14.

 

Der Hunger grollte in seinem Magen wie ein böses Tier. Eines, das bereit war zu töten. Seit er vor zwei Tagen mit dem Überlandbus von Gonder nach Aksum gekommen war, hatte der Racheengel des Al-Sakina-Ordens keine richtige Mahlzeit mehr zu sich genommen. Gestern hatte er auf einem Markt wenigstens noch einige Bananen stehlen und das Hungergefühl zumindest in der Nacht dämpfen können. Heute Morgen wäre er beim Versuch, einem Straßenhändler ein Fladenbrot zu entwenden, beinahe erwischt und vom aufgebrachten Mob verprügelt worden. Ihm war übel. Nicht nur, dass er diesen grauenhaften Hunger hatte. Mit der ansteigenden Tageshitze nahm auch sein Durst zu. Aber er hatte Angst, aus einem öffentlichen Brunnen zu trinken. Tags zuvor hatte er aus einem Brunnen getrunken und danach Durchfall bekommen. Hunger, Durst und Durchfall waren zu viel für seinen ohnehin geschwächten Körper. Schwindelgefühlen folgten Magenkrämpfe und Schüttelfrost.

Sahib al Saif konnte sich nicht erinnern, dass er sich jemals zuvor in seinem Leben so schlecht gefühlt hatte. Er kam sich vor wie ein in die Enge getriebenes, verletztes Raubtier. Aus dem Jäger war ein Gejagter geworden. Sein vermeintlich kluger Schachzug, sich als Aussätziger zu tarnen, hatte sich längst als fataler Fehler entpuppt. Die Menschen dieser Stadt trugen kein Mitleid in ihren Herzen. Sie hatten Angst vor einem Aussätzigen in einem zerlumpten Sackleinenkleid. Keinen einzigen Birr hatte er bislang bekommen. Verfluchte Christen! Der Heilige Koran schrieb jedem gläubigen Moslem vor, Almosen zu geben. Zakat, die religiöse Pflichtabgabe, war eine der fünf Säulen des Islams. Aber hier, bei den Christen? Pah! Selbst zu trinken bekam er nichts. Er fühlte sich krank, todkrank! Seine Lage erschien ihm aussichtslos. Bei der gestrigen Flucht vor dem Mob hatte er zudem den einzigen Draht zur Außenwelt, sein Handy, verloren. Abdul Qadir Dschila hatte er zuvor zwar in Kairo noch anrufen können. Seine missliche Lage war denen also bekannt. Aber das Problem war, dass er sich heute Abend telefonisch wieder melden müsste. Die beiden Derwische hatten ihm versprochen, ihn aus Äthiopien rauszuholen. Ohne Handy ging das nicht. Mist, verdammter! Er saß in der Falle. Das unrühmliche Gefühl beschlich ihn, dass Allah ihm zürnte. War der Allmächtige vielleicht zornig, weil er sich zur Sünde mit dieser Christen-Hure in Bahir Dar hatte hinreißen lassen? Oder ließ Allah ihn leiden wie einen räudigen Hund, weil er sich schon mehrere Tage in Folge nicht zu den obligatorischen Gebeten gen Mekka verneigt hatte?

»Allahu-Akbar«, murmelte er, schielte dabei vorsichtig gen Mekka und versuchte trotz des Hungergefühls versöhnlich zu klingen. Er spürte, wie der Wahn sich seiner Zunge bemächtigte. »Barmherziger, verzeih mir elendigem Sünder! Aber wie und wo soll ich mich in dieser mir fremden Stadt der äthiopischen Christen zum Gebet gen Mekka verneigen? Vielleicht lauern die Häscher des äthiopischen Geheimdienstes vor oder gar in den Moscheen.« Die täglichen fünf Pflichtgebete waren ihm unmöglich. Nein, das ginge nicht! Allah würde ihm das verzeihen. Er befand sich schließlich im Krieg. Im Dschihad muss das Gebet der Pflicht des Kampfes weichen. »Übe Nachsicht, Allmächtiger! Sieh, ich habe mein Angesicht in Aufrichtigkeit zu Dir gewandt, zu Jenem, der Himmel und Erde erschuf. Schenk mir al-Sakina, inneren Frieden und Zufriedenheit, auf dass ich dieses Land der Christen lebend verlassen werde.«

Nach dieser Fürsprache fühlte er sich besser. Gottvertrauen würde ihm Kraft geben. Aber er wusste auch, dass er sich nicht ausschließlich auf die Hilfe Allahs verlassen durfte. Er musste etwas tun. So schnell wie möglich!

Der Baum in der Nähe der großen Kirche, unter dem er sich niedergelegt hatte, spendete zur Mittagszeit angenehmen Schatten. Instinktiv spürte er, dass dies ein guter Platz war. Was er suchte, worauf er wartete, wusste er nicht. Doch seine Sinne waren geschärft. Mit lauerndem Blick schaute er sich um. Die Kirche zur Linken war riesig und ziemlich neu. Ein hässlicher, pompöser Betonbau. Nicht weit davon war ein ziemlich unscheinbares Kirchengebäude zu sehen. Eingezäunt von einem hellblau gestrichenen Zaun, verriet eigentlich nur das Kreuz auf der Kuppel, dass es sich um eine Kirche handelte. Auffällig waren allerdings die alten Ruinen und Reste von Fundamenten nahe der Kirche. Misstrauisch taxierte Sahib al Saif die Leute in seinem Umfeld. Nein, die wenigen Einheimischen sahen nicht wie zivile Polizisten aus. Vor der kleinen Kirche standen einige Touristen und fotografierten den grauen Bau mit den zwei vergitterten Fenstern in der Front. Was das wohl war? Er wurde neugierig. Vorsichtig schlenderte er zu einem Hinweisschild und überflog den Text. Sahib al Saif musste grinsen. Hier in Aksum hatte im vierten Jahrhundert die Christianisierung des Landes durch den Mönch Frumentius angefangen. Aber zerstört wurde die Stadt von seinem Glaubensbruder, jenem, den sie damals den »Linkshänder« nannten.

»Schau mal einer an«, murmelte Sahib al Saif vor sich hin, »bis hierher sind meine Glaubenbrüder damals gekommen, um das Wort Allahs zu verbreiten.«

Plötzlich erregte ein Satz auf dem Schild seine Aufmerksamkeit. Er starrte auf die Tafel, konnte nicht glauben, was er da las. Der Imam Ahmed Granj hatte nicht nur diese Stadt zerstört, sondern auch diese Kirche. Und was für eine Überraschung: In dieser winzigen Kirche, die früher mal eine riesige Kathedrale gewesen war, hatte angeblich die Bundeslade gestanden! Sahib al Saif war verwirrt. War diese Bundeslade nicht genau das, was die beiden Sufis suchten? Sie hatten ihm doch gesagt, dass die Wiederkehr dieser Lade den Beginn einer neuen Zeit einleiten, göttliche Gegenwart ausstrahlen und Quelle des Friedens sein würde. Die Juden, so hatten die Derwische sogar behauptet, würden dann die Wahrhaftigkeit des Imam Mahdi anerkennen und die Aufrichtigen unter ihnen sich dann sogar dem Imam anschließen. Wie war das denn möglich? Er suchte etwas, brachte Menschen um und riskierte sein eigenes Leben für etwas, das angeblich hier stand. Der Statthalter des Schwertes wusste nicht so recht, wie er damit umgehen sollte. War das der Grund, warum Föllmer und seine Freundin nach Aksum kommen würden? Was, zum Teufel, war hier los? Je länger er nachdachte, desto mehr überkam ihn der Gedanke, dass die beiden Sufis ihn aufs Kreuz legen wollten. Um was ging es hier wirklich? Was hatte diese Bundeslade mit der Karawane zu tun, von der ihm die Derwische ja auch nichts gesagt hatten?

Der Racheengel fühlte sich plötzlich überhaupt nicht mehr krank. Misstrauen marterte ihn. Der Hunger schien wie weggeblasen zu sein. Diese miesen, alten Sufis! Sie belogen ihn! Sie wussten mehr, als sie ihm sagten. Er musste die Drecksarbeit machen und diese beiden Greise sahnten dann womöglich zusammen mit dem Kunsthändler aus Kairo ab! »Nicht mit mir! Nicht mit dem Statthalter des Schwertes! So nicht«, zischte er völlig außer sich und wollte sich schon wieder in den Schatten des Baumes zurückziehen, als er zwei Touristen bemerkte. Es war ein älteres Paar. Sie war sehr fett, er lief an einem Gehstock. Beide trugen rote Schirmmützen und sahen wie Amerikaner aus. Mit dem Instinkt eines Raubtieres erkannte Sahib al Saif, dass die beiden prädestinierte Opfer waren. Die Fette postierte ihren Mann soeben vor der Kirche und machte mit ihrem Handy ein Foto. Der Racheengel war hoch konzentriert. Ein Handy! Hilflose Greise! Kaum keimte die Hoffnung in ihm, als die Frau wenige Schritte zur Seite ging, das Handy in ihre an einem Zaum hängende Handtasche steckte, einen Fotoapparat hervorholte und zurück zu ihrem Mann watschelte.

Sahib al Saif erkannte sofort seine Chance. Mit schnellen Blicken prüfte er sein Umfeld. Kein Polizist, kein junger Mann, der ihm hinterherrennen würde. Er atmete schnell. Ohne zu zögern, schritt er erst langsam, dann immer bestimmter auf die Handtasche zu. Dann hetzte er los. Zehn Schritte, noch fünf – ein schneller Griff. Und ein rascher Blick: das Handy und eine Geldbörse. Als er mit der Handtasche der alten Touristin in der Hand losrannte, jubelte er innerlich. Geld – ein Handy. Die Rettung! Allah hatte sein Flehen erhört, hatte ihm zwei dumme, reiche und behäbige Christen als Opfer geschickt. Allahu-Akbar!

 

Abba Giyorgis war der lustigste Priester, den Peter je kennen gelernt hatte. Er musste um die siebzig Jahre alt sein und trug eine Hornbrille mit Gläsern so dick wie ein Vergrößerungsglas. Er kicherte permanent. Der Schalk saß dem Ältesten des Klosters Tana Cherkos im Nacken. Kaum hatte das Boot beigedreht, war Abba Giyorgis mit seinen beiden Mitbrüdern an Bord gekommen. Zunächst begrüßte er Seyoum auf vertraute Weise, konnte sich jedoch beim Anblick von Jahzara ein keckes »Oh, Herrgott, beschütze unsere Seelen! Die Sünde wandelt über die Meere, um uns zu versuchen« nicht verkneifen. Jahzara lächelte gequält. Gedankenverloren saß sie in der Kajüte und beobachtete, wie die Bootskapitäne der beiden Schiffe fachsimpelten. Nach einem kurzen Wortwechsel wurde entschieden, dass das Boot der Mönche sie zurück nach Bahir Dar schleppen würde.

Peter versuchte zu intervenieren: »Wir sind nicht weit vom Kloster Tana Cherkos, aber sehr weit von Bahir Dar entfernt. Warum fahren wir nicht zum Kloster, das geht schneller?«

Abba Giyorgis schüttelte seinen Kopf. »Solche Sandstürme, wie ihr ihn erlebt habt, sind zu dieser Jahreszeit keine Seltenheit. Der heimtückische Wind dreht blitzschnell. Das wäre zu gefährlich!«

Peter horchte auf. »Wieso haben nur wir den Sturm erlebt? Ihr seid direkt durch diese Sandwand hindurch auf uns zugefahren. Ihr müsst doch mittendrin gewesen sein?«

Die beiden anderen Mönche, zwei dünne Gestalten mit flatternden Gewändern und missmutigen Blicken, schauten sich verwundert an.

Der Abt druckste verlegen herum, schielte dann zu Jahzara und scherzte zweideutig: »Wir Mönche sind manchmal so weit entfernt von den weltlichen Dingen, dass unser Blick getrübt ist für die Schönheiten und Naturgewalten dieser Welt. Was das eine Auge sieht, entzieht sich oft dem Blick des anderen. Wir jedenfalls haben nur geahnt, dass dieses Unwetter aufkommt. Erlebt haben wir es nicht. Die See war ruhig, die Sonne schien. Allerdings hatte ich heute Nacht einen seltsamen Traum, eine Vision. Da war ein Mann ohne Gesicht. Er schien über dem See zu schweben und türmte mit seiner linken Hand die Fluten des Tanasees zu riesigen Wellen auf. Das hat mich sehr nachdenklich gemacht. Weil uns dann heute Vormittag auch noch die Zeichen der Natur sagten, dass ein Unwetter aufziehen würde, hielten wir es für besser, euch entgegenzufahren, um euch zu warnen. Weißt du, wir haben ein Erdhörnchen bei uns im Kloster. Lange bevor ein Unwetter aufzieht, wird es extrem unruhig und versteckt sich in seiner Höhle. Es weiß oder spürt Dinge, von denen wir nicht mal wissen, dass sie existieren. Das Erdhörnchen hat uns dazu angehalten, euch zu Hilfe zu eilen.«

Jahzara hatte den Worten des Mönches aufmerksam gelauscht. Schon seit geraumer Zeit machte sie sich Gedanken, wie all diese geheimnisvollen Geschehnisse der letzten Zeit zu deuten seien. Was in den letzten Wochen geschehen war, konnte rational nicht mehr erklärt werden. Sie war zu sehr in den traditionellen Denkweisen ihres Volkes verhaftet, um nicht an überirdische Kräfte, an Geister und Dämonen zu glauben. Dämonen waren für sie engelsgleiche Geschöpfe Gottes, die nicht an Räume und menschliche Welten gebunden waren.

Eine ebenso große Bedeutung hatte die Vorsehung im Denken ihres Volkes. Vorsehung, das war sie schon als Kind gelehrt worden, steuert das irdische Dasein. Vorsehung, so hatte ihre Großmutter gesagt, »ist eine zweite, eine parallele Kraft. Unser Leben auf Erden ist kaum mehr als der ewige Kampf zwischen diesen beiden Kräften«. Davon war auch Jahzara fest überzeugt. In den letzten Wochen hatte sich das bestätigt. Seit gestern war sie nicht mehr von dem Gedanken abzubringen, dass überirdische Kräfte ihr Leben begleiteten. Peter hatte ihr von dem Traum des greisen Mönches erzählt. Nun schien es, als habe auch dieser Mönch einen ähnlichen Traum gehabt. Da war der Mann, der Linkshänder, der beiden erschienen war. War es der Araber, der ihr seit Venedig folgte? Dann dieser Sturm! Hatten überirdische Kräfte sie von einem Besuch der Insel Tana Cherkos abhalten wollen? Nur hier, in diesem Kloster, wusste man von der geheimnisvollen Karawane. Und wahrscheinlich auch von der Bundeslade. Hoffentlich würde dieser Abba ihnen davon erzählen.

Abba Giyorgis begann schon nach einer Viertelstunde Boostfahrt zu plaudern. Er sprach so offen, dass Peter Jahzaras Vater fragte: »Wieso erzählt er uns das alles? Wir sind doch Fremde für ihn.«

»Nein, Peter, wir sind keine Fremden für ihn«, antwortete Seyoum. »Das Band der Ahnen, das uns verbindet, ist die Basis für das Vertrauen, dass Abba Giyorgis in mich und in Jahzara hat. Was er uns erzählen wird, ist über viele hundert Jahre ein wohlgehütetes Geheimnis gewesen. Du solltest wissen, dass Tana Cherkos unter den mehr als zwanzig Klosterinseln des Tanasees diejenige ist, um die sich die meisten Legenden ranken. Die Heilige Familie soll hier auf der Flucht von Palästina nach Ägypten hundert Tage geruht haben. Hier wird ein Halsband aufbewahrt, dass der Jungfrau Maria gehört haben soll. Auf dieser Insel soll sogar die Bundeslade versteckt worden sein, nachdem Menelik I. sie aus Jerusalem entwendet hatte. Azarius, der Enkel des Hohepriesters Zadok aus Jerusalem, der die Bundeslade hierher begleitete, liegt ebenfalls hier begraben. Es gibt noch andere für unsere Religion bedeutsame Geschehnisse, die mit Tana Cherkos in Verbindung gebracht werden. Du siehst also: Abba Giyorgis wacht auf dieser Insel über mehr als 2000 Jahre Geschichte unseres Landes. Es gibt keinen besseren Ort in Äthiopien, um über die Geschehnisse zu reden. Ich hoffe, du bist dir im Klaren darüber, welches Vertrauen wir dir alle entgegenbringen.«

Peter schwieg. Seine Blicke folgten Jahzara, die sehr anmutig auf den alten Abt zuging und sich vor ihm niederkniete. Demütig senkte sie ihren Kopf, ergriff mit beiden Händen die Hand des Abtes und drückte sie lange gegen ihre Stirn.

Wieder einmal wurde ihm bewusst, dass hier in Jahzara all die Dinge zum Leben erwachten, die sie so ungewöhnlich und anders machten. Ja, Jahzara trug unantastbares afrikanisches Gedankengut und eine afrikanische Gefühlswelt in sich. Eine, die völlig anders war und nie die seine sein konnte. In diesem Moment war sie ihm unglaublich nahe und doch so weit weg.

Während die beiden Boote nebeneinander Richtung Bahir Dar tuckerten, begann Abba Giyorgis zu erzählen: »Die Welt verändert sich. Viele Jahrhunderte hindurch waren wir Mönche der Klöster hier am See die Hüter allen Wissens. Niemand interessierte sich wirklich für uns. Seit einiger Zeit kommen aber immer mehr Fremde ins Land. Meistens sind es ehrliche, wissbegierige und sehr gläubige Besucher, die erkennen, welch große Rolle unser Land bei der Entstehung des Christentums gespielt hat. Doch es mehren sich auch die Zeichen und Hinweise, dass Menschen, die vielleicht Arges im Sinn haben, sich für unsere Inseln interessieren. Da gibt es einen Pater aus Jerusalem. Er gehört zur Benediktinerabtei Dormitio. Vor langer Zeit schon ersuchten erlauchte Männer vom Vatikan in Rom unseren Patriarchen, diesen Pater Benedikt bei einem bedeutsamen Forschungsprojekt zu unterstützen. Sogar der ehrwürdige Nabura Ed, Bischof unserer heiligen Stadt Aksum, wurde um Hilfe ersucht. Dieses Ansinnen aus Rom beunruhigte uns allerdings mehr, als dass wir es als Ehre empfanden. Die Verbindung zwischen der römisch-katholischen Kirche und den Christen Äthiopiens ist nicht immer sonderlich gedeihlich gewesen.«

Der Mönch schwieg eine Zeit lang und blickte hinaus auf den Tanasee, der im Licht des frühen Nachmittags friedfertiger denn je wirkte.

Jahzara schaute zu Peter. Hatte er bei diesen Worten des Abbas die gleichen Gedanken wie sie? Bei dem erwähnten Pater Benedikt handelte es sich ohne Zweifel um jenen Pater, der Zugang zum Sion-Dossier in Lissabon gehabt hatte. Und nun tauchte er hier in Äthiopien auf! Peter nickte ihr unauffällig zu. Mit seinem über den Mund gelegten Zeigefinger signalisierte er ihr, dass es besser sei, den Mönch nicht zu unterbrechen.

Abba Giyorgis holte tief Luft und sprach dann weiter: »Rom mochte uns nie. Und Rom mag uns noch immer nicht. Sie, die das Zölibat verteidigen, mögen nicht, dass unsere Priester vor der Weihe verheiratet sein müssen; sie mögen nicht, dass wir jüdisches Brauchtum als festen Bestandteil unseres Glaubens sehen; sie verurteilen es, dass wir nur eine Natur Christi, die göttliche, anerkennen. Nie haben sie verziehen, dass wir die Beschlüsse des Konzils von Calzedon nicht anerkannt haben. Eigentlich, das müssen wir bei aller Ehrfurcht vor dem Heiligen Vater in Rom sagen, gab und gibt es nicht gerade sonderlich viel Christenliebe zwischen Rom und Addis Abeba! Deswegen wundert es uns schon sehr, dass wir jetzt um Unterstützung für einen Pater gebeten werden, der sich mit den Geschehnissen lange vor jenen, die euch interessieren, beschäftigt. Argwohn leitet unsere Herzen, wenn es um diesen Pater Benedikt geht. Das Seltsame ist: Er müsste sich eigentlich schon längst gemeldet haben. Wir haben ihn dieser Tage erwartet. Aber er kam nicht! Wenn er noch auftauchen sollte, werden wir ihm zuerst erzählen, wie unsere Vorfahren Gastfreundschaft praktiziert haben. Willkommen war bei uns in Aksum, Lalibela, in Abessinien, Äthiopien oder wie immer auch unser Land von euch Europäern im Laufe der Jahrtausende genannt wurde, jeder. Aber nicht alle, die da kamen, haben sich auch wie Gäste verhalten. Wer versuchte, uns zu bestehlen, uns übel nachredete oder gar Verschwörungen gegen uns initiierte, den haben wir bestraft, indem er für immer und ewig unser Gast bleiben musste. Wir verwehrten ihnen die Heimreise, gaben ihnen jedoch Haus und Weib und gestalteten ihr Leben sehr angenehm. Wir haben es nicht so wie die Herrschenden in Rom, Venedig, Lissabon oder Madrid gemacht. Unsere Abgesandten, die wir dorthin schickten, immer und immer wieder, hoffend, dass unser Ruf nach Hilfe von christlichen Brüdern erhört werden würde, diese Abgesandten sind spurlos verschwunden. Vielleicht wurden sie umgebracht! Wir haben sogar mal Boten zum Papst nach Rom geschickt, ihn gebeten, uns im Kampf gegen die Ungläubigen beizustehen. Bis zum Patriarchen von Alexandria sind sie nachweislich gekommen. Dann aber verschwanden sie spurlos auf dem Weg von Alexandria nach Rom. Seltsamerweise auf einem Boot, das unter den Segeln der Kurie das Mittelmeer durchquerte. Die Boten verschwanden, die Nachricht verschwand. Damit sank unsere Hoffnung auf die Hilfe unserer Christenbrüder. Und wir wurden misstrauisch!«

Abba Griyorgis musste abermals tief Luft holen, dann setzte er fort: »Später haben wir Gäste, von denen wir wussten, dass sie uns nicht wirklich wohlgesinnt waren, in unserem Reich behalten. Das war so mit einem Italiener namens Pietro Rombulo, der siebenunddreißig Jahre am Hofe unseres Kaisers David verbrachte. Und so war es mit einem sicherlich auch euch bekannten Mann: mit Francisco Álvares. Er war ein Franziskaner – und ein Spion des Heiligen Vaters aus Rom! Auf einem Schiff der Portugiesen war er angereist. Wir gaben ihm, unserem christlichen Bruder, was er benötigte, erzählten ihm, was er wissen wollte – behandelten ihn wie einen Freund. Dann aber wurden wir gewahr, dass er alles, was er erfuhr, die Stärken unserer Heere und die Schwächen unserer Herrscher, aufschrieb. Wir gelangten in den Besitz von Dokumenten, die Francisco Álvares mit sich führte. Daraus konnten wir ersehen, dass machthungrige Männer in Rom einen hinterlistigen Plan ersonnen hatten, um unser Reich in den Abgrund zu stürzen. Dieser Álvares war Teil dieser Intrige. Also durfte er sieben Jahre lang nicht unser Land verlassen. Alles, was er ausspioniert und niedergeschrieben hatte, lag lange Zeit in einer Truhe hier auf Tana Cherkos. Es verschwand vor vielen Jahren spurlos. Niemand weiß, wer es gestohlen hat. Es kann nur ein Besucher gewesen sein. Doch ich glaube, diese Notizen sind es, die jetzt die wundersame Aufmerksamkeit so vieler Fremder auf sich ziehen. Vielleicht kommt dieser Pater Benedikt aus Jerusalem nur wegen dieser Aufzeichnungen. Und vielleicht erklärt sich so auch das Interesse einiger Araber aus Kairo, die sich schon vor mehr als einem Jahr mit höchst fadenscheinigen Argumenten hier nach Francisco Álvares erkundigt hatten.«

Bei der Erwähnung der Araber schauten sich Peter und Jahzara fragend an. Der Abba redete indessen weiter.

»Wahrscheinlich rührt daher auch mein Traum der letzten Nacht. Ich spüre, meine Freunde, dass Dinge geschehen, die den Sturm des Wandels über unser Land fegen lassen werden. Ich ahne, dass es besser ist, Menschen, denen wir vertrauen können, davon zu erzählen, bevor Hab- und Machtgier die Wahrheiten für immer verschleiern. Das, Jahzara, ist der Grund, warum ich dir – euch all das erzähle. Du bist mir, deinem Vater und deinen Vorfahren verpflichtet. Der Geist der Ahnen wird dir Weisheit und Ehrlichkeit auferlegen. Das Blut jener Prinzessin Sahel, die einst hier am Tanasee aufbrach in ferne Länder, um uns vor den Horden der Moslems zu retten, strömt in unser aller Blute. Vollende, was Prinzessin Sahel nicht gelang.«

Peter sah, wie Jahzara die Tränen kamen. Sie schluchzte ungehemmt. Der Abba tat so, als sei ihm eine Fliege ins Auge geflogen, um zu verschleiern, dass die Tränen Jahzaras ihn rührten. Die beiden Bootsführer stierten ostentativ auf den See hinaus.

Es dauerte lange, bis Jahzara sehr leise zu sprechen begann: »Im fernen Italien, in einem Kloster namens San Francesco del Deserto, sind unlängst zwei Franziskanermönche umgebracht worden. Einer dieser toten Mönche hat uns vor seinem Ableben sensationelle Dokumente zukommen lassen. Darunter eine alte Landkarte und Teile eines sehr alten Buches. Darin wird von einer geheimnisvollen Karawane von Äthiopien quer durch die Sahara berichtet. Bislang wussten wir nicht, wer der Verfasser dieser Texte war. Jetzt, nach all dem, was du uns erzählt hast, ahne ich es: Es war Francisco Álvares! Also der Mann, dem ihr als vermeintlicher Spion des Papstes sieben Jahre lang die Heimreise verwehrt und seine Manuskripte zurückgehalten habt. Ein Franziskaner! Erst viele Jahre nach seiner Rückkehr nach Europa veröffentlichte man in Lissabon seinen Reisebericht unter dem Titel Verdadeira Informação das Terras do Preste João das Índias. Allerdings nur eine gekürzte Version. Ich denke, es waren Gedankenprotokolle, mehr nicht. Das Original tauchte nie in Europa auf. Es galt als verschollen. Wir wissen nun, warum. Es lag hier im Kloster Tana Cherkos unter Verschluss. Ehre gebühre den Toten! Aber ich ahne, wer dieses Original zuletzt besessen hat: der ehemalige Franziskanermönch Charles Bahri. Woher er das Originalmanuskript von Francisco Álvares hatte, weiß ich nicht. So, wie ich auch nicht weiß, ob all das stimmt, was in dem Dossier geschrieben steht. Nur du, ehrwürdiger Abba Giyorgis, kannst uns helfen, unsere Vermutungen zu Wahrheiten werden zu lassen. Was geschah vor 600 Jahren hier am Tanasee? Ich denke, wir müssen uns beeilen. Es gibt, wie damals, auch heute Menschen, die aus anderen, sehr niedrigen Beweggründen nach der Wahrheit suchen. Christen wie Moslems. Dazu könnte auch der Pater aus Jerusalem gehören. Er gehört dem Orden Hagia Maria Sion an. Den gleichen Namen trägt seltsamerweise unsere heilige Kirche Maryam Sion in Aksum. Und das Sion-Dossier! Diese Namensgleichheit ist sicherlich kein Zufall! Und da sind auch noch die Araber. Diese Leute sind skrupellos, schrecken sogar vor Mord nicht zurück. Doch ich lasse mich nicht mehr aufhalten. Gott wird uns beschützen. Und du, Abba Giyorgis, kannst uns helfen. Ohne dich wird der Staub der Vergangenheit und des Vergessens nicht nur die verschollene Karawane zudecken, sondern auch den Tod unschuldiger Menschen unaufgeklärt lassen.«

Peter versuchte, seine Ergriffenheit zu unterdrücken. Zum ersten Mal nach dem Tod seiner Frau hatte er das Gefühl, weinen zu können. Was und mit welcher Herzenswärme Jahzara soeben resümiert hatte, rang ihm grenzenlose Hochachtung ab. Er war begeistert von ihr, schätzte ihren Sachverstand, bewunderte ihre analytischen Fähigkeiten.

Abba Giyorgis rieb sichtlich aufgewühlt seine Handflächen gegeneinander. Die Sonne ließ seinen ohnehin lebhaften Augen einen eigentümlichen Glanz angedeihen. Die Brise des späten Nachmittags fuhr ihm durch seine wenigen Haare. Ihm war anzusehen, dass ihn Gewissenskonflikte plagten. Ungelenkt winkte er die beiden anderen Mönche herbei und flüsterte ihnen etwas zu. Ohne ihre Blicke zu erheben, gingen sie zum Bug des Bootes, ließen sich dort nieder und hielten sich die Ohren zu. Es sah sehr lustig aus.

»Was hast du den beiden gesagt?«, fragte Seyoum. Es fiel ihm schwer, angesichts der beiden Mönche nicht zu lachen.

»Ich habe ihnen gesagt, dass der Zorn des Herrn ihnen die Fähigkeit zu hören nehmen wird, wenn sie ihre Ohren nicht verschließen. Was der eine hören soll, muss nicht das Gewissen eines anderen belasten. Meine beiden Brüder sind sehr schlichte Menschen. Es ist besser, wenn sie später sagen können, dass sie von alldem nichts mitbekommen hätten. Wenn ich euch jetzt erzähle, was damals geschah, könnte der Allmächtige mit Blitz und Donner und ewiger Verdammnis reagieren. Vielleicht höre auch ich danach nicht mehr. Wer weiß? Wenn er meine Ohren mit ewiger Stille belegt, wäre das zu ertragen. Ich habe so viel Schlimmes in meinem Leben gehört! Jetzt aber sollte ich beginnen, bevor ein göttlicher Blitz mir den Kopf verwirrt und mich zum lallenden Dummkopf werden lässt. Was ich euch erzähle, ist jene Wahrheit, die mir so von den Ältesten des Klosters überliefert wurde und die ich als Wahrheit verinnerlicht habe.«

Abba Giyorgis nahm seine Hornbrille ab und wischte die monströsen Gläser an seinem Gewand ab. Der alte Mönch rang sichtlich nach Luft, schien für einige Momente die Fassung zu verlieren. Für ihn war es wohl ein unrühmlicher Rückblick in eine Zeit, da die Kaiser- und Christenreiche dieses Landes in hoher Blüte gestanden hatten.

Der Alte starrte fast apathisch auf den See hinaus. Er schien seine Erinnerungen aus den Wolken am Horizont herbeizuholen. An die Reling angelehnt, begann er zu sprechen: »Mein Herz wird schwermütig, wenn ich über diese Dinge spreche. Um das zu verstehen, müsst ihr wissen, dass die Beziehungen zwischen den altäthiopischen Reichen und den Moslems früher ungewöhnlich gut waren. Der erste Kontakt des Islams mit Äthiopien fand schon zu Lebzeiten des Propheten Mohammed statt. Einige Muslime, darunter auch die Ehefrau des Propheten, flohen nach Äthiopien, wo sie freundlich aufgenommen wurde. Unser König weigerte sich, die Verfolgten nach Mekka auszuliefern, weil er keinen großen Unterschied zwischen dem orthodoxen Christentum und dem Islam sehen konnte. Ob ihr es glaubt oder nicht, aber in Äthiopien entstand die erste muslimische Gemeinde der Welt außerhalb Mekkas! Ab dem neunten Jahrhundert entwickelten sich sogar einige islamische Fürstentümer bei uns, vor allem im Osten und Südosten unseres Landes. Doch die Herzen derer, denen wir unsere Gastfreundschaft offenbart hatten, wurden alsbald vom Hass geblendet. Sie trachteten danach, unser christliches Reich der Herrschaft der grünen Fahnen des Propheten zu unterwerfen. Sieben Jahrhunderte schon waren die Krummdolche schwingenden Reiter auf ihren Pferden von Osten kommend über Nordafrika hinweggefegt, hatten die Meerenge bei den einstigen Säulen des Herakles überschritten und mit ihren gellenden Schreien sogar die Iberische Halbinsel erzittern lassen, da schwand unserer Herrscher Hoffnung, dass der Allmächtige Gott der Christen den Heeren Allahs Mut und Kraft, ihren Pferden den Atem nehmen würde.«

Jahzara hüstelte leise. Der Alte verharrte kurz, dann erzählte er weiter.

»Der Sultan von Kairo, so trug der Wind die Nachricht nilaufwärts, trachtete allen Christen unseres Reiches nach dem Leben. Wo er auftauchte, färbten sich die Fluten der Flüsse alsbald mit dem Blut von Christen. Geier und Hyänen lebten im Überfluss. Wir schickten Boten durch die Wüsten und das Rote Meer zum Bischof nach Alexandria und baten um christlichen Beistand. Aber alle Boten verschwanden spurlos. Wir sandten Boten nach Lissabon und Madrid. Aber sie kehrten nicht zurück. Wir waren umringt von den Horden Allahs! Die Wege des Herrn, des Allmächtigen, sind unergründlich. Er ließ uns allein mit unseren Ängsten und Hoffnungen. Die Sultane metzelten unsere Krieger nieder, nahmen sich unsere schönsten Frauen, schlugen unseren Edelsten die Köpfe ab und zwangen uns dazu, fünf Mal am Tag zu lügen, dass Allah der einzige Gott sei. Unser Stolz wurde vom Wind in die Wüste geweht. Dorthin, wo es keine Hoffnung gab. Aber genau von dort drangen plötzlich von Karawanenführern Nachrichten durch das Meer aus Sand zu uns, dass Schiffe mit gewaltigen Segeln und einem Kreuz darauf die Meere durchsegelten, um uns Christen von Aksum und Lalibela Beistand zu leisten. Schon bald tauchten tatsächlich jene riesigen Karavellen an unseren Küsten des Eritreischen Meers auf. Männer in Harnischen und bewehrt mit Musketen nahmen den weiten, beschwerlichen Weg von den Küsten ins Landesinnere auf sich. Sie brachten frohe Kunde mit – und Männer in Kutten und mit Bibeln.«

Jahzara hörte dem Alten gebannt zu. Sie kannte die historischen Fakten aus jenen Zeiten. Tatsächlich waren die Portugiesen im Jahre 1493 am Hofe des Negus erschienen, um ein Bündnis mit Äthiopien zu schließen. Unter dem Sohn von Vasco da Gama war es portugiesischen Hilfstruppen sogar gelungen, die islamischen Truppen aus dem Sultanat Adal vernichtend zu schlagen. Dann aber waren dramatische Dinge geschehen.

Abba Giyorgis hatte zwischenzeitlich abermals seine Brille abgenommen. Beim Sprechen hielt er die Augen geschlossen. »Wahrlich, unter den Abgesandten des portugiesischen Königs waren achtbare Männer. Sie trugen Gutes im Herzen. Einer von ihnen, von edelster Abstammung und mächtiger Statur, erwärmte das Herz einer äthiopischen Prinzessin vom Hofe der Kaiserin Eleni mit Liebe. Doch da waren diese Männer aus Rom, allesamt Priester. Sie predigten Nächstenliebe, säten aber Hass. Wieder und wieder verlangten sie, dass unsere Priester und Gläubigen sich Rom unterwerfen sollten. Sie taten es mit so viel Lug und Trug, dass man sie und ihre gespaltenen Zungen in einsame Klöster verbannte, wo sie keinen Unfrieden mehr stiften konnten. Die Welt erzitterte derweil unter dem Trommeln der Hufe der Rösser des Sultans. Sie ritten so unglaublich schnell durch Nubiens Wüsten, dass kein Zweifel bestehen konnte, dass der Satan Gog und Magog, die Fürsten der Unterwelt, am Jüngsten Tag befreit hatte und die Sendboten des Verderbens die Pferde der Muslime auf ihren Rücken gen Süden trugen. Welch Wehklagen erhob sich in unserem Land! Es war der Beginn der dunkelsten Zeit unseres Volkes. Gott hatte unser Land verlassen! Todesangst ließ uns schließlich zu willfährigen Bittstellern werden. Wir verpfändeten unsere Seelen! Denn die Untertanen des Papstes, die wir in einsame Klöster verbannt hatten, lockten uns nun mit Versprechungen und trügerischen Worten. Sie versprachen uns Heere von Kreuzrittern und Legionen gläubiger Ritter, die uns zur Hilfe eilen würden, wenn wir nur bereit wären, unserem wahren Glauben abzuschwören und uns der Allmacht des Heiligen Vaters in Rom zu unterwerfen! Was, so frage ich euch, hätten wir denn damals tun sollen? Wir waren dem Untergang geweiht. Tod und Knechtschaft unter den Arabern oder reuige Unterwürfigkeit, das war unsere Wahl. Die Entscheidung traf unsere Kaiserinmutter, die ruhmreiche Kaiserin Eleni, aus Liebe zu ihrem Volk: Sie willigte ein, sich Roms Forderungen zu beugen. Daraufhin wurden in aller Hast weltliche und sakrale Schätze zusammengetragen und an das Ufer des Tanasees in Sicherheit gebracht. Darunter der Garant für Gottes Gegenwart inmitten des Volkes, Symbol des Bundes Gottes mit uns.«

Jahzara stockte beinahe der Atem. Was der Mönch soeben fast beiläufig und sehr kryptisch formuliert erzählt hatte, war der Beweis! Ja, er sprach von der Bundeslade – dem Garanten für Gottes Gegenwart inmitten des Volkes. Ihr Herz pochte.

Sie wollte Fragen stellen, sah dem Abba aber an, dass er nicht gewillt war, über diese Dinge weiterzusprechen. Der Abt schien sehr nervös zu sein. Es war nicht zu übersehen, dass er nach Worten suchte, um seine Erzählung zu beenden. Sie hatte sich nicht getäuscht.

Der altehrwürdige Abba Giyorgis räusperte sich, stand auf, schritt auf Jahzara zu und sagte: »Mein Herz pocht schneller, als die Ströme des Blutes in meinen Adern dies ertragen. Darum lass mich abschließen und noch jene Fragen, die aus deinen Augen zu mir dringen, beantworten: Alles, woran der Kaiserinmutter und des Volkes Herz damals hing, wurde hierher, in die Klöster des Tanasees, gebracht. Alles! Dort drüben, am westlichen Ufer des Sees, dort, wo der Nil sich tosend seinen Weg durch die Berge in die Freiheit gebahnt hat, genau dort wurde die größte Karawane, die Afrika jemals gesehen hat, zusammengestellt. In unseren heiligen Büchern steht geschrieben, dass das Brüllen der vielen Kamele lauter war als das Tosen der Wasserfälle. Einige wenige portugiesische Soldaten und mehr als 1000 unserer Krieger bewachten das Wertvollste, das unser Volk besaß. Die Karawane trug die Prinzessin Sahel und den portugiesischen Edelmann westwärts durch das Meer aus Sand dorthin, wo die Sonne am Abend verglüht. Dort, irgendwo in einem fernen Land, an einem Ort namens Tendaba, so hatten uns die Portugiesen versprochen, würden Schiffe mit weißen Segeln und roten Kreuzen und mutigen Kreuzrittern auf sie warten, auf dass nach ihrer Ankunft christliche Heere im Abendland aufbrechen und unser Volk retten würden. So war uns berichtet worden. Aber es steht auch geschrieben, dass Gog und Magog der Karawane folgten und dass Lüge und Gier in den Herzen jener Priester mit auf die Reise gingen. Sie kamen nie an.«

 

Stunden später, die Dunkelheit hatte sich bereits über Bahir Dar gelegt, erreichten sie das Städtchen am Ufer des Tanasees.

Peter hatte aberwitzige Kopfschmerzen. Er wusste die Flut der Informationen nicht so recht einzuordnen. Was der Mönch erzählt hatte, wirbelte sein Weltbild durcheinander. Alles, was bislang als Hypothese im Raum gestanden hatte, schien sich zu bestätigen. Die Sensation war perfekt. Es hatte diese Karawane gegeben. Die Prinzessin Sahel ebenfalls. Es war unglaublich!

Was ihn nicht minder intensiv beschäftigte, war seine eigene emotionale Schieflage. Auf eigentümliche Weise fühlte er sich plötzlich mit diesen Menschen, mit Jahzara, Seyoum, mit dem Mönch, den Menschen Äthiopiens – mit Afrika aufs Innigste verbunden. Noch nie hatte er sich mit der Geschichte Afrikas so intensiv und von einem derart anderen Betrachtungswinkel aus beschäftigt. Mochte ein Teil dessen, was Abba Giyorgis in den letzten Stunden erzählt hatte, aus Legenden, Mythen oder vom Hörensagen stammen und vielleicht sogar ein wenig erfunden gewesen sein: Es hatte ihn sehr ergriffen, hatte ihn mit der afrikanischen Sicht der Geschichte dieses Kontinents konfrontiert. Eine Geschichte, die ihm nun geradezu logisch erscheinen ließ, warum viele Menschen Afrikas die Weißen hassten, ihnen misstrauten. Sie waren von ihren christlichen Brüdern im Abendland schlichtweg im Stich gelassen worden. Und selbst wenn der Alte sich bei diesem Thema sehr kryptisch ausgedrückt hatte, so ahnte Peter doch, dass da noch eine ganz andere Sensation lauern könnte: die Bundeslade!

Abba Giyorgis verharrte nochmals am Ufer. »Meine Freunde, der Allmächtige hat unsere Wege zusammengeführt und Er hat vorgegeben, dass sie sich wieder trennen werden. Hier.

Heute. In dieser Welt werden wir uns nicht wiedersehen. Alles, was ich euch erzählte, ist wahr. Ich weiß es, ihr wisst es jetzt. Ich jedoch werde es nie wieder jemandem erzählen können. Gott hat mir in der Nacht des bösen Traums durch ein Zittern meines Herzens mitgeteilt, dass meine Zeit auf dieser Welt bald zu Ende gehen wird. Ich weiß, dass ich bald sterben werde. Mein altes Herz quält mich, flattert wie ein Blatt im Wind. Ich folge dem Ruf des Herrn. Folgt ihr eurem Herzen! Aber etwas wollte ich euch noch sagen: Ihr sucht nach der Karawane, sucht den Priesterkönig Johannes, forscht in der Vergangenheit und seid doch blind für die Zeichen der Gegenwart! Was der Papst damals, zu Zeiten der Kaiserin Eleni und des Negus Lebna Dengel, wusste, weiß auch der Papst, der heute über die römisch-katholischen Christen wacht. Warum fragt ihr ihn nicht selbst? Öffnet eure Augen! Schaut euch doch mal das Wappen eures Papstes an. Wie heißt er noch mal? Benedikt XVI.? Er hat ein wunderschönes Wappen. Fragt ihn, wieso sich in seinem Wappen links oben ein Mohr befindet. Einer mit einer Krone auf dem Haupt. Sie nennen diesen Mohren ›caput aethiopicum‹. Ist das nicht überaus seltsam? Der äthiopische Kopf! Dieser gekrönte Mohr aus Äthiopien ziert das Wappen des jetzigen Papstes. Glaubt ihr nicht auch, das müsse einen Grund haben?«

Peters Gedanken überschlugen sich. Unglaublich! Er hatte das Wappen des neuen Papstes bei seiner Recherche über den Priesterkönig Johannes zwar schon mal gesehen und auch den abgebildeten Mohren mit der Krone auf dem schwarzen Haupt im Unterbewusstsein registriert. Aber er wäre nie darauf gekommen, dass dies etwas mit dem Priesterkönig Johannes zu tun haben könnte. Was sich da abzeichnete, barg eine neue, eine fantastische Dimension! Er wusste, dass man diesen Mohren im Wappen des Papstes auch den Freisinger Mohren nannte, benannt nach Bischof Otto von Freising. Also jenem Bischof, der bereits im 12. Jahrhundert einen gekrönten Mohren in seinem Wappen trug – und der als einer der Ersten galt, die das Abendland mit der fantastischen Geschichte vom Priesterkönig Johannes in Aufruhr versetzten. Wahnsinn! Der Papst der Gegenwart trug denselben gekrönten Mohren in seinem Wappen. Viele Erklärungen für die mysteriösen und tragischen Geschehnisse, die zum Aufbruch einer Karawane gläubiger und verzweifelter Christen von Äthiopien aus gen Westafrika geführt hatten, müssten im Vatikan zu finden sein. Dort fänden sich wahrscheinlich auch Dokumente, die erklären würden, warum vom dramatischen Hilferuf der Kaiserin Eleni an den Papst im Kampf gegen die moslemischen Heerscharen bis zur Ankunft eines Truppenkontingents von vierhundert portugiesischen Musketenschützen in Äthiopien fast zwanzig Jahre vergingen. Zwanzig Jahre! Unvorstellbar! Das war der Untergang von Aksum und Lalibela, der Tod vieler tausend äthiopischer Christen gewesen. Diese Karawane, das stand für Peter fest, war unter größter Geheimhaltung aufgebrochen, um zu retten, was vom einst so ruhmreichen Christenreich in Äthiopien noch zu retten war. Aufgebrochen waren sie, aber nie angekommen. Das Meer der Finsternis hatte sie verschluckt. Dennoch musste es Überlebende der Tragödie gegeben haben, denn nur Überlebende hatten die mysteriöse Karte anfertigen können, die sie von Charles bekommen hatten. Wer waren sie gewesen? Spione des Papstes? Franziskaner?

Als habe der Abt seine Gedanken erraten, wandte er sich nochmals zu Jahzara um. »Was werdet ihr jetzt tun? Wollt ihr aus Wissen Weisheit werden lassen und euren Kindern und vielleicht auch fremden Menschen erzählen, was damals geschah? Wollt ihr zum Papst nach Rom reisen und ihn wegen des Mohren in seinem Wappen befragen? Was, Jahzara, wollt ihr tun?«

Jahzara war verlegen. Der Hinweis des Mönches auf Kinder verunsicherte sie. Peter sah, wie sie für einen Augenblick ihre Fassung verlor. Sie schaute ihn an, blickte zu ihrem Vater, ging zu Abba Giyorgis, umarmte ihn und flüsterte: »Wir werden die Kirche in Aksum besuchen, wo einst die Bundeslade stand. Und danach suchen wir die Gebeine der Prinzessin Sahel und die ihres Mannes. Du hast uns erzählt, dass sie sich liebten und dass es eine große Liebe war. Sahel ist ein wunderschöner Name. Es bedeutet im Arabischen ›Ufer‹ – das Ufer zum Meer aus Sand, dem Meer der Finsternis – zur Wüste Sahara. Also werden wir sie in der Wüste suchen und ihre Gebeine wie die Reliquien einer Heiligen zurück in ihre Heimat, nach Äthiopien, bringen. Und mit ihr die Wahrheit, auf dass sie nach deinem Tod nicht in Vergessenheit geraten werde.«