17.
Es geschah am Morgen des zweiten Tages in der Wüste. Völlig unerwartet stieß Peter mit dem Geländewagen auf ein tiefes Sandloch. Es war eines jener Mehllöcher, wie er diese tückischen Sandfallen nannte, die sich auf Schotterebenen bildeten, wenn Stürme feinste Sandpartikel in kaum sichtbaren Mulden abgelagerten. Winzige Sandverwehungen hinter zwei Steinen hatten ihm im allerletzten Moment signalisiert, dass vor ihm eine der Fallen lag, die schon vielen zum Verhängnis geworden war. Wer mit hoher Geschwindigkeit in ein solches Mehlloch fuhr, krachte wie gegen eine unsichtbare Wand und wurde nicht selten durch die Windschutzscheibe katapultiert.
Peter reagierte blitzschnell. Mit voller Wucht trat er aufs Gaspedal. Der Wagen stockte einen kurzen Moment und schlingerte dann mit aufheulendem Motor durch die Sandfalle. Jahzara wurde umhergeschleudert. Der Killer auf der Rückbank prallte mit dem Kopf gegen die Seitenscheibe und schrie schmerzerfüllt auf. Peter starrte gespannt in den Rückspiegel, ahnend, was passieren würde. Und wirklich: Der Fahrer am Steuer des zweiten Wagens reagierte zu spät. Der Geländewagen schoss in die Sandfalle, blieb wie von Geisterhand gestoppt stehen. Der Fahrer prallte gegen das Lenkrad und wurde sofort wieder zurückgeschleudert. Eine riesige Staubwolke hüllte das Fahrzeug ein. Peter bremste seinen Wagen ab.
Der Araber richtete seine Pistole auf ihn und blickte schreiend nach hinten: »Zurück! Los, fahr zurück!«
Habib Mounzer, wie der Targi angeblich hieß, hatte eine Prellung am Kopf und eine ausgerenkte Schulter. Er fluchte und verzog vor Schmerzen das Gesicht. Beim Aufprall auf einen Stein war die rechte vordere Radaufhängung arg in Mitleidenschaft gezogen worden.
Peter schaute Jahzara an, zwinkerte ihr mit einem Auge zu und zischte wütend: »Wenn der Idiot mir noch mal so dicht auffährt, brems ich ihn aus. Der riskiert unser aller Leben!«
Der Zwischenfall verbesserte Peters Stimmung. Die vergangene Nacht hatten sie im Windschatten einer Düne verbracht. Jahzara war an das Lenkrad des Jeeps festgebunden worden. Ihn hatte der Araber mit beiden Händen an der Stoßstange festgezurrt. Es war eine grauenhafte, unbequeme Nacht gewesen. Mit Jahzara hatte er nicht reden können und dürfen. Dennoch hatte er gespürt, in welchem Gemütszustand sie sich befunden hatte. Ihm war es ähnlich ergangen. Verzweifelt hatte er sich den Kopf zermartert, wie sie aus dieser lebensgefährlichen Situation heil herauskommen könnten. Doch die Chancen standen schlecht: Handy, GPS-Gerät und ihre persönlichen Aufzeichnungen hatten die beiden ihnen abgenommen. Peter hatte auf dem Display noch eine Nachricht von Yvonne entdeckt, aber er hatte sie nicht lesen dürfen.
Schnell hatte er jedoch erkannt, dass die beiden nicht mit dem GPS-Gerät umzugehen wussten. Auch die Unterlagen in Deutsch und Portugiesisch konnten sie nicht lesen. Das hatte wieder Hoffnung in ihm geweckt. Solange sie die Karawane nicht gefunden hatten, waren diese Männer auf ihn angewiesen. Das war ihre Lebensversicherung! Und so lange würden sie auch Jahzara in Ruhe lassen. Das war seine größte Sorge. Der Typ, der offensichtlich tatsächlich Habib hieß und aus der Gegend von Timbuktu zu kommen schien, hatte Jahzara am Abend mehrmals lüstern angestarrt. In der Nacht waren ihm schließlich Dinge aufgefallen, die kleine Chancen erahnen ließen. Der Killer war in der Stadt aufgewachsen. Er schätzte die Anonymität und die Unüberschaubarkeit von Städten. Hier in der Wüste nutzte ihm all das nichts. Er kannte nicht mal die einfachsten Überlebensregeln der Wildnis. Offenbar hatte er vor der Wüste sogar panische Angst. Selbst das Kläffen eines Schakals, der bei Sonnenuntergang in der Nähe des Lagerfeuers umhergeschlichen war, hatte ihn beunruhigt.
Nun, nach dem Zwischenfall mit dem Sandloch, hatte Peter das Gefühl, dass ihre Chance zu überleben stieg. Ganz offensichtlich war dieser Habib Mounzer kein Targi, kein wirklicher Sohn der Wüste. Und er war ein mieser Fahrer!
Damit waren die beiden auf sein GPS und auf seine Fähigkeiten angewiesen. Außerdem lebten sie im festen Glauben, dass Peter wegen Yvonne alles nur Erdenkliche tun würde, um die verlorene Karawane zu finden. Der Killer war in einer sehr misslichen Situation. Er hatte sich wohl darauf verlassen, in dem Targi einen Kenner der Wüste zu haben. Der aber hatte nun eine ausgerenkte Schulter, ein lädiertes Auto und wenig Ahnung vom Leben in der Wüste. Peter empfand Genugtuung. All das hatte den Nebeneffekt, dass sie langsamer als geplant vorwärtskamen. Je länger sie zum Land der Leere brauchen würden, desto länger würden Jahzara und er am Leben bleiben. Yvonne auch. Die Frage war, wie viel Zeit ihnen noch blieb. Nach seinen Berechnungen würden sie übermorgen die Region erreichen, in der die Karawane verschollen war.
Sie fuhren weiterhin in einem von Geröll und kleinen Dünen geprägten Trockenfluss nordostwärts. Gegen Mittag ließen zunehmende Sandverwehungen erahnen, dass sie sich größeren Sanddünen näherten. Sie entschieden, unter einem verdorrten Baum Rast zu machen. Die Temperaturen waren unerträglich. Die Sonne stand milchig weiß über dem Tal. Sie spannten eine Plane zwischen den Dächern der beiden Wagen und legten sich im Schatten nieder.
Der Killer herrschte Jahzara an: »Mach uns Tee!«
Jahzara schaute vermeintlich unterwürfig auf den Boden. Ohne die beiden Araber anzuschauen, sagte sie: »Ich habe Kopfschmerzen. Kann Peter mir eine Tablette geben?«
Der Killer starrte sie verächtlich an, überlegte kurz, holte eine ihrer beiden Reisetaschen aus dem Wagen und warf sie ihnen vor die Füße. »Danach machst du Tee!«
Peter nickte Jahzara zu. Sie kam zu ihm und kniete mit dem Rücken zu den beiden Arabern nieder. Er sah die Angst in ihren Augen, sah, wie schwer es ihr fiel, nicht den Mut zu verlieren. Peter griff nach dem Beutel mit den Medikamenten. Im Laufe der Jahre hatte er sich eine Standardausrüstung an nützlichen Medikamenten für Reisen in Afrika zusammengestellt. In diesem Moment kam ihm die zündende Idee. Vermeintlich in dem Beutel nach den gesuchten Tabletten wühlend, holte er unbemerkt eine kleine Packung mit osmotischen Laxanzien heraus und schob Jahzara die Tabletten zu. Sie schaute ihn fragend an. Peter erklärte ihr mittels Fingerzeichen, dass sie den beiden Männern jeweils drei dieser Tabletten in den Tee mischen solle. Jahzara nickte. Ein Lächeln huschte über ihr Gesicht. Er zwinkerte ihr zu und bedeutete ihr durch zusammengeballte Fäuste durchzuhalten.
Nach zwei Stunden wusste Peter, dass es ein genialer Plan gewesen war, den beiden Männern Abführmittel in ihren Tee unterzurühren. Der Fahrer hinter ihnen signalisierte durch die Lichthupe, dass sie anhalten sollen. Peter stoppte und blickte in den Rückspiegel.
Der Killer wandte sich um. »Was ist los?«
»Weiß nicht! Vielleicht muss dein Kumpel mal pinkeln. Er sollte aufpassen, dass er dabei nicht im Treibsand versinkt.« Er konnte sich kaum beherrschen, nicht lauthals loszulachen. Der Wagen von Habib war noch nicht einmal zum Stillstand gekommen, da sprang dieser auch schon aus dem Auto und verschwand mit wehendem blauem Gewand hinter dem Heck.
Jahzaras Augen funkelten. Für einen Moment konnte sie ihre Angst verdrängen und spitzbübisch lächeln.
Der Targi sah etwas gequält aus, als er schließlich wieder einstieg. Zehn Minuten später war es der Killer, der ziemlich abrupt »Stopp« brüllte und fluchend aus dem Wagen flüchtete. Sein Problem war bald darauf zu hören und zu riechen.
Peter konnte ein zufriedenes Lächeln kaum unterdrücken. Es war eine skurrile Situation – eine voller Möglichkeiten. Seine Hoffnung stieg. Wenn die Abführtabletten gut wirkten, würden ihre beiden Peiniger schnell erste Anzeichen von Dehydration zeigen. Das konnte in der Wüste lebensgefährlich werden. Der Teufelskreis, der daraus folgte, war kaum zu durchbrechen, denn die Magenprobleme würden durch die extremen Temperaturunterschiede zwischen den kalten Nächten und den heißen Tagen intensiviert werden. Genau damit spekulierte Peter.
Sein Plan schien aufzugehen. Sowohl der Killer als auch der Targi wirkten nach den permanenten Notstopps am Abend beim Aufbau des Lagers ermattet. Sie aßen kaum, verschwanden nach wie vor immer wieder hinter einer Düne und kamen schließlich zu dem Schluss, ihr Durchfall sei auf verunreinigtes Wasser zurückzuführen. Die gereizte Stimmung schlug blitzschnell in blanke Aggression um, als Jahzara den Wassertopf von der Feuerstelle nahm, um erneut Tee zuzubereiten.
»Du dämliche schwarze Hure«, brüllte Habib Mounzer plötzlich, sprang auf und stürzte sich wutentbrannt auf Jahzara. Seine Augen funkelten vor Hass. Hysterisch brüllte er: »Ich habe dir doch gesagt, dass du das Wasser mindestens zehn Minuten kochen sollst! Du Miststück willst uns umbringen! Du machst das absichtlich!«
Peter wurde fast wahnsinnig vor Hass und Ohnmacht. An der Stoßstange angebunden, musste er hilflos zusehen, wie der Targi Jahzara an ihren Haaren hinter sich her durch den Sand zerrte. Sie schrie vor Schmerzen und versuchte, sich zu befreien. Doch bei dem Targi entlud sich die Anspannung des anstrengenden Tages. Er warf Jahzara auf den Rücken und setzte sich auf sie. Sie versuchte, ihren Kopf mit beiden Armen zu schützen, bemühte sich, seiner Umklammerung zu entkommen, und traf dabei seinen verletzten Arm. Der Targi brüllte auf. Mit der unverletzten Hand riss er Jahzaras Bluse entzwei. Gierig starrte er auf ihre Brüste. Sie kreischte panisch, versuchte mit letzter Kraft, ihn von sich zu stoßen, und traf ihn erneut. Der Mann verlor vollends die Beherrschung und holte zum Schlag aus. Plötzlich hallte ein Schuss durch die Nacht. Angstvoll riss Peter seine Augen auf. Er konnte in der Dunkelheit nicht erkennen, wer der Schütze war, nur, wie der Targi entsetzt zu dem anderen Araber starrte. Seine zum Schlag geballte Faust verharrte über seinem Kopf. Das Weiß seiner Augen war durchsetzt von Mordlust und Furcht.
»Lass sie in Ruhe, du Idiot«, herrschte Sahib al Saif den Targi an. »Du baust nur Mist! Wenn du der Frau was antust, wird dich der da bei der nächsten Gelegenheit umbringen. Lass sie in Ruhe. Jedenfalls so lange, bis wir am Ziel sind. Dann kannst du mir ihr machen, was du willst.«
Erst in diesem Moment spürte Peter, dass Blut an seinen Handgelenken herablief. Die Hanfseile, mit denen er an der Stoßstange festgebunden war, hatten sich tief ins Fleisch eingeschnitten. Hoffnungslosigkeit und Schuldgefühle überkamen ihn. Die Idee mit dem Abführmittel hätte Jahzara beinahe das Leben gekostet. Entmutigt ließ er den Kopf sinken.
Der Killer hielt die Pistole noch immer in Richtung des Targi gerichtet. Habib Mounzer schluckte. Langsam erhob er sich und spuckte verächtlich neben Jahzara in den Sand. Er sah, dass der Racheengel es ernst meinte. Peter glaubte, Hass in ihren Augen erkennen zu können. Begannen sie, sich selbst zu zerfleischen?
Jahzara wimmerte leise vor sich hin und krümmte sich auf dem Boden neben dem Feuer zusammen, um ihre Blöße zu verdecken. Ihr Körper bebte vor Scham und Schock. Dann schrie sie in ihrer Muttersprache etwas in die Nacht hinaus. Peter ahnte, was es war. Ihr Blick hatte etwas grauenhaft Dämonisches, Wahnsinniges. Dann verstummte sie. Von diesem Moment an, das war ihm klar, bewegte sich Jahzara auf einem gefährlich schmalen Grat zwischen Leben und Tod. So, wie sie dort im Sand lag, klein, zerbrechlich und erbärmlich schluchzend, war aus der stolzen, selbstbewussten Äthiopierin jeglicher Lebenswille gewichen. Die Angst hatte ihre Seele vereinnahmt.
Die Sonne wollte einfach nicht aufgehen. Peter war der Erste, dem auffiel, dass etwas nicht stimmte. Jahzara lag wie ein kleines Kind zusammengerollt auf einer Luftmatratze vor dem Wagen. Seit gestern war sie weit weg von ihm, in einer anderen Welt. Sie hatte nichts gegessen, stattdessen apathisch ins Feuer gestarrt. So, wie sie sich am Abend zuvor hingelegt hatte, mit Angst einflößend leerem Blick lag sie am frühen Morgen noch immer da.
Peters Augen richteten sich zum Himmel. Er war nicht zu sehen. Alles war milchig gelb-rot-weiß. Kein Laut war zu hören. Statt der Kälte des Morgens wehte ein heißer Fallwind von den nahen Dünen herab durch ihr Lager. Er wollte tief durchatmen, aber die Luft war zu heiß. Schweißperlen rannen ihm über das Gesicht. Seine Kleidung klebte am Körper. Entsetzt blickte er zum Lagerfeuer. Nein, sie waren nicht da! Jeden Morgen waren sie da gewesen, immer waren sie in der Wüste morgens da, die Ameisen und Bienen und andere Insekten, um die wenigen Tropfen Wasser, die beim Teemachen oder Kochen auf den Sand getropft waren, gierig in sich aufzusaugen. In der Wüste rettete und spendete Morgentau Leben. Doch da war kein Morgentau. Irritiert schaute er sich um. Die Sanddünen mussten auf der Windschattenseite morgens etwas feucht sein. Sie waren es nicht. Er wusste, was das bedeutete.
»Weg, nichts wie weg!«, brüllte er.
Der Killer sprang von seinem Nachtlager hoch. Die Pistole in seiner Hand wirkte irgendwie lächerlich. Peter hatte keine Angst vor dieser Pistole. Er hatte Angst vor dem, was da kommen würde.
Auch Habib Mounzer wachte nun auf. Er hatte die Augen noch nicht ganz geöffnet, da erkannte er bereits, was geschehen würde. Angst ließ ihn hastig aufspringen. Sein Blick ging zum Himmel und zu den Dünen. Er schluckte: »Allah, verschone uns! Allmächtiger, zürne nicht mit mir. Hab Erbarmen. Sie ist doch nur eine schwarze Tochter Gogs und Magogs!«
Peter starrte verächtlich auf den Targi. Entsetzen verwandelte dessen Gesicht zu einer Fratze.
Der Targi verneigte sein Haupt demütig und stammelte: »Gog und Magog werden ihre Pfeile in den Himmel schießen und sie werden mit etwas wie Blut an ihnen zur Erde zurückfallen.«
Peter wusste nicht, woher diese Worte stammten. Er hatte nur eine vage Ahnung davon, dass Gog und Magog im Islam für Tod und Verderben standen, ein Zeichen für den Tag des Jüngsten Gerichts waren. Er schrie Jahzara zu: »Wir müssen hier raus! Ein Sandsturm! Wir sitzen in diesem Tal in der Falle. Renn um dein Leben!«
Eine Viertelstunde später fuhren beide Geländewagen mit höllischem Tempo aus dem Dünental heraus, auf einen mächtigen Bergkamm zu. Hinter ihnen, dort, wo sie eben noch gelagert hatten, war die Welt rot. Die Luft sah wie Blut aus, der Sand wie die Hölle. Sie spürten den Wind nicht. Aber sie hörten ihn. Er war hinter ihnen. Und er war schneller als ihre Autos.
Peter raste ostwärts durch die Wüste. Die breiten Pneus gruben sich durch schweren Sand. Der Wagen schlingerte. Ausrüstungsgegenstände, die sie in aller Hektik ins Fahrzeug geworfen hatten, flogen im Inneren umher. Peter konnte die Angst des Killers riechen. Sie drang ihm mit dem Schweiß aus allen Poren.
Jahzara hatte sich ein Tuch über ihren Kopf gezogen und saß regungslos auf dem Beifahrersitz. Sie wollte nicht sehen, was draußen geschah. Wie ein kleines Kind, das sich die Hände vor die Augen hält, wenn es Angst hat, wähnte sie sich in ihrer dunklen Welt unter dem Tuch in Sicherheit, weil in dieser Welt keine Angst existierte. Allerdings auch keine Hoffnung.
Gog und Magog zeigten sich gnädig. Nur für eine Stunde legten sie ein rotes Leichentuch aus Sand, Hitze und Sturm über die Sahara und hetzten dann weiter südwärts. Binnen weniger Minuten zeigte sich die Wüste von ihrer schönsten Seite, mit einer gnädigen Sonne, sanftem Wind und mit allen prächtigen Farbfacetten, die der Schöpfer kreiert hatte. Die beiden Geländewagen standen, hinten geschützt durch einen Felskegel, nahe einer riesigen Düne, die im sanften Licht des frühen Tages so unglaublich schön aussah, dass Peter für eine Augenblick vergaß, wie sie soeben um Haaresbreite dem Tod entronnen waren. Mehr als zwei, drei Kilometer hatten sie auf ihrer Flucht vor den Sandmassen nicht geschafft. Ein Felskegel am Ende des Tals war ihre Rettung gewesen. In seinem Windschatten hatten sie hintereinander geparkt und dessen geharrt, was in der Wüste oft das Verderben brachte. Aber sie hatten Glück gehabt. Dem Jüngsten Gericht waren Atem und Sand ausgegangen bei dem Versuch, sie lebend zu begraben.
Mit den ersten Sonnenstrahlen wollte Peter die Fahrertür öffnen. Es gelang ihm nicht. Der Sturm hatte um den Wagen herum Sand aufgetürmt.
Jahzara zog die Decke von ihrem Kopf. Sie blickte sich um, schaute durch ihn hindurch und schwieg.
Der Killer atmete tief durch: »Puh, das war knapp. Verfluchte Wüste! Wie lange dauert es noch, bis wir ankommen? Ich habe die Schnauze voll. Mir reicht es!«
Peter fiel es schwer, entspannt zu wirken. »Ich habe keine Ahnung, wo wir jetzt sind. Wir werden von der geplanten Route abgekommen sein. Ich brauche das GPS.«
Der Araber reichte ihm das Gerät. Peter wunderte sich, dass es nicht ohnehin schon piepste und die Abweichung vom eingegebenen Kurs signalisierte. Auf dem Display war nichts zu sehen. Er probierte dieses und jenes aus. Doch das Gerät reagierte nicht. Er fluchte. Das war eine der Schwächen des GPS-Systems, die die Europäer veranlasst hatte, ein eigenes satellitenunterstütztes Navigationssystem aufzubauen. GPS war originär von den Amerikanern für militärische Zwecke entworfen worden. Erst später wurde es für kommerziellen Nutzen freigegeben. Aber noch immer nahmen sich die Amerikaner das Recht, das System abzuschalten, wenn sie irgendwo auf der Welt militärische Operationen planten. Das schien heute der Fall zu sein. Peter konnte sich plötzlich des Gefühls nicht mehr erwehren, dass diese Fahrt in die Sahara, die Suche nach der verschollenen Karawane, von ungewöhnlich vielen dramatischen Geschehnissen überschattet war. Sie waren erst knapp drei Tage unterwegs. Ihm schwante jedoch, dass sie kurz davor waren, sich auf ein kaum mehr kalkulierbares Risiko einzulassen. Über allen Bedenken standen seine Ängste um Yvonne und um Jahzara. Aber was sollte er machen? Diese beiden Männer, die selbst schwache Nerven hatten, würden seine Argumente nie gelten lassen. Ihm war nicht klar, was diese beiden von der Karawane wussten. Sie sprachen nicht darüber. Für sie lag wahrscheinlich irgendwo da draußen in den Dünen ein unermesslicher Schatz. Sie waren gierig. Gier erzeugte Unvorsichtigkeit. Das war das Letzte, was die Wüste verzieh. Nein, diese beiden würden sich nicht davon abbringen lassen, weiterzufahren. Seine Intuition sagte ihm, dass sich die Natur gegen sie zu verschwören begann. Die beiden wollten es nicht wahrhaben. Er wusste, dass Jahzara in einem sehr bedenklichen gesundheitlichen Zustand war. Den Killer und diesen Abschaum von Targi interessierte das mit Sicherheit nicht. Also musste er weiterfahren, musste auf Chancen lauern, den Männern zu entkommen. Die Zeit begann ganz langsam gegen ihn zu arbeiten. Zwei Tage, vielleicht drei, dann wären sie im Land der Leere. Was dort auf sie zukommen würde, war offen. Vielleicht würden sie nichts finden! Nicht mal einen Anhaltspunkt. Vielleicht gab es gar keine Karawane mit einer Prinzessin Sahel und einem Schatz. Wer wusste das schon? Es war müßig, darüber nachzudenken. Der Killer besaß eine Pistole. Er gab die Regeln vor. Und er hatte das GPS-Gerät unter Kontrolle. Also mussten sie weitersuchen. Die große Frage war: Würde Jahzara das überstehen? Fest stand, dass diese beiden Araber wohl kaum ohne seine Hilfe wieder aus der Wüste herausfinden würden. Also wären da nochmals einige Tage Zeit, nach Auswegen oder Fluchtmöglichkeiten zu suchen. Nur dafür brauchte er dieses verfluchte GPS-Gerät.
Betont ernst erklärte er dem Killer: »Manchmal ist das Gerät für ein paar Stunden nicht aktiv. Kann auch sein, dass der Sandsturm die Verbindung zu den Satelliten unterbrochen hat. Wir müssen hier warten. Ich weiß nicht, wo wir sind. Wir haben im Sturm die Orientierung verloren. Dieser Schwachkopf von Targi da hinten im Wagen ist für nichts gut! Der kann nur Frauen verprügeln. Ich kenne mich in der Wüste besser aus als er.«
Im Rückspiegel sah er, wie der Targi ebenfalls versuchte, seine Wagentür aufzudrücken. Es gelang ihm nicht. Er drehte die Seitenscheibe herunter und begann, aus dem Fenster herauszuklettern. Peter wandte sich um und schaute ihm zu. Der Killer blickte ebenfalls nach hinten. Der junge Mann zwängte sich mit dem Oberkörper zuerst durch das Fenster und glitt dann langsam in den Sand neben dem Wagen. Er lachte ihnen zu. Es war das Letzte, was der Targi Habib Mounzer in seinem Leben tat. Eine ohrenbetäubende Explosion hallte durch das Tal. Der Schall brach sich wieder und wieder an den nahen Felswänden. Der schwere Geländewagen, in dem der Targi eben noch gesessen hatte, hob sich um fast einen halben Meter in die Luft. Metallteile und Glassplitter flogen durch die Luft und prasselten nieder. Peter duckte sich nach unten weg. Der Killer wurde durch eine Metallstrebe, die durch das Rückfenster schoss, am Kopf getroffen. Qualm und der widerliche Gestank von verbranntem Fleisch lagen plötzlich in der Luft. Dann war es unglaublich leise. Peter hörte nur das Wimmern von Jahzara, die vom Sitz heruntergerutscht war und zusammengekrümmt und bibbernd im Fußraum des Wagens lag, die Hände auf ihre Ohren gepresst.
Peter konnte sich zunächst nicht erklären, was geschehen war.
Seine Ohren schmerzten. Entsetzt richtete er sich auf. Neben dem hinteren Wagen lagen Fetzen eines stahlblauen Umhangs. Der Mann, dem der Umhang gehört hatte, war nur mehr eine klobige Masse aus Fleisch und Blut und versengten Haaren. Das Auto war völlig demoliert. Flammen züngelten aus dem Motorraum. Sekunden später explodierte das Fahrzeug. Weitere Metallteile flogen umher. Es stank nach verbranntem Gummi und nach Tod.
Kaum, dass der Rauch sich verzogen hatte, folgte die nächste Explosion. Peter duckte sich zur Seite weg, beugte sich schützend über Jahzara. Sand prasselte auf das Dach ihres Wagens. Dann war es still. Nur der Wind war noch zu hören. Er fühlte Jahzaras Herz pochen. Sanft strich er ihr übers Haar. Er sah Blut an der Innenseite ihres rechten Schenkels. Auch das noch! Sie hatte ihre Regel! Der Stress, die Todesangst, die Hitze und die Kälte. Ihr Körper befand sich in einem extremen Ausnahmezustand. Ihre Seele auch.
Peter zwang sich, Jahzara seine Verzweiflung nicht spüren zu lassen. Noch nie zuvor in seinem Leben hatte er sich in einer solch hoffnungslosen Lage befunden. Noch nie hatte er sich so schuldig gefühlt. Ja, er war verantwortlich dafür, dass Jahzara sich in dieser dramatischen, lebensgefährlichen Situation befand. Seine Gefühle wurden überlagert von quälenden Gedanken. Er durfte keine Schwäche zeigen. Das Leben von Jahzara und das von Yvonne hingen an einem dünnen Faden. Sein eigenes auch. Er musste einen kühlen Kopf bewahren, musste bei Kräften bleiben, obwohl er immer schwächer wurde. Aber sein Überlebenstrieb zwang ihn, kühl, berechnend – hart – zu sein.
Was war da eben geschehen? Warum war der Targi mitsamt dem Fahrzeug in die Luft geflogen? Was war das kurz danach für eine seltsame, irgendwie gedämpfte Explosion gewesen?
Sein Blick ging nach hinten. Der Killer lag auf der Rückbank, die Hände schützend über seinen Kopf gepresst, zitternd. Peter empfand kein Mitleid. Er erkannte in diesem Augenblick, dass alles, was von nun an geschehen würde, von ihm selbst abhing. Machte er einen Fehler, wäre das der Tod von Jahzara. Und von Yvonne. Das Zünglein an der Waage zwischen Leben und Tod hieß Peter Föllmer.
Minen! Der Gedanke durchzuckte ihn wie Starkstromschlag. Ja, sie waren in ein Minenfeld geraten. Der Gouverneur in Timbuktu hatte es noch erwähnt, dass das Land der Leere in einer Region lag, in dem die Franzosen als Kolonialmacht Landminen vergraben hatten.
»Scheiße! Scheiße!« Peter fluchte so laut, dass der Killer sich aufrichtete. Jahzara kroch aus dem Fußraum hervor. Ihre Augen hatten jeglichen Glanz verloren. Beide schauten ihn fragend an. Er hielt es für besser, ihre dramatische Situation ungeschönt zu offenbaren: »Wir sind in einem Minenfeld! Landminen. Aus dem Krieg der Franzosen. Habib ist auf eine Mine getreten. Die zweite Explosion muss durch ein herumfliegendes Metallteil ausgelöst worden sein. Weiß der Teufel, wie viele von diesen Scheißdingern hier noch im Sand vergraben sind. Vielleicht liegen unter unserem Auto auch welche. Ich weiß nicht, was ich machen soll!«
Sahib al Saif, Racheengel des Al-Sakina-Ordens, hatte in seinem Leben genug kritische Situation erlebt, um nicht zu erkennen, dass seine Mission gescheitert war und er in einer nahezu ausweglosen Situation steckte. In nur wenigen Sekunden kam er zu dem Schluss, dass er seine Position, die des Starken, des Befehlenden, nicht mehr halten konnte. Die Gefahr bestand vielmehr, dass aus dem Täter das Opfer werden würde. Man hätte ihm einen erfahrenen Mann an die Seite stellen müssen, einen, der sich in der Wüste auskannte. Er hätte ihn gebraucht, denn vom Überleben in der Wüste hatte er keinen blassen Schimmer. Aber der Targi Habib Mounzer war kein erfahrener Mann, sondern ein räudiger Hund, ein leichtfertiger Idiot gewesen. Egal, die Seele dieses Versagers befand sich längst beim Shaitani. Er selbst saß allerdings inmitten eines Minenfeldes, angewiesen auf einen Mann, den er umbringen würde, wenn sie jemals wieder hier rauskämen. Aber wie? Ohne diesen Föllmer hatte er keine Chance. Der Kerl hatte viel Erfahrung mit der Wüste. Er war ein exzellenter Fahrer, konnte mit dem GPS umgehen, verstand es sogar, sich an den Sternen, der Sonne, dem Mond, an Felsen und Bäumen zu orientieren. Es war eine schmerzliche Erkenntnis. Aber es führte kein Weg an der Tatsache vorbei, dass er diesen Föllmer brauchte. Von ihm hing sein Leben ab. Ohne ihn würde er die Sahara nicht mehr verlassen können. Was nutzte ihm seine Pistole jetzt noch? Nichts! Was scherte ihn die Geisel in Deutschland? Auch nichts! Es war lächerlich, diesem Mann mit der Pistole oder mit dem Tod seiner Freundin zu drohen. Der wusste doch genau, dass er ihn nicht erschießen würde, weil er ihn zum Überleben brauchte. Der war clever, ein hochintelligenter Bursche, der genau wusste, was er tat. Und noch eine grausame Erkenntnis erschütterte ihn. Selbst wenn er hier rauskommen würde, die Derwische hatten sicherlich längst beschlossen, sich seiner zu entledigen. Die Sufis würden ihn umlegen lassen. Mit Sicherheit! In ihren Augen hatte er versagt. Außerdem, er ahnte das schon lange, war sein Tod fraglos Bestandteil ihres Plans gewesen. Die würden ihn so oder so umlegen. Als Versager oder als unbequemen Zeugen. Sein Leben war nur dem Umstand zu verdanken, dass sie nicht noch einen Mann mit all diesen Details um den Schatz und die Karawane vertraut machen wollten. Er war doch nicht blöde: Den Sufis ging es nicht um irgendeinen heiligen, für die Moslems angeblich so bedeutsamen Firlefanz. Die waren hinter dem Schatz her. Sonst nichts. Würde er diesen Auftrag erfolgreich zu Ende bringen, würden die greisen Derwische vor Freude tanzen – und er wäre ein toter Mann. Nein, überlegte er: Wenn du hier rauskommen willst, musst du deinen Feind zum Freund machen. Zumindest auf absehbare Zeit. Du musst diesen Föllmer dazu bringen, dich nicht mehr als Feind zu sehen. Du musst taktisch klug vorgehen. Jedenfalls so lange, bist du hier aus diesem Glutofen raus bist. Dann wird man sehen. Die Zeit des Jägers würde kommen. Bis dahin galt es, zu überleben!
Der Racheengel räusperte sich. Föllmer und die Afrikanerin starrten ihn an. Demonstrativ nahm er seine Pistole und legte sie zwischen den beiden auf die Konsole.
»Okay, ich gebe auf! Wir stecken alle drei in derselben Scheiße. Es geht um nichts anderes mehr als ums nackte Überleben. Ich garantiere euch, dass ich nichts mehr tun werde, was euch schadet. Bringt mich – uns – hier lebend raus, und ich lasse euch in Ruhe. Ich gebe mich geschlagen. Da liegt meine Waffe. Macht, was ihr wollt. Ihr könnt mich auch umbringen.«
Peters Augen verengten sich zu schmalen Sehschlitzen. Für einen kurzen Moment wollte er dem Killer mit geballter Faust ins Gesicht schlagen. Aber er hielt sich zurück, zwang sich zu taktischem Vorgehen. Dieser verfluchte Araber machte sich vor Angst bald in die Hose und versuchte, ihn einzulullen! Der hielt ihn tatsächlich für so blöde, darauf reinzufallen. Nein, du Dreckskerl! Nicht mit mir. Jetzt diktiere ich die Spielregeln! Aber vorher brauche ich Genugtuung. Hasserfüllt zischte er den Killer an: »Du bist das miesestes Schwein, das mir in meinem Leben jemals über den Weg gelaufen ist. Ein eiskalter Killer bist du. Ein Stück Dreck. Abschaum! Erschießen sollte ich dich. Und zwar auf der Stelle.«
Die Augen des Arabers blitzten auf. Peter wusste genau, was in dessen Kopf vorging. Er genoss es, dass er diesen heimtückischen, skrupellosen – nun aber grenzenlos feigen und hilflosen – Araber in der Hand hatte. Der Killer würde sich eher die Zunge abbeißen, als auch nur ein einziges Wort auf diese Beleidigungen zu erwidern.
Das Blatt hatte sich gewendet.
Der Araber schien fast um sein Leben zu winseln, als er kleinlaut sagte: »Ich war mal Soldat. Ich kenne mich mit Minen aus. Zusammen kommen wir hier raus. Was bringt es dir, wenn du mich jetzt erschießt?«
»Du kennst dich mit Minen aus? Du weißt, wie man diese Scheißdinger entschärft?«
»Ja.«
Peter griff nach der Pistole, lud sie mit geübtem Griff durch, triumphierte, als er an dem Geräusch des Verschlusses hörte, dass tatsächlich eine Patrone in der Kammer war, und hielt sie dem verdutzten Araber an die Stirn.
»Gut, mein Freund. Dann zeig mal, was du so drauf hast! Grab sie aus. Buddel um dein und um unser Leben! Aber vorher schauen wir doch mal nach, ob du in deinem Gepäck nicht noch eine Knarre versteckt hast. Ich traue dir nämlich nicht über den Weg, du miese Ratte!«
Sahib al Saif wäre am liebsten vor Wut explodiert. Mit allem hatte er gerechnet. Aber nicht damit, dass dieser Föllmer auf die Idee kommen würde, dass er noch eine Waffe besaß. Genau das aber war sein Plan gewesen. Er hatte tatsächlich noch eine Pistole in seinem Gepäck. Er wusste, dass Föllmer sie finden würden, entschied sich daher, es lieber gleich zusagen: »Sie ist in dem Rucksack. Eine Pistole. Sonst habe ich keine weiteren Waffen.«
Zehn Minuten später sah sich der Racheengel des Al-Sakina-Ordens in der unrühmlichsten Situation seines Lebens. Peter zwang ihn auszusteigen. Zentimeter für Zentimeter kroch er aus dem Seitenfenster heraus und begann, mit einem kleinen Besen ganz vorsichtig den Sand dort wegzufegen, wo er zuerst mit seinen Füßen aufkommen würde. Er schwitzte Blut und Wasser. Ja, er war in der Armee gewesen und hatte tatsächlich oft mit Minen zu tun gehabt. Doch das war lange her. Und die Dinger, die hier im Sand verscharrt lagen, waren uralt. Er hatte keinen blassen Schimmer, welche Art von Landminen die Franzosen damals verwendet hatten. Er wusste nicht, ob die Minen nach einem bestimmten System oder als Streuminen völlig unkalkulierbar versteckt waren. Sollten sie ursprünglich Lücken in den Gefechtsabschnitten schließen? Oder die Bewegungsmöglichkeiten gegnerischer Kräfte und Fahrzeuge einschränken und schlecht einsehbare Geländeabschnitte sichern? Nichts wusste er von diesen Dingern, absolut gar nichts! Waren es ungelenkte oder Kontaktminen? Besaßen sie Sofort- oder Verzögerungszündung? Waren es Hohlladungs-, Splitter- oder Panzerabwehrminen? Wurde der Zünder nach Entlastung aktiviert? Oder explodierte das Ding unter Druck? Womöglich waren es Erschütterungszünder, die schon in die Luft gingen, wenn man auch nur in der Nähe laut hustete. Verflucht! Es gab viele verschiedene Formen, Arten und Funktionsweisen dieser heimtückischen Minen. Die Entlastungszünder waren für ihn in der Ausbildung Horror gewesen. Er hatte von Fällen gehört, bei denen solche Minen unter den Körpern Schwerverletzter drapiert worden waren. Wurde der Verletzte von Sanitätern oder Kameraden hochgehoben, zerriss der Sprengstoff gleich mehrere Männer auf einmal. Wie also sollte er vorgehen? Wenn diese Minen hier gegen Wiederaufnahme gesichert, also zwei Minen miteinander gekoppelt waren, würde er die eine freilegen und die andere würde ihn Sekunden später in Stücke reißen. Gab es Stolperdrähte zwischen den einzelnen Minen?
»Allah, steh mir bei«, murmelte er. Er hatte Angst. Nichts wusste er von diesem teuflischen Zeug, das da im Sand lag. Nur eins war klar: Es war tödlich. Trotzdem musste er herausfinden, sondieren, was da vergraben lag. Wie hatte er es damals gelernt: »Der Sondierende sollte bei dieser Arbeit flach auf dem Boden liegen und den Kopf so tief wie möglich halten, um bei einer eventuellen Detonation der Mine den größtmöglichen Schutz vor der trichterförmig nach oben gehenden Splitter- und Detonationswelle zu haben.« Na toll! Wie sollte er das machen? Er hing hier mit den Beinen im Wagen, den Oberkörper nach unten. Läge da eine Mine, würde sie ihm den Kopf abreißen! Plötzlich erinnerte er sich an die Worte eines Ausbilders: »Wenn man mit einem Fahrzeug unterwegs ist, das Auto nur über das Dach und dann über das Heck verlassen, wobei man darauf achten sollte, sich nur in der Fahrzeugspur zu bewegen.« Klar doch! Die Fahrzeugspur dokumentierte, dass da keine Minen lagen. Das Dumme daran war nur, dass die Fahrspur nach hinten versperrt war durch den demolierten Wagen. In diese Richtung ging gar nichts. Wenn es einen Ausweg gab, dann führte er nach vorne.
Sahib al Saif dachte angestrengt nach. In der Wüste unterlag das Vergraben von Minen besonderen Kriterien. Wer immer sie versteckte, wollte, dass die Opfer auf den von der Natur vorgegebenen Wegen erwischt wurden. Genau! In der Wüste gab es Pisten, Trampelpfade – und Karawanenrouten. Er kroch zurück ins Auto.
Peter hielt ihm die Waffe direkt vor den Kopf. »Was ist los, warum machst du nicht weiter?«
»Wir müssen logisch vorgehen. Jeder Fehler ist tödlich. Nicht nur für mich! Die Franzosen haben diese Minen mit Sicherheit auf einer alten Karawanenroute platziert. Also sollten wir schauen, dass wir abseits der Route weiterfahren. Zurück können wir wegen des Autowracks nicht.«
Peter nickte zustimmend. Sein Blick schweifte über die Landschaft in ihrem näheren Umfeld. Sie befanden sich in einem weiten Tal, höchstwahrscheinlich ein uraltes Flussbett, das von Ost nach West verlief. Gen Osten stieg das Tal leicht an und wurden rechts und links markiert von zwei Felskegeln. Alles sprach dafür, dass die Karawanenroute zwischen diesen beiden Felskegeln hindurchgeführt hatte. Die Wahrscheinlichkeit war groß, dass die Sandfläche gen Süden nicht vermint war, zumal der Norden durch eine hohe Düne blockiert wurde. Er schaute den Killer an. Dieser schien zu dem gleichen Schluss gekommen zu sein. Er kroch durch das Seitenfenster aus dem Wagen auf die Motorhaube und legte sich, den Kopf über der Stoßstange, auf den Kühler.
Trotz der aberwitzigen Hitze in dem Tal gefror Sahib al Sahif das Blut in den Adern, als er wenige Minuten später zehn Zentimeter von der Motorhaube entfernt eine Mine frei fegte. Sie lag nur wenige Zentimeter unter der Sandoberfläche und wies keinerlei Spuren von Erosion auf. Die Wüste hatte das Metall konserviert. Der Racheengel atmete erleichtert auf. Nein, es war keine Erschütterungsmine. Es war eine ganz einfache Mine, die auf Druck reagierte. Er kannte sie sogar. Der Zünder schaute einige Zentimeter aus dem runden Metallgehäuse heraus. Die Briten hatten sie auch in Ägypten gegen die Deutschen verwendet. Mit diesen Dingern konnte er umgehen. Vorsichtig fegte er mit der Handbürste den Sand von der Mine, griff dann mit beiden Händen unter das Metallgehäuse und hob sie aus dem Sand heraus. Der Zündmechanismus war nicht verrostet und ließ sich leicht herausdrehen. Langsam glitt er von der Motorhaube und stellte sich genau dort hin, wo eben noch die Landmine gelegen hatte.
Nach drei Stunden schweißtreibender, nervenaufreibender Arbeit richtete sich Sahib al Saif auf und schaute nach hinten zu dem mittlerweile gut 20 Meter entfernt stehenden Wagen. Dieser Föllmer und seine Freundin starrten ihn durch die Windschutzscheibe hindurch an. Stolz signalisierte er mit nach oben ausgestrecktem Daumen, dass er es geschafft hatte. Die beiden lächelten sich an. Lacht nur, dachte der Racheengel. Ihr lacht zu früh.
Der Nachmittag verlief während der Weiterfahrt in einer gespenstig entspannten Atmosphäre. Peter hatte die Stunden zusammen mit Jahzara im Auto genutzt, um über seine weitere Vorgehensweise nachzudenken. Jahzara schien sich körperlich zu stabilisieren. Ihre psychische Situation ängstigte ihn jedoch noch immer. Sie wirkte apathisch, hatte allerdings durch die erfolgreiche Minenräumaktion einen gewissen Zweckoptimismus entwickelt. Aber ihr Lachen wirkte gequält, war kaum mehr als ein Versuch, seine Zuversicht zu schüren. Und auch ihm fiel es schwer, positiv zu denken. Er machte sich Sorgen um Yvonne. Das Handy hatte noch immer keinen Empfang. Zu gerne hätte er gewusst, welche Nachricht von Yvonne gekommen war, bevor der Araber ihm das Handy abgenommen hatte. Das GPS-Gerät funktionierte auch nicht konstant. Die wenigen Daten, die er empfing, schienen zu bestätigen, dass sie sich um einige Kilometer südwärts von der geplanten Strecke entfernt hatten. Allerdings verhinderten die landschaftlichen Gegebenheiten, dass er sich weiter nordöstlich hielt, um auf die geplante Route zurückzukehren. Ein mächtiger Gebirgszug zwang ihn, eine Strecke zu nehmen, die sie immer weiter von dem gewählten Korridor wegführte. Zurück konnten sie nicht, ohne Gefahr zu laufen, abermals auf das Minenfeld zu stoßen. Was wäre, wenn? Er hatte also keine andere Wahl, als weiterzufahren. Nur eine vage Hoffnung hielt ihn davon ab, trübsinnig zu werden. Wenn sie die Karawane finden würden, könnte sich daraus eine andere Situation ergeben. Eine, die Yvonne das Leben retten würde.
Peter hoffte nur, dass er diese extreme Anspannung, die schlaflosen Nächte und die körperlichen Strapazen weiterhin aushalten würde. Auch er befand sich längst im Grenzbereich seiner mentalen und physischen Leistungsfähigkeiten. Die Dinge standen nicht gut. Im zweiten Fahrzeug hatten sich neben Nahrungsmittel auch mehrere Kanister mit Wasser befunden. Ihre eigenen Vorräte würden für knapp acht Tage reichen – wenn nichts Unvorhergesehenes geschah. Als erfahrener Wüstenfahrer hielt er sich jedoch an die Regel, stets Reservevorräte an Wasser und Treibstoff zu hüten. Niemand wusste, was passierte. Entsprechend trank er – statt der für seinen Körper notwendigen sechs bis acht Liter Wasser am Tag – nur die Hälfte. Jahzara würde in ihrem Zustand viel Wasser brauchen. Auch für ihre Hygiene. Ihre Regelblutungen waren sehr stark. Sie verlor viel Flüssigkeit. Sorge bereitete ihm auch die Großwetterlage. Die Sonne war nicht zu sehen. Vieles sprach dafür, dass der Wüstensturm noch immer über den nahegelegenen Regionen hinwegfegte. Diese Stürme schwenkten manchmal in nur wenigen Minuten um. Solange die Sonne nur als milchig trübe Scheibe am Himmel zu sehen war, bestand die Gefahr, dass abermals ein Sandsturm aufkommen würde. Ihre Lage war äußerst kritisch.
Am nächsten Morgen jedoch zeigte sich die Sahara von einer wundersamen Schönheit. Sanftes Morgenlicht tauchte die Sanddünenfelder in alle nur denkbaren Pastellfarbtöne. Der Himmel war stahlblau, und die Sonne stand am Horizont in einer Röte und Klarheit, wie Peter sie nur von Tagen nach Stürmen kannte. Die Nacht war fast entspannt verlaufen. Den Araber hatten sie am Heck des Wagens festgebunden. Er hatte sich sehr kooperativ zu verhalten. Aber Peter hatte ihm nicht getraut. Jahzara hatte auf der Rückbank tief und fest und auffallend ruhig geschlafen. Er selbst hatte es vorgezogen, sein Lager auf einer Schaumstoffmatratze auf dem Dachgepäckträger herzurichten. Er liebte das. Kein Getier störte ihn dort oben, wenn er auf dem Rücken liegend das zum Greifen nahe Firmament bewunderte, Sternschnuppen auf ihrer tödlichen, aber schönen Flugbahn gen Erde verfolgte und seine Gedanken treiben lassen konnte. Diese Nächte in der Wüste hatten seine Liebe zur Sahara entfacht. Die klaren Nächte, die frühen Morgenstunden und das späte Nachmittagslicht waren die Entschädigung für brütend heiße, staubige und anstrengende Tage. Dass sie einen solchen Tag vor sich haben würden, schwante ihm bereits eine Stunde nach Abbruch des Lagers. Vor ihnen tat sich ein bis zum Horizont reichendes Meer grau-gelber Sanddünen auf. In der Mitte schimmerte eine weiße Fläche. Salz – ein ausgetrockneter See! Vor zehntausenden von Jahren mochte hier ein wunderschöner See inmitten üppiger Tropenwälder existiert haben. Nun reflektierten die Salzkristalle das gleißende Sonnenlicht und ließen erahnen, dass sich dort in der Mittagssonne ein tödlicher Glutofen entwickeln würde. Es war absolut windstill. Die Temperaturen im Schatten bewegten sich schon am Vormittag auf die 50-Grad-Celsius-Marke zu. Alles was darüber lag, er wusste das, hemmte die Sauerstoffzufuhr und ließ das Blut in den Adern brodeln und gerinnen und den Menschen in einen Zustand des trübseligen Wahns verfallen. Solche Salzebenen hatte er im Süden Tunesiens erlebt. Sie waren wunderschön. Doch es war der weiße Tod. Wer dort nicht aufpasste, wurde von der Sonne ausgedörrt – oder versank in der brüchigen Salzschicht, unter der sich stinkendes, brackiges Wasser verbarg, in dem schon viele für immer und ewig verschwunden waren. Plötzlich ahnte er, wo sie waren, wagte aber nicht, es laut auszusprechen. Das grelle Sonnenlicht zwang ihn, die Augen zusammenzukneifen, als er Jahzara anschaute. Sie hatte fiebrige Augen, überlagert von Schatten der Hoffnungslosigkeit. Ihre kaum hörbare Stimme zitterte, als sie sprach: »Das muss es sein. Das Land der Leere! So sieht der Tod aus. Irgendwo hier draußen liegt sie – die Prinzessin Sahel.«