Ehrenhaftigkeit stand außer Frage.
Die heiligen Männer von Al Sakina waren mächtige Männer, von denen niemand in der moslemischen Gemeinde so genau wusste, was sie eigentlich wollten. Wer für sie arbeitete, tat das aus Überzeugung, im Namen Allahs.
Kurz nach Mitternacht sah er Abu Fares auf sich zukommen. Der breitschultrige Hüne mit dem Vollbart und den eng zusammenliegenden Augen schritt nahezu lautlos über das Kopfsteinpflaster. So, wie ihm befohlen worden war, stand Mohammed auf und ging wortlos und ohne Abu Fares anzuschauen davon. Er kannte diesen Mann nur vom Sehen, kannte seine Stimme, wusste aber nichts von ihm. Doch so wie alle anderen Glaubensbrüder auch hatte er Angst vor Abu Fares. Jeder ahnte, was der Hüne für die Derwische des Ordens tat.