15.
Commissario Toscanelli wusste für einen Moment nicht, ob ihm die Situation peinlich sein oder ob er lauthals losbrüllen sollte. Ihm ging es so grauenhaft schlecht, dass er keinen klaren Gedanken fassen konnte. Er warf einen kurzen Blick auf seinen deutschen Kollegen, der mit aschfahlem, eher grünlichem Gesicht am Bug des Polizeibootes stand und sich übergab. Toscanelli konnte sich nicht länger zurückhalten. Er prustete los, krümmte sich – ob vor Magenschmerzen oder Lachen, war nicht zu unterscheiden – und schämte sich nur ein wenig. Auch der Carabiniere, der am Ruder stand und die ganze Zeit verzweifelt versuchte, sein Lachen zu unterdrücken, konnte sich nicht mehr beherrschen. Tränen liefen den beiden über ihre Wangen.
Pietro suchte lange nach Worten, bis er schließlich abgehackt hervorpresste: »Das… das hat Venedig in seiner glorreichen Geschichte mit Sicherheit noch nie gesehen. Zwei kotzende Kommissare im Einsatz!« Er brüllte es so laut gegen den Fahrtwind, dass selbst Hauptkommissar Gert Fröbig vom deutschen Bundeskriminalamt nicht anders konnte, als zwischen seinen Würgeanfällen gequält zu grinsen.
Es dauerte gut eine Viertelstunde, bevor sich alle Polizisten auf dem Boot wieder beruhigten. Lange Zeit genügte nur der Blickkontakt zu einem ihrer Kollegen, um abermals wie albernde Kinder loszukichern. Schließlich tuckerte das Polizeiboot durch seichtes Wasser auf die Klosterinsel San Francesco del Deserto zu. Mit festem Boden unter den Füßen grinsten sich Toscanelli und Fröbig an. Sie kannten sich erst seit knapp zwei Stunden. Aber dieses unrühmliche Erlebnis hatte sie auf eigentümliche Weise einander nähergebracht.
Commissario Toscanelli war darüber erleichtert, denn die ersten Gespräche mit seinem Kollegen aus Deutschland waren alles andere als erbaulich gewesen. Hauptkommissar Fröbig, der sehr kurzfristig nach Venedig gekommen war, hatte anfänglich nicht sonderlich gesprächig, mithin ziemlich arrogant gewirkt. Auf nahezu jede dritte Frage hatte er lapidar mit »Das unterliegt strengstem Quellenschutz, dazu kann ich nichts sagen« oder mit »Diese Information ist als streng geheim klassifiziert, deshalb brauche ich eine Genehmigung des Innenministers, um darüber detailliert Auskunft zu geben« geantwortet. Unter diesen Umständen, hatten Commissario Toscanelli und sein Assistent Pietro gemutmaßt, würde es in dieser Ermittlungssache kaum Fortschritte geben. Das Synchronkotzen hatte also auch sein Gutes gehabt.
Gemeinsam gingen die beiden auf das Tor des Klosters zu und klingelten. Toscanelli machte aus seiner Verwunderung keinen Hehl, als sich die Tür öffnete und dort ein Mönch stand, den er zuvor noch nie gesehen hatte. Nicht weniger überrascht war er, zu erfahren, dass Pater Giovanni, der damals Charles Bahri tot aufgefunden hatte, nicht mehr in San Francesco del Deserto sei. Der ehemalige Abt des Klosters ebenfalls nicht mehr! In welchem Kloster die beiden nun seien, wusste der Mönch angeblich nicht.
»Rom hat gesprochen, und unsere beiden Brüder folgten dem Ruf des Heiligen Vaters. Ihrer Pflicht, Gott zu dienen, werden sie überall auf der Welt mit gleicher Inbrunst nachkommen«, kommentierte er ziemlich unfreundlich ihre Frage nach dem Verbleib der beiden wichtigen Zeugen. Entsprechend kurz war der Aufenthalt im Kloster. Nachdem der Commissario seinem Kollegen den damaligen Tatort gezeigt und ihn mit den Örtlichkeiten des Klosters vertraut gemacht hatte, bestiegen beide knapp eine halbe Stunde später erneut das Boot.
Hauptkommissar Fröbig war missmutig, konnte sich aber ein spöttisches Grinsen nicht verkneifen.
»Die Kirche lebt von Wundern! Das hier ist eins. Husch, weg sind die beiden Hauptzeugen. Und keiner weiß, wo sie sich aufhalten. Na gut, was soll’s. Wenn wir umsonst hier draußen waren, dann können sich zumindest die Fische in der Lagune freuen, dass sie so großzügig von zwei Kriminalbeamten gefüttert werden. Hoffentlich überlebe ich die Rückfahrt.«
Beide Kommissare nahmen am Heck des Bootes Platz. Die Nachmittagssonne streifte die alten Klostermauern und verlieh der Insel eine idyllische Atmosphäre.
Commissario Toscanelli nutzte die Stimmung, um den BKA-Beamten ein wenig gesprächiger zu machen.
»Ich denke, es gibt einen triftigen Grund dafür, dass die beiden Mönche verschwunden sind. Irgendjemand will verhindern, dass wir den beiden Hauptzeugen im Nachhinein noch Fragen stellen. So wie das bisher gelaufen ist, weiß ich schon jetzt, dass unsere Anfrage bei der Ordensleitung mit dem Hinweis auf das Schweigegebot freundlichst abgefertigt werden wird. Erst zwei tote Mönche, nun noch zwei verschwundene. Da steckt der Wurm drin!«
Hauptkommissar Fröbig schaute seinen italienischen Kollegen von der Seite her an. Der relativ junge Mann mit dem flachsfarbenen Haar wirkte sehr sympathisch. Er mochte diesen irgendwie lustigen und so offenherzigen, manchmal allerdings auch ein wenig tollpatschig wirkenden Beamten. An seiner fachlichen Kompetenz bestand kein Zweifel. Was Commissario Toscanelli ihm seit seiner Ankunft über diesen Fall und die Vorgehensweise der venezianischen Kripo erzählt hatte, verdiente viel Lob. Auch dessen Assistent Pietro war ein cleverer Typ. Die beiden schienen sich optimal zu ergänzen. Eigentlich wirkten sie wie Freunde. Vielleicht, dachte er, war das der Grund, warum die venezianische Polizei so auffallend umtriebig in diesem Fall war.
Versöhnlich sagte Gert Fröbig: »Nun gut, wenn die beiden Zeugen nicht zur Verfügung stehen, werden wir nicht mehr klären können, wer dem Killer damals im Kloster Interna verraten hat. Von irgendjemandem musste der Auftragsmörder damals gewusst haben, dass sich Charles Bahri im Kloster aufhielt und dass er diese Karte bei sich hatte. Der Tipp kann eigentlich nur aus dem Orden gekommen sein. Irgendetwas soll vertuscht werden. So eine Art franziskanische Verschwörung!«
»Nicht zu vergessen das Sion-Dossier, basierend auf Unterlagen des Franziskaners Francisco Álvares«, ergänzte Toscanelli. »Ist nur schade, dass die portugiesischen Kollegen ansonsten arg zugeknöpft sind, was die Hintergründe dieses Dossiers betrifft. Es war schon verwunderlich, dass sie uns mitteilten, dass Charles Bahri vor einigen Jahren vermutlich Dokumente dieses Dossiers gestohlen hat. Womit wir jetzt auch noch einen Ex-Mönch als Dieb haben.«
Gert Fröbig ließ seinen Blick über die Lagune schweifen. Er war das erste Mal in Venedig, doch die Stadt machte ihn neugierig. Mit diesem netten Commissario als Ansprechpartner würde er sicherlich noch mal diese faszinierende Lagunenstadt besuchen.
»Die ganze Sache hat offensichtlich einen historisch brisanten Hintergrund«, erwiderte er. »Wer weiß, was damals geschehen ist. Wer weiß, was die beiden verschwundenen Mönche für eine Rolle spielten. Wir werden es wohl nie erfahren. Wer als Bulle an den Pforten des Vatikans anklopft, dem wird erfahrungsgemäß nicht aufgetan. Ist nun mal ein eigener, souveräner Staat, der Vatikan. Der Papst als Präsident, Innen- und Außenminister! Und Stellvertreter Gottes auf Erden ist er auch! Da werden wir nicht weit kommen.« Pietro nahm mit Freude zur Kenntnis, dass sich das anfangs verkrampfte Verhältnis des Deutschen zu seinem Chef so entspannt hatte. Er sah die Gelegenheit gekommen, Fragen zu stellen. »Was ich nicht verstehe, Kollege Fröbig, ist, wie Sie an die Informationen über Peter Föllmer rangekommen sind. Der Mann ist ein unbescholtenes Blatt. Wir haben ihn über Interpol abgeklärt. Offizielle kriminalpolizeiliche Akten gibt es nicht über ihn. Der ist harmlos. Und trotzdem wissen Sie so viel über ihn.«
Der Hauptkommissar zögerte einen Moment. Seine offene Antwort überraschte auch Commissario Toscanelli.
»Liebe Kollegen, das, was ich nun erzähle, muss absolut vertraulich behandelt werden, versprochen?«
Commissario Toscanelli und Pietro nickten zustimmend.
»Dieser Föllmer ist vor vielen Jahren ins Visier unserer Geheimdienste geraten. Aber das sind alles Verschlusssachen. Aus den abgehörten Telefongesprächen und den vertraulichen Vermerken diverser Nachrichtendienste ist zu schließen, dass Föllmer wahrscheinlich nur durch Zufall in einen Strudel krimineller Geschehnisse geraten ist. Ihm ist bislang nichts anzulasten. Seiner Freundin Yvonne Steimer übrigens auch nicht. Und dieser Äthiopierin, mit der er unterwegs ist, schon gar nicht. Der Mann scheint eine Vorliebe für Abenteuer zu haben. Er tappt dauernd in Fettnäpfchen, die ihm beinahe Kopf und Kragen kosten. Er sucht die Gefahr, weiß aber offensichtlich nicht, dass er darin umkommen kann. Egal, ob er die Wüste durchquert oder nun in dieser Sache verstrickt ist. Tatsache jedenfalls ist, dass er sich vor vielen Jahren für die Linken in Deutschland engagiert hat, deshalb weiß ich so viel über ihn.«
Pietro runzelte zwar die Stirn, aber es war immerhin eine Art von Antwort auf seine Frage.
Hauptkommissar Fröbig seufzte und fuhr dann fort: »Glück hat dieser Föllmer bislang gehabt, sonst nichts! Und diese Jan-Zela, seine Bekannte, auch. Sein Pech ist, dass diese Leute von Al Sakina hinter ihm her sind, was allerdings wiederum unser Glück ist. Das sind extrem skrupellose, ungewöhnlich konspirative Leute. Die hätten wir so schnell nicht unter Kontrolle gebracht. Aber jetzt eröffnen sich für uns fantastische Möglichkeiten. Mit Yvonne Steimer haben wir einen idealen Lockvogel; Jahzara Jan-Zela und ihr Vater halten Föllmer unter Kontrolle und graben zusammen mit ihm Dinge aus, von denen wir noch keine Ahnung haben. Für seine Freundin würde er alles machen. Und für diese Äthiopierin auch. Das ist wichtig zu wissen. Denn in Mali werden wir operativ kaum tätig werden können. Was dort geschehen wird, entzieht sich unserer Kontrolle. Diese Wüstensöhne sind nämlich nicht sonderlich kooperativ. Und sie sind extrem korrupt. Wir haben uns erst gar nicht mit der Bitte um Unterstützung an Bamako gewandt. Ich denke, wir können uns auf Föllmer verlassen. Er ist ein Mann mit Prinzipien, charakterstark, eigenwillig und scharfsinnig und ein Afrikakenner. Das, liebe Kollegen, ist die heißeste Operation, die ich seit Beginn meiner Dienstzeit mitmache!«
Commissario Toscanelli freute sich, dass sein deutscher Kollege endlich Vertrauen gefasst hatte. Die Euphorie des Deutschen schien ihm jedoch übertrieben.
»Wenn ich das vorhin im Büro richtig verstanden habe, planen die Derwische von Al Sakina, Yvonne Steimer als Geisel zu nehmen, weil sie nur so noch in den Besitz der Dinge kommen können, die der Racheengel bislang nicht in der Lage war, zu besorgen. Richtig?«
»Genau«, antwortete der BKA-Mann. »Dieser Sahib al Saif, oder wie immer er auch wirklich heißt, hat mit einem gestohlenen Handy von Äthiopien aus den Sufi Abdul Qadir Dschila in Kairo angerufen. Die Kollegen vom ägyptischen Geheimdienst, denen diese Al-Sakina-Leute ein Dorn im Auge sind, hören schon seit Langem die Telefone der Derwische ab. Der Racheengel hatte anscheinend in Äthiopien Pech gehabt. So, wie hier in Venedig auch. Die Sufis waren stinksauer, dass er aufs Neue versagt hat. Sie haben ihm aber zugesagt, ihn aus Äthiopien rauszuholen, damit er diesem Föllmer und der Äthiopierin in Mali das abluchsen kann, was sie haben wollen. Damit das diesmal auch wirklich klappt, wollen die Sufis Yvonne Steimer als Geisel nehmen und Föllmer zwingen, sie dahin zu führen, wo sie alle hin wollen: zu einer verschollenen Karawane, die irgendwo im Wüstensand begraben liegt. Das ist der Plan der Sufis. Doch wir sind bei diesem Spiel mit dabei! Was das mit der Karawane genau auf sich hat, wissen wir noch nicht. Irgendetwas Mystisches. Alle, die mehr wissen, Äthiopier wie auch Portugiesen, schweigen sich diesbezüglich aus.«
Der deutsche Hauptkommissar hatte sich ein wenig in Rage geredet. Erst in diesem Moment schien ihm bewusst zu werden, dass er seinen italienischen Kollegen mehr als eigentlich nötig erzählt hatte.
Pietro nutzte die günstige Gelegenheit. »Hört sich nach einer perfekten Ausgangslage an. Aber es kann auch schiefgehen! Was ist, wenn sie diesen Föllmer eliminieren? Der ist ja wohl noch in Äthiopien, wenn ich das richtig verstanden habe. Das Risiko für Jahzara Jan-Zela erscheint mir ebenfalls noch sehr groß. Und was ist mit Yvonne Steimer? Ihr könnt doch nicht zulassen, dass sie wirklich entführt wird, oder?«
Hauptkommissar Fröbig nickte zustimmend. »Föllmer wird nichts passieren. Der macht längst keinen Schritt mehr ohne die Bewachung äthiopischer Spezialeinheiten. Er wird observiert, rund um die Uhr. Das hat der Bundesnachrichtendienst eingefädelt. Wieso die Äthiopier so toll mitspielen, weiß ich nicht. Es geht um irgendein nationales Heiligtum, das in die äthiopische Heimat zurückgebracht werden soll. Wie auch immer: Föllmer, Jan-Zela und ihr Vater sind derzeit vermutlich die am besten behüteten Menschen Afrikas. An die kommt auch der Racheengel nicht mehr ran. Den lassen die Äthiopier übrigens auf Wunsch des BND entkommen. Die Sufis haben schon eine Aktion gestartet, um ihn aus Äthiopien zu schleusen. Die haben exzellente Kontakte! Den Killer brauchen wir ja für unseren Plan. Denn er ist die Maus, die uns zum Speck führen wird – während Yvonne Steimer uns in Deutschland als Lockvogel für die Topleute von Al Sakina dient. Sie ist unser Schatz. Und den hüten wir bestens. Den anderen Schatz, der irgendwo in der Wüste liegt, kriegen wir auch. Bin mal gespannt, was da unter den Dünen so Spektakuläres und Wertvolles begraben liegt. Und diese Kakerlake schnappen wir uns dann ebenfalls. Alles, Kollegen, ist unter Kontrolle. Alles! Nur mein Magen nicht.«
Während des Landeanflugs genoss Peter den Anblick der bayerischen Metropole. München erstrahlte im letzten Abendlicht. Die Seen in der Umgebung schimmerten zwischen den Hügeln und Bergen wie Perlen in einem grünen Paradies. Die Gipfel der Alpen erinnerten ihn an Äthiopien. So kurz er sich dort auch aufgehalten hatte, so maßlos beeindruckt war er von den phänomenalen Landschaften. Seine Begeisterung für Äthiopien wuchs mehr und mehr.
Nichtsdestotrotz beunruhigte ihn diese Sache mit den Pickeln auf seinem Körper. Es hatte in Aksum mit Schüttelfrost, einhergehend mit Kopfschmerzen und Übelkeit, begonnen, was er zunächst den extremen Höhenunterschieden auf der Reise und der Kälte in seinem Hotelzimmer zugeschrieben hatte. Die Übelkeit hatte sich allerdings dramatisch schnell verschlimmert. Sogar das Mineralwasser, das er zur Vermeidung von Dehydrierung und Höhenkrankheit in sich hineingeschüttet hatte, hatte er nicht bei sich behalten können. Hinzu waren ein eigentümliches Kribbeln und Jucken gekommen. Zuerst an der Wade des rechten Beines, dann an beiden Oberarmen und schließlich am Rücken. An seinem rechten Unterschenkel war eine Stelle inzwischen auf Handgröße angeschwollen. Es sah wie ein Hämatom aus, blau-rot, mit eigentümlichen Pusteln in der Mitte. Und es juckte ebenso unangenehm, wie längst auch seine Bauchdecke, seine Oberarme und sein Rücken. Wo es kribbelte, entstanden in kurzer Zeit stecknadelgroße Pickel, die nässten. Panisch fragte er sich, was mit seinem Körper geschah. Was hatte er getrunken, gegessen oder angefasst? Da war der Bettler gewesen, diese Mitleid erregende Gestalt an der Einfahrt zum Hotel in Bahir Dar. Ein Greis mit spindeldürren Armchen, die sich ihm flehend entgegengestreckt hatten. Der alte Mann war so dankbar über die zwei Birr-Münzen gewesen, die er ihm in die geöffnete Hand gelegt hatte, dass er mit seinen ausgezehrten Händen nach seinen gegriffen und sie umklammert hatte. Sekunden später hatte er erst bemerkt, dass dieser Mann Lepra hatte! Das hatte Peter schockiert. Er wusste nicht viel über diese Krankheit. War sie durch Hautkontakt übertragbar? Hatte er sich angesteckt?
Diese rot-blauen Flecken am ganzen Körper ängstigten ihn zunehmend. So krank er sich schon in Aksum gefühlt hatte, so wenig Zeit war ihm dort geblieben, sich die Relikte aksumitischer Hochkulturen anzuschauen. Zwischenzeitlich hatte er einen Rückflug nach Deutschland gebucht, denn für das, was Jahzara und er vorhatten, brauchte er unbedingt ein GPS-Gerät. Ohne ein solches satellitenunterstütztes Navigationssystem würden sie in der Wüste von Mali keine Chance haben. Entsprechend waren Jahzara und er übereingekommen, dass er zurück nach Deutschland fliegen solle, um ein GPS-Gerät und andere Ausrüstungsgegenstände und Karten zu besorgen sowie ein Visum zu beantragen. Jahzara hingegen würde von Addis Abeba über Nairobi nach Bamako, der Hauptstadt Malis, reisen. Dort würden sie sich treffen, gemeinsam weiter nach Timbuktu fliegen, um von dort aus das Meer der Finsternis zu suchen. Mehr als eine erste Inaugenscheinnahme der Region, in der die Karawane vermutlich von einem Wüstensturm überrascht worden war, konnte diese Reise nicht sein. Erst danach wäre eine gezielte Suche nach der Karawane mit einer gut ausgerüsteten Expedition realisierbar. Denn darüber waren sie sich im Klaren: Existierte diese verschollene Karawane tatsächlich, dann lagen dort irgendwo in der Wüste mehr als 2000 Kamele, beladen mit einem Schatz. Eine Bergung würde nicht möglich sein, ohne die Aufmerksamkeit der Behörden zu wecken. Die Nachricht würde sich wie ein Lauffeuer rund um den Globus verbreiten und Begehrlichkeiten wecken. Diese Karawane war eine Sensation! Die Suche nach ihr musste genauso geheim ablaufen wie damals die Vorbereitungen für die Karawane.
Peter ahnte, dass dies schwierig werden würde. So menschenleer die Wüste auch schien, man war dort nie allein. Unsichtbare Augen folgten einem, wenn man die Ergs, Wadis und Dünen durchquerte. Was auch immer man in der Wüste tat, man hinterließ Spuren. Seyoum war es gewesen, der noch zu bedenken gegeben hatte: »Wir haben es ja nicht nur mit diesen Arabern zu tun. Da ist auch noch dieser Priester aus Jerusalem. Die äthiopischen Behörden mussten ihn freilassen. Es scheint, als sei er ein friedfertiger Mann Gottes, der sich nur für frühe Christengemeinden in Afrika interessiert. Es scheint, denn es geht schließlich um einen Schatz.«
Peter hatte sich über diese kryptischen Formulierungen Seyoums gewundert. Für einen Moment lang dachte er abermals an Aksum, wo sie auch die Kirche hatten besuchen wollen, in der früher die Bundeslade gestanden haben soll. Heerscharen von Polizisten hatten ihnen den Aufenthalt an diesem mystischen Ort verleidet. Angeblich war kurze Zeit vor ihrer Ankunft dort eine amerikanische Touristin ihrer Handtasche beraubt worden. Einige Zeugen behaupteten, der Flüchtende habe wie ein Araber ausgesehen. Peter starrte nachdenklich aus dem Fenster des Flugzeuges. Schon wieder ein Araber!
Mit der Aufforderung der Stewardess, die Sitzgurte für die Landung in München festzuziehen, überkam Peter eine ganz andere Angst. Warum er Yvonne kurz vor seinem Abflug in Addis Abeba eine SMS geschickt und sie gefragt hatte, ob sie ihn sehen wolle, konnte er sich im Nachhinein nicht erklären. Mit allem hatte er gerechnet, doch nicht mit dieser schnellen Antwort. Yvonne hatte nur ein einziges Wort geschrieben: »Gerne«. Das freute ihn ungemein. Dennoch spürte er, wie bei dem Gedanken an ein Wiedersehen mit ihr seine Hände schweißnass wurden. Unbewusst begann er, sich an seinem rechten Bein zu kratzen. Er schrak hoch. Durch den Stoff der Hose hindurch konnte er fühlen, dass sich die Haut aufgeworfen hatte. Ungläubig krempelte er erst das Hosenbein und dann seinen rechten Ärmel hoch. Da waren sie wieder, die Pickel am Ellbogen! Am Bizeps hatte sich die Haut erneut rötlich verfärbt. Der Rücken juckte. Das Bild des Leprakranken einte sich mit einem von Yvonne. Zwiespältige Empfindungen machten sich in ihm breit. Seine Freude wurde überlagert von der Angst vor dem Treffen. Noch mehr fürchtete er sich allerdings vor diesen Flecken auf seinem Körper.
Jahzara war sehr aufgewühlt. Der Antrag auf ein Visum für Mali hatte sich zu einem Spießrutenlauf entwickelt. Vor wenigen Minuten hatte sie die Botschaft der Republik Mali in Addis Abeba verlassen, war aber noch immer in Rage. Der für die Visa zuständige Mann hatte sie wie eine Hure behandelt, hatte sich dazu hinreißen lassen, die Vergabe eines Visums von einem »netten gemeinsamen Abend« abhängig zu machen.
»Schwein, verdammtes«, zischte Jahzara vor sich hin, »du meinst wohl, eine alleinstehende Frau in Äthiopien, die auch noch allein nach Mali reisen will, kannst du einfach bumsen, bevor du ein Visum ausstellst. Aber das habe ich dir vermiest, du Hurensohn.«
Da in Äthiopien eine Frau in ihrem Alter, die keine Kinder hatte und nicht verheiratet war, als Freiwild galt, hatte sie keine andere Chance gesehen, als mit der Position ihres Vaters und seinen Kontakten zu drohen. Das hatte den Typen zur Räson gebracht. Sie hatte das Visum. Doch damit hatte sie gegen die Absprache mit Peter verstoßen. Statt so unauffällig wie möglich zu agieren, war sie schon beim ersten Schritt der Realisierung ihrer Reise aufgefallen. In der Botschaft wusste man nun Bescheid, wann sie abfliegen, wann sie in Bamako ankommen, in welchem Hotel sie wohnen und wann und mit wem sie nach Timbuktu Weiterreisen würde.
Sie überquerte die Straße und setzte sich in ein Café.
Ihre Gedanken schweiften zu Peter. Ob Peter Yvonne in München treffen würde? Liebte er sie noch? Jahzara konnte ihre Gefühle nicht so recht einordnen. Beide hatten sie dieses Thema während ihrer Reise durch Äthiopien gemieden. Peter gab ihr Sicherheit. Und sie genoss seine körperliche Nähe.
Aber die Angst vor dem, was kommen würde, wenn sie einem Mann intensive Gefühle zeigen würde, lähmte sie, aktivierte Verdrängungsmechanismen. Sie wusste, mit welch bitterer Realität sie sonst konfrontiert würde. Der ersten Berührung würde die Sehnsucht nach Nähe und Geborgenheit folgen. Von Peter kamen solche Impulse. Doch er war zu einfühlsam und zu rücksichtsvoll und hielt sich an ihre Abmachung. Das schätzte sie an ihm. In dem Häuschen ihrer Großmutter in Sintra hatte er einen Regenwurm gerettet, der in dem Teich um sein Leben rang. Peter hatte Respekt vor allen Kreaturen. Und mit Sicherheit hatte er sehr viel Respekt und Hochachtung vor ihr. Es war ein wunderbares Gefühl, von einem Mann wie ihm begehrt und respektiert zu werden. Sein Selbstbewusstsein war beeindruckend. Peter wusste, wer er war, was er wollte und vor allem, was er nicht wollte. All das zog sie an, führte sie zu dem Gedanken, Peter könne vielleicht der Mann sein, der sie lieben würde, obwohl sie ihm nie Kinder schenken konnte. Ja, manchmal glaubte sie das. Aber nur manchmal, denn dann wucherte wieder die Angst in ihrer Seele. Sie hielt es für besser, die zum Selbstschutz konstruierte Distanz zu ihm zu wahren. So lebte sie seit vielen Jahren. Nein, wenn sie ehrlich zu sich selbst war, so lebte sie nicht – sie überlebte bloß.
Plötzlich ahnte Jahzara, warum sie an Yvonne hatte denken müssen. Sie war eifersüchtig! Diese Selbsterkenntnis schockierte sie. Sie kannte das Gefühl von Eifersucht eigentlich gar nicht. Wieso ausgerechnet bei Peter? Sie zwang sich, nicht weiter darüber nachzudenken. Die Zeit würde zeigen, wer Peter wirklich war und was sie für ihn empfand. In der Wüste würden sich viele Gelegenheiten ergeben, ihr Verhältnis zueinander zu hinterfragen. Dann würde sich auch herausstellen, ob sie Peter sagen könnte, was damals, nach dem Tod ihres Bruders, geschehen war. Und ob sie ihm sagen könnte, was der Mönch von Tana Cherkos ihr zu dem Thema Bundeslade erzählt hatte. Der alte Mann hatte auf ihre in Amharisch gestellte Frage, ob es sein könne, dass die Karawane nicht nur den Staatsschatz, sondern auch die Bundeslade außer Landes gebracht habe, sehr rätselhaft geantwortet: »Du weißt, es hat schon einmal jemanden gegeben, der eine Kopie der Lade angefertigt und sie in den Felsentempel von Jerusalem gestellt hat, damit nicht Ungläubige Besitz von ihr ergreifen und er das Original nach Äthiopien in Sicherheit bringen konnte. So steht es in der Chronik unserer Könige geschrieben. Also ist es die Wahrheit! Aber vielleicht gibt es noch eine weitere Kopie? Vielleicht hat Gott die Karawane im Meer der Finsternis mit Sand zugedeckt, bevor die Lade hinter den Mauern Roms verschwinden konnte. Vielleicht! Ich weiß es nicht. Es liegt an euch, die Wahrheit zu ergründen. Doch bedenke, Gottes Zorn hat schon manchen Zweifler gestraft. Die Bundeslade birgt Göttliches in sich – aber auch den Tod!«
Seither war Jahzara geradezu von dem Gedanken besessen, dass sie in der Wüste Malis nicht nur die Gebeine der Prinzessin Sahel, die deren geliebten Ehemannes und den Schatz finden könnten. Möglicherweise war da noch mehr, aber eben nur möglicherweise. Es bestand also kein Grund, Peter vorab darüber zu informieren. Bald würden sie sich in Bamako treffen. Ihr Visum hatte sie nun; Peter würde seines in Deutschland beantragen. Wenn alles gut ginge, würden sie sich in zwei Wochen treffen.
Zur selben Zeit, da Jahzara in Gedanken versunken in einem Café in Addis Abeba saß, positionierte sich vor dem Apartmenthaus, in dem Yvonne Steimer in einem Münchener Vorort wohnte, ein Kleinlastwagen. Der Kastenwagen parkte auf der gegenüberliegenden Straßenseite. Der Werbeaufdruck wies das Fahrzeug als Servicewagen der Stadtwerke München aus. Zwei Männer in Arbeitsmontur stellten zwei Holzböcke auf und überdachten sie mit einem Zelt, auf dem »Gasarbeiten« geschrieben stand. Bis zum späten Nachmittag hallten Hammerschläge und andere Geräusche aus dem Zelt. Dann verließen die beiden Arbeiter das Zelt, stiegen in einen wartenden Pkw der Stadtwerke und machten Feierabend.
Als Peter gegen acht Uhr abends mit einem Taxi vorfuhr, nahm er die Warnbarken und den Kastenwagen kaum wahr. Er war zu sehr damit beschäftigt, was er Yvonne sagen sollte und ob er überhaupt in der Lage sein würde, ihr zu erklären, was damals in Lissabon geschehen war. Was war eigentlich wirklich geschehen? Was konnte sie ihm letztendlich vorwerfen? Was musste er sich selbst vorwerfen? Betroffen gestand er sich ein, dass ihre Eifersucht gerechtfertigt gewesen war. Nervös klingelte er. Der parkende Kastenwagen war zu weit entfernt, als dass er hätte hören können, wie in dem Wagen der Verschluss einer Kamera mehrmals surrte und ein Mann in ein Mikrophon flüsterte: »Er ist da.«
Pater Benedikt gewöhnte sich langsam daran, dass hier die Dämmerung nur knapp eine halbe Stunde dauerte und die Nacht schon um acht Uhr hereinbrach. Das Zwielicht des frühen Abends verlieh dem Tanasee eine bilderbuchartige, romantische Stimmung. Der See schien zu brennen, so tiefrot färbte die untergehende Sonne das Wasser. Das Gezwitscher der Vögel in den Bäumen übertönte selbst den Lärm der nahen Straße. Auch wenn sein Arm noch ein wenig schmerzte, so fühlte er sich heute zum ersten Mal seit dem Zwischenfall wohl. Die Schusswunde verheilte schnell. Er deutete es als einen Wink des Schicksals, dass er dieses Missverständnis äthiopischer Polizisten nur überlebt hatte, weil er kurz vor dem Schuss gestolpert war, das Geschoss dadurch sein Herz verfehlt und im Arm nur eine Fleischwunde hinterlassen hatte. Die Behörden hatten sich mehrfach entschuldigt. Der Hoteldirektor hatte ihm sogar angeboten, sich so lange kostenlos im Tana-Hotel zu erholen, wie er wollte. Aber er wollte nicht mehr länger bleiben. Der Schöpfer hatte es gut mit ihm gemeint, hatte ihn schnell genesen lassen. Ihm war schließlich eine verantwortungsvolle Aufgabe übertragen worden. Und die galt es, zu erfüllen, zumal er gestern ein sehr aufschlussreiches Gespräch geführt hatte. Faktisch hatte sich darin bestätigt, was er aus dem Sion-Dossier bereits wusste und was einige streng gehütete Dokumente aus der Bibliothek des Vatikans, die er hatte einsehen dürfen, längst hatten vermuten lassen. Mit dieser Gewissheit waren allerdings auch grauenhafte Zweifel gekommen. Nach seiner Rückkehr aus Mali würde er genug Informationen haben, um eine abschließende Beurteilung abgeben zu können.
Pater Benedikt setzte sich auf den Balkon seines Zimmers und schaute schläfrig über den See. Zwiespältige Gedanken marterten ihn. Sein Blick ging zum Himmel. Die afrikanische Nacht kokettierte mit einer Sternenpracht, die ihm unglaublich nah, intensiv und überdimensional vorkam. Ohne die allgegenwärtige Armut wäre Äthiopien ein unglaublich schönes Land. »Herr, warum strafst Du diese Menschen mit Hunger und Leid? Die Vergänglichkeit haust schon viel zu lange in diesen Täler und prachtvollen Bergen. Es könnte ein Paradies sein! Vergib mir meine Zweifel an Deinem Tun, Herr. Aber es sind doch nicht die einfachen Menschen, die für dieses Leid verantwortlich sind. Es sind die Generäle und Herrschenden, die Du rügen solltest, oder zweifelst Du an den einfachen Menschen?«
Bei dem Wort Zweifel griff Pater Benedikt nach dem Glas Wasser auf dem Tisch. Was tadelte er, was fragte er den Allmächtigen, ob er Zweifel habe? Er selbst hatte doch auch Zweifel. Sogar sehr viele! Und das schon länger. Dabei hatte er bislang verdrängt – mehr aus wissenschaftlichen Erwägungen heraus, berücksichtigend, dass der erste Eindruck nicht die Wahrheit sein musste und sich oftmals im Laufe der Zeit manch wagemutige und Furcht erregende Gewissheit als Irrtum herausstellte.
Schon in Lissabon hatte er nicht wahrhaben wollen, was sich ihm als Fazit aus den Sion-Dokumenten aufgedrängt hatte. Seit gestern kam er nicht umhin zu sehen, dass er auf der Suche nach frühen Christengemeinden in Afrika auf ein sehr unrühmliches Kapitel der römisch-katholischen Kirchengeschichte gestoßen war. Was sollte er nun tun? Seine Mitbrüder in Jerusalem und sicherlich auch der Heilige Vater in Rom würden ihn ins entlegenste Kloster auf Erden verbannen, wenn er auch nur andeuten würde, was er seit gestern wusste. Wie sollte er mit seinem Wissen umgehen? Die Geschichte mit dem portugiesischen Ehemann der Prinzessin Sahel und vor allem das Verhalten der Päpste damals würden in den Medien für Schlagzeilen sorgen. »Lieber Gott«, flüsterte er, faltete seine Hände zum Gebet und schloss die Augen. »Lass es bitte nicht wahr sein, was geschah. Der Beizebub muss sich damals in den Herzen unserer Franziskanerbrüder und, verzeih mir bitte, auch in den Gemächern des Heiligen Vaters und seiner ehrwürdigen Berater eingenistet haben! Sag mir, dass das Sion-Dossier das Machwerk eines bösartigen Fantasten oder das Hirngespinst eines Verrückten war! Schicke mir Erleuchtung, auf dass ich verstehe, warum niemand die Hilferufe unsere christlichen Brüder in Afrika erhörte. Auch wenn ihr Glaube nicht den Dogmen der römisch-katholischen Kirche entsprach, sie irregeführt auf Pfaden der Widerspenstigkeit und nahe der Häresie wandelten, so waren sie doch gläubige Christen! Weise mir einen Weg nach Mali, auf dem ich Beweise finde, die widerlegen, was sich bis jetzt als schier unglaubliche Wahrheit darstellt. Lass mich eine Wahrheit finden, mit der ich leben kann. Denn ich glaube nicht, dass ich schweigen kann und darf.«
Nach einer langen, staubigen Fahrt in einem Überlandbus war Sahib al Saif endlich von Aksum nach Addis Abeba gelangt. Die beiden Sufis des Al-Sakina-Ordens hatten ihm befohlen, eine Villa am Stadtrand aufzusuchen. Dort erwartete ihn bereits ein elegant gekleideter Mann.
Er stellte sich nicht vor und sprach nur wenige Sätze in Arabisch: »Hier sind der neue Pass, Bargeld und einige Sachen zum Anziehen. Im Pass ist ein Visum für Mali. Du hast einen diplomatischen Status. Dein Flugzeug geht übermorgen. Bis dahin solltest du hier im Haus bleiben. Es ist die Residenz unseres Herrn Botschafters, also exterritoriales Terrain. Kein Polizist wird dich hier behelligen. Was du noch wissen solltest: Föllmer ist in München und hat dort seine frühere Freundin getroffen. Jan-Zela hat ein Visum für Mali beantragt. Details hierzu findest du in diesem Umschlag. In Mali wirst du am Flughafen von einem Bruder von uns empfangen werden. Er wird dich einweisen, dir helfen, das zu Ende zu führen, was dir bisher nicht gelang. Du hast mehrfach versagt! Ich rate dir daher, Vorsicht walten zu lassen. Allahs Geduld und Güte währen nicht ewiglich. In Mali wirst du in die Identität eines Targi schlüpfen. Wie ich hörte, sind schon viele dieser Söhne der Wüste in der Sahara verschwunden oder darin umgekommen. Du solltest darauf achten, dass dir das nicht auch passiert.«