13.

 

Der Mönch ignorierte die Frage nach seinem Namen und signalisierte mit einem herzergreifenden Lächeln, dass er es als ausgesprochen müßig betrachtete, über solch banale Dinge wie sein Alter zu sprechen. Peter fiel es schwer, das Alter des Greises zu schätzen. Lebenslange Enthaltsamkeit hatte dem Mann das Aussehen einer Mumie angedeihen lassen. Seine Haut schien aus zerknülltem Pergament zu bestehen. Die Wangen waren eingefallen. Reste eines Oberlippenbartes und die spärlichen Relikte eines grau melierten Backenbartes ließen erahnen, dass der Alte früher dunkelhaarig gewesen war. Die Sonne Afrikas hatte ihm Gesichtsfalten so tief wie die Schlucht am Wasserfall des Blauen Nils in sein Antlitz gebrannt. Selbst ein Blick in die Augen des Mannes führte Peter nicht zu der Erkenntnis, ob der Mönch mit diesen leblosen Pupillen überhaupt noch in der Lage war, zu sehen. Das Augenweiß war mit roten und gelblichen Punkten durchsetzt. Die Pupillen hatten jeglichen Glanz verloren und starrten ins Endlose. Ein weißer Turban thronte auf seinem greisen Haupt und akzentuierte die ockerfarbene Filzdecke, die er um seinen Oberkörper geschlungen hatte. Ein Krückstock verlieh ihm Halt und Würde, geschnitzt aus einem Stück Holz, mit Verzierungen am Knauf zu einem Kunstwerk gereift.

Seyoum kniete demütig vor dem Alten nieder, beugte sein Haupt, ergriff die Hand, die der Mönch ihm entgegenstreckte, führte sie zu seiner Stirn und murmelte einige Worte. Peter spürte den grenzenlosen Respekt, den Seyoum vor dem Mönch hatte. Er war ergriffen, schaute vom Gesicht des Methusalems auf dessen nackte Füße. Sie hatten so viele Falten wie die Beine eines 100-jährigen Elefanten. Die Fußnägel waren gelb-braun. Wenn der Gottesmann monoton und leise sprach, dann schien selbst der Wind zu verstummen, damit man den Mönch überhaupt hören konnte. Dieser Mann, der älteste der auf dieser winzigen Insel lebenden Mönche, war ein wandelndes Geschichtsbuch. Wenn er stirbt, dachte Peter, hätte das für dieses Kloster ebenso dramatische Auswirkungen wie ein Großbrand, der die komplette Bibliothek vernichtet.

Wegen dieser Bibliothek waren sie hierhergekommen. Seyoum hatte in Erfahrung gebracht, dass in diesem Kloster Bücher lagerten, die Fragen über den Priesterkönig Johannes beantworten konnten. Fragen, die offensichtlich noch niemals gestellt worden waren. Entsprechend zurückhaltend hatte der Abt zunächst auf die einleitenden Begrüßungsworte von Seyoum reagiert. Erst der mit Birr-Scheinen gefüllte Umschlag, den Seyoum ihm mit dem Hinweis zusteckte, die Spende sei für den Erhalt des Klosters gedacht, entlockte ihm Wohlwollen.

»Gott sei mit euch«, flüsterte er und fügte kryptisch hinzu: »Wer den säuselnden Wind als Gehilfen ruft, tut gut daran, sich in Acht zu nehmen, dass ihn der aufkommende Sturm nicht hinwegträgt.«

Seyoum übersetzte für Peter die merkwürdigen Worte des Mönches, da der Greis kein Englisch sprach. Peter runzelte bei dem Gehörten die Stirn.

Mittlerweile setzte der Mönch mühsam seine rheumatischen Füße in Bewegung und führte sie zum Herzen des Klosters – der kleinen Rundkirche.

Peter war fasziniert. Schon am Landungssteg hatte er geahnt, dass er hier in eine andere, eine uralte Welt eintreten würde. Zwei Boote, geflochten aus Papyrus, lagen am Ufer. Er kannte solche Boote von Bildern des Titicacasees in Südamerika. Auf dem Tschadsee fuhren diese urzeitlichen Boote noch immer. Und er hatte sie auch auf Wandgemälden in Ägypten gesehen. Vor tausenden von Jahren waren diese aus Schilfrohrbündeln konstruierten Barken auf dem Nil gefahren. Am Tanasee galten sie nach wie vor als Transportmittel. Alles hier schien der Zeit entrückt zu sein. Der steinerne Pfad von der Anlegestelle zum Kloster auf dem Hügel war ihm wie eine abenteuerliche Dschungeldurchquerung vorgekommen. Gigantische, mit armdicken Lianen durchwirkte Bäume mit einem Umfang von mehreren Metern überthronten exotische Sträucher, üppig-prächtige Pflanzen und baufällige Bruchsteinmauern. Im Wald roch es modrig-süß. Die Luft schien zu stehen. Gestern Nacht noch hatte er im Bett ein wenig über diese Klosterinsel gelesen. Sie galt als eine der schönsten, weil das Kloster Anfang des 14. Jahrhunderts noch im strengen Stil frühchristlich-äthiopischer Rundkirchen erbaut wurde. Getragen wurde das Schilfdach von Säulen, je eine für einen der zwölf Apostel. Hierher hatten sich Christen bei der Invasion des arabischen Heerführers Ahmed Granj geflüchtet. Und hier waren zwei Söhne des Kaisers Iyasu bestattet worden, einer von ihnen bekannt als »der Verfluchte«. Von Seyoum hatte er erfahren, dass in diesem malerischen Kloster bibliophile Schätze gehütet wurden, deren Wert nicht in Zahlen bemessen werden konnte. Darunter ein Evangeliar aus dem 15. Jahrhundert.

Peters Euphorie wurde allerdings ein wenig gedämpft, weil Jahzara nicht dabei sein durfte. Zu gerne hätte er in diesem Moment ihre glänzenden Augen gesehen.

Aufgeregt folgte er dem Mönch, der auf ein am Hang gelegenes Bruchsteinhäuschen zuwankte. Ihr Weg führte durch den äußeren Wandelgang der von Säulen getragenen Kirche. Die Wand war mit einem fast vier Meter hohen Gemälde geschmückt. Peter verharrte. Seine Gedanken überschlugen sich. Was er sah, ließ ihm eine Gänsehaut über den Rücken laufen. Die menschliche Gestalt, die da in verblichenem Rot, Ocker und Gelb vor Jahrhunderten auf die Lehmwand aufgemalt worden war, schien ihm vertraut. Ja, er kannte dieses in Weisheit und Erhabenheit erstrahlende Antlitz! So ähnlich war der Priesterkönig Johannes auf alten Landkarten und Gemälden dargestellt worden. Bis heute hatte er geglaubt, all diese Abbildungen des Priesterkönigs seien Fantasiegemälde gewesen, entstanden in den Köpfen einfallsreicher abendländischer Maler. Und nun dieses Wandgemälde, tausende von Kilometern von Europa entfernt! Ohne Zweifel: der weiße Vollbart, diese gütigen Augen, das bis zum Boden reichende Gewand eines Königs und Priesters, das deutliche Ähnlichkeit mit den prachtvollen Ornaten orthodoxer Geistlicher hatte. War das ein Abbild des mystischen Priesterkönigs? Hatte er vielleicht sogar hier auf der Insel…?

Der Mönch war zwischenzeitlich weitergegangen. Peter konnte sich nur schwer dem Bann des Wandgemäldes entziehen. Er fragte sich, ob er der Wahrheit über den legendären Herrscher näher war, als er es jemals erwartet hatte. Vielleicht lag in diesem Kloster die Antwort auf eines der großen Mysterien vieler Jahrhunderte. Plötzlich blieb sein Blick an einem Detail des Gewandes hängen. Die Zeit hatte die Naturfarben des Gemäldes zwar verblassen lassen, doch dieses Zeichen war nicht zu übersehen. Es war ein rotes Kreuz in Brusthöhe. Ein Kreuz mit einer höchst ungewöhnlichen Form. Es hatte frappierende Ähnlichkeit mit dem Kreuz, das die Templer einst auf ihren Gewändern trugen. Und es sah dem roten Kreuz, das die Segel portugiesischer Schiffe schmückte, verblüffend ähnlich: dem Tatzenkreuz!

Die Schatzkammer des Klosters war durch schwere Eisenschlösser und daumendicke Ketten gesichert. Seyoum signalisierte Peter durch ein Handzeichen, dass er die Schuhe vor dem Heiligtum ausziehen musste. Der Mönch schlurfte in den winzigen Raum. Auf dem gestampften Lehmfußboden lagen Bastmatten und Teppiche. Der Greis fingerte aus einem der Eisenregale ein monströses Silberkreuz hervor, drückte es gegen seine Lippen, bekreuzigte sich mehrmals und murmelte mystisch klingende Worte.

Respektvoll ging Peter in die Hocke. Seyoum ließ sich neben ihm nieder. Auch seine Augen glänzten. Sie lachten sich an. Ihre Augen tasteten den Raum ab. An den Wänden standen grob gezimmerte Vitrinen neben schnöden Eisenregalen. Sie waren beladen mit überdimensionalen Büchern, schweren Folianten und ledernen Prachtbänden. Dazwischen standen liturgische Gefäße. Einige von ihnen schienen aus Asien, vielleicht aus Indien zu sein. Peter zitterte vor Aufregung. Indien! Auch dort hatte man das legendäre Reich des Priesterkönigs Johannes gesucht. Viele Details in dem Brief des Priesterkönigs hatten Rückschlüsse auf Indien zugelassen. Vielleicht waren diese Gefäße Indizien dafür, dass es zwischen dem indischen Kontinent und Äthiopien Kontakt unter christlichen Brüdern gegeben hatte. Wer weiß, eventuell war der Priesterkönig wirklich so einflussreich gewesen, dass seine Macht über Kontinente hinweg gereicht hatte. Denkbar wäre auch, dass er so mächtig gewesen war, dass es die Vorstellungskraft der Menschen im Abendland schlichtweg überfordert hatte. Aufgewühlt durchsuchte Peter einige der Dokumente, die er mitgebracht hatte. Er fand den Brief, den Charles ihm hatte zukommen lassen. Da stand es: 72 Könige waren ihm tributpflichtig gewesen. Sein Reich erstreckte sich über die drei Indien, durch die Wüste bis zum Aufgang der Sonne. Wenn das eine Indien nachweislich das heutige Äthiopien gewesen war, dann ließ diese Beschreibung den Schluss zu, dass sich das Reich des Priesterkönigs von Nordostafrika bis ins heutige Indien erstreckte. Eine geradezu unvorstellbare These! Das Unvorstellbare war jedoch bei vielen Legenden der Schlüssel zur Wahrheit.

Peter stellte sich die Frage, wie er dem Mönch all diese verwirrenden Informationen in verständlicher Form vermitteln sollte. Dessen Weltbild, das stand zu vermuten, war geprägt von den Dingen, die er hier, auf dieser abgeschiedenen Insel, erlebt und gehört hatte. Die Insel war sein Kosmos. So weise dieser Greis auch sein mochte, er würde kaum mit den geografischen und politischen Gegebenheiten der Welt zwischen dem zwölften und dem 14. Jahrhundert vertraut sein. Die einzigartige Aura ließ Peter erschauern. Er roch, spürte, sog das Geheimnisvolle dieses Kämmerleins mit seinen Stapeln uralter Bücher in sich auf.

Der Abt schloss eine der Vitrinen auf. Das erste, armdicke Buch, nach dem er griff, war so schwer, dass er es kaum halten konnte. Der zweite Prachtband trieb Peter beinahe Freudentränen in die Augen. Es war ein wunderschönes Buch, gebunden in scharlachrotem Leder, mit farbenprächtigen Zeichnungen auf dem Einband. Auch dieses Buch war so schwer, dass der Mönch es nur mit großer Anstrengung tragen konnte. Der Alte setzte sich mühsam auf den Boden, tastete mit seinen Fingern liebevoll über die beiden Lederbände auf seinen Knien und orakelte: »Wer suchet, was es vielleicht nie gegeben hat, findet manchmal Dinge, von denen andere nicht wollen, dass es sie gab. Manchmal kommen so Wahrheiten ans Licht, die niemand wissen will. Was also sucht ihr? Welche Wahrheiten wollt ihr diesen alten Büchern entlocken? Wem nutzt diese Wahrheit?«

Seyoum schaute Peter an. »Peter, nur du bist mit den Einzelheiten vertraut. Also ist es besser, wenn du dem ehrwürdigen Abt die Zusammenhänge erklärst und die Fragen stellst. Ich werde weiterhin übersetzen. Und wir werden uneingeschränktes Vertrauen zu ihm haben müssen. Diese jahrhundertealten Bücher sind ausnahmslos in der altäthiopischen Schrift Ge’ez geschrieben. Nur wenige Menschen können sie lesen, sie deuten. Was er sagt, wird für uns die Wahrheit sein müssen. Ob es stimmt, werden Jahzara und du später oder vielleicht auch nie herausfinden.«

Peter konnte nicht widerstehen. Ohne auf Seyoums Worte einzugehen, fragte er: »Darf ich die Bücher mal in die Hand nehmen? Sie sind wunderbar. Ich liebe alte Bücher!«

Seyoum übersetzte. Der Mönch zauderte, murmelte etwas und tat sehr ernst. »Ja, Peter, das eine Buch darfst du berühren. Nur das eine! Es ist das Mashafa Mestir – das Buch der Wunder. Es wurde vor vielen hundert Jahren auf Ziegenleder geschrieben und mit Farben ausgemalt, die Mutter Natur uns gegeben hat, auf das sie ewiglich erhalten bleiben. In diesem Buch finden sich Schilderungen über Mirakel, die Menschen in ihrer Einfalt nicht verstehen können. Das andere Buch ist eine Abschrift des Berichtes über die Herkunft der salomonischen Kaiser von Äthiopien. Nur Auserwählte dürfen es in die Hand nehmen und es lesen. In diesem Kebra Nagast, dem Ruhm der Könige, wird berichtet, wie die Königin von Saba König Salomon traf und wie die Bundeslade mit Menelik I. nach Äthiopien gelangte. Was darin geschrieben steht, Peter, ist 700 Jahre alt. Es ist die Wahrheit, so wie wir Äthiopier sie sehen und immer sehen werden.«

Der Alte schob ihm das schwere Buch zu. Ehrfürchtig blätterte Peter in den Ziegeniederseiten. Sowohl die handbemalten Bilder als auch die Texte waren in einem ungewöhnlich guten Zustand. Neben biblischen Szenen waren Furcht erregende Tiere, Menschen ohne Kopf, aber mit einem Auge in der Brust, Einhörner, grüne Löwen, Amazonen, Feuer speiende Drachen und andere Fabelwesen abgebildet. Laut des Briefes des Priesterkönigs Johannes mussten das Abbilder jener Wesen sein, die angeblich in seinem Reich gelebt hatten. Peters Herz pochte immer schneller. Solch ein wundervolles Buch hatte er noch nie in seinem Leben anfassen dürfen. Von welchen Wundern darin wohl die Rede war? Vielleicht waren es keine Wunder, sondern reale Geschehnisse, die damals nur über den Verstand der Menschen gegangen waren. So, wie die fantastischen Schilderungen des Priesterkönigs Johannes.

Dankend schob Peter das Buch zurück. Er überlegte, um den richtigen Ansatz zu finden. Was sollte er dem Greis sagen? Es war schwierig, die höchst komplexen Fakten, Vermutungen, Legenden und Mythen in der Kürze der Zeit zu vermitteln. Er entschied sich für eine direkte Frage: »Hat er schon mal was von einem Priesterkönig, einem Presbyter Johannes gehört?«

Der Mönch lauschte den Worten Seyoums. Die Antwort kam unerwartet schnell. »Mein Sohn, ich dachte, du willst mit meiner Hilfe nach Wahrheiten forschen, die noch keiner kennt? Johannes? Das ist kein Mirakel, kein Geheimnis! Dort drüben in der Kirche markiert eine Steinplatte ein Grab. Es ist die Gruft jenes Mannes, der im Jahre 1350 von Shoa kam, um hier am Tanasee die Lehre Gottes zu verbreiten. Dieser Mann hieß Abba Za-Johannes! Abba bedeutet in der amharischen Sprache ›Vater‹ oder auch ›Ältester‹. Du musst wissen, Alter ist bei uns gleichbedeutend mit Weisheit. Alle geistlichen Würdenträger unserer Kirche werden so genannt. Dieser Beiname wurde auch von Kaisern verwendet. Der Begriff ›Presbyter‹ kommt ja aus dem Griechischen. Es bedeutet ›Bevollmächtigter‹, ›Ältester‹ – so wie ›Abba‹. Sprichst du also von dem Johannes, der hier bei uns begraben liegt? Er war ein Heiliger, ein Mann Gottes.«

Peter geriet außer Fassung. Und er schämte sich auch ein wenig. Er hatte diesen Mönch unterschätzt. Nun signalisierte dieser so vermeintlich einfältige Mönch, dass er sogar der griechischen Sprache mächtig war. Aber konnte das sein? War all das, was für ihn und viele Wissenschaftler ein Mythos war, für die Menschen hier faktischer Bestandteil ihrer Geschichte? Nein, unmöglich. Oder?

»Ich denke, wir reden über einen anderen Johannes. Der Mythos vom Presbyter Johannes entstand fast 200 Jahre, bevor euer Johannes hierherkam. Damals erzählte ein indischer Patriarch namens Johannes am päpstlichen Hof von Kalixt II. von seinem mächtigen Christenreich. Wenige Jahre später berichtete der deutsche Bischof Otto von Freising von einem gewissen Johannes, einem König und Priester in Personalunion, der angeblich plante, Jerusalem von den Arabern zu befreien. Also gab es diesen Presbyter Johannes schon lange, bevor der Abba Za-Johannes hier aufgetaucht ist.«

Bevor er weitersprechen konnte, unterbrach der Abt ihn: »Ihr Menschen aus dem fernen Europa seid seltsame Geschöpfe. Bei euch muss alles einen Namen haben. Wundersame Geschehnisse verseht ihr mit Zahlen. Ist es wirklich so wichtig zu wissen, wann etwas geschah? Oder ist es nicht bedeutsamer zu sehen, dass es geschah – und warum?«

Der Alte wies mit seiner Hand durch die Tür nach draußen. »Schau mal, dieser Baum neben unserer Kirche. Er ist wunderschön und mehrere hundert Jahre alt. Er spendet köstliche Früchte und herrlichen Schatten. Es ist ein Baum. Er ist länger hier als ich und wird wohl auch noch meinem Nachfolger Schatten spenden. Warum muss ich seinen Namen, sein Alter kennen? Aber warte, in Kenntnis eures Kommens habe ich mich schon ein wenig kundig gemacht in unseren Büchern. Im Buch der Wunder habe ich Dinge gefunden, die deine Neugier stillen werden. Du solltest aber eines dabei berücksichtigen. Alles, was in der Zeit vor der Zeit des Buches der Wunder geschah, existierte ausschließlich in den Köpfen der Ältesten. Wir glauben auch Dinge, die nicht geschrieben stehen, weil wir wissen, dass es Wunder gibt, für die es weder Worte noch Zahlen gibt, sie also nicht aufgeschrieben werden können. So, und jetzt lass mich nachschauen, ob es in diesem Buch Hinweise auf jenen Mann gibt, den du suchst. Ihr könnt euch in der Zwischenzeit ein wenig im Kloster umschauen. Es ist ein Haus Gottes. Jeder ist willkommen. Nur keine Geschöpfe, die Sünde in sich tragen.«

Nur wenige Schritte von der Bibliothek entfernt blieb Peter stehen. »Seyoum, der alte Mann meinte mit den Geschöpfen, die Sünde in sich tragen, weibliche Wesen – Frauen, richtig?«

»Ja, das ist wohl so. Deswegen durfte Jahzara auch nicht mit auf die Insel.«

Peter schwieg für eine Weile. Ähnliche religiös begründete Befindlichkeiten kannte er aus islamisch geprägten Staaten. Es wunderte ihn, dass es solche Frauen diskriminierenden Traditionen in Äthiopien gab. »Woher kommt diese Tradition, Seyoum? Es ist ein christliches Kloster.«

Seyoum suchte nach Worten. »Weißt du, das äthiopische Christentum birgt jüdische Brauchtümer in sich. Das war schon immer so. Männer werden bei uns wie bei den Juden beschnitten. Diese fest verankerten jüdischen Sitten waren – neben der Frage, ob Jesus eine göttliche wie auch eine menschliche Natur hatte – ein Grund dafür, dass die römisch-katholische Kirche uns als Häretiker brandmarkte. Darüber kann dir aber Jahzara viel mehr erzählen als ich. Was die Frauen betrifft: Die Monatsblutung, die sich aus der Nichtbefruchtung und dem Tod einer Eizelle ergibt, macht die Frau in der Vorstellung des traditionellen Judentums unrein. Einige Christen Äthiopiens sehen das ebenso. Lange Zeit war es bei uns wie auch bei den Juden so, dass Frauen sich bei Gottesdiensten hinter einem Gitter oder einem Vorhang zu verstecken hatten. Das hat sich im Laufe der Zeit gewandelt. Für diesen Priester sind alle weiblichen Geschöpfe mit dem Ruch der Unreinheit behaftet. Und es ist sinnlos, mit diesen alten Männern über solche Dinge zu diskutieren. Diese Insel ist ihr Reich. Hier gelten ihre Regeln.«

Peter hielt es für angebracht, seine persönliche Meinung zu solch mittelalterlich anmutenden frauenfeindlichen Praktiken zurückzuhalten. Doch auch das war erneut ein Beispiel dafür, wie sehr Jahzara von afrikanischen Normen und Werten geprägt war. Einerseits gab sie sich wie eine den europäischen Werten verpflichtete, neuzeitlich orientierte Frau, die sich gegen frauenfeindliche Tendenzen in Europa auflehnte. Andererseits fügte sie sich hier in ihrer Heimat kritiklos solchen Traditionen.

Seyoum stand unter dem alten Baum, den der Mönch erwähnt hatte. Kaum hatte er in seine Tasche gegriffen, um sich eine Zigarette anzuzünden, da kam irgendwo aus dem Schatten der Kirche ein unmissverständlicher Zischlaut. Ein Mönch saß mit dem Rücken an einen Pfeiler gelehnt am Eingang der Kirche und signalisierte durch Gesten, dass Rauchen hier nicht erlaubt sei. Seyoum reagierte wie ein beim Lügen ertapptes Kind. Demütig verbeugte er seinen Oberkörper in Richtung des Mannes, ließ die Zigarettenschachtel wieder in der Jacke verschwinden und flüsterte lächelnd: »Ich glaube, das wäre kein Leben für mich! Keine Frauen, keine Zigaretten. Und ein gutes Glas Wein wird hier wohl auch nicht drin sein. Aber dafür sind sie weise! Ein hoher Preis für Weisheit. Komm, lass uns nachschauen, was der alte Mann gefunden hat.«

Der Mönch wirkte völlig geistesabwesend. Minuten vergingen, bis er zu ihnen aufsah. Er schien beunruhigt.

Seyoum tat sich schwer, seine Worte synchron zu übersetzen. »Wundersame Dinge stehen in diesem Buch geschrieben. Sehr wundersame Dinge! Es sind Ereignisse, die weit vor jener Zeit stattgefunden hatten, da dieses Buch geschrieben wurde. Und ich ahne, dass Dinge geschehen werden, die wie ein unheilvoller Sturm über unsere kleine Insel hinwegfegen werden. Ich habe grässliche Fratzen durch Wolken hindurch auf die Erde herabstarren sehen, Fratzen, die mich ängstigen. So wurden dereinst Gog und Magog in alten Überlieferungen dargestellt: grausame, niederträchtige und blutrünstige Monster, die ihrem Gefängnis entfleucht waren und als Sendboten des Weltunterganges die Herzen aller Gläubigen in Angst und Schrecken versetzten! Und ich habe letzte Nacht einen Traum gehabt, in dem ich einen linkshändigen Mann, einen Araber mit einem bösen Blick, sah. Erst hat er die Wellen des Tanasees mit der Macht des Bösen in einen ewigen Schlaf versetzt und sie dann mit seinem Hass aufgepeitscht. Ich weiß diesen Traum nicht zu deuten. Aber er peinigt mich, weil ich spüre, dass dieser Traum mit euch zu tun hat.«

Peter schielte zu Seyoum. Auch dieser war sichtlich betroffen von den Worten des Mönches. Ein Linkshänder? Ein Araber? Hatte der Mönch von dem Araber geträumt, der ihm und Jahzara seit Venedig wie ein Schatten, wie ein böses Omen folgte? War der Mörder von Charles Linkshänder – so wie der berüchtigte Ahmed Granj, der die Christen Äthiopiens im Mittelalter von Ägypten aus verfolgt hatte? Vielleicht hatte der Alte seherische Fähigkeiten. Peter hatte in Afrika schon öfter von solchen übernatürlich anmutenden okkulten Phänomenen gehört. Anfänglich hatte er das belächelt, dann aber gelernt, dass in diesen Kulturen das Übernatürliche und Übersinnliche, Dämonen und Geister eine nicht zu unterschätzende Rolle spielten. In Afrika geschahen immer wieder Dinge, die die rationale Denkweise eines Europäers sprengten. Niemand zwischen Kairo und Kapstadt fragte danach, warum es geschah. Es geschah. Niemand zweifelt auf dem Schwarzen Kontinent an der Existenz übernatürlicher Kräfte. Dieser Mönch nicht und Jahzara mit Sicherheit auch nicht.

Der Gottesmann starrte geistesabwesend auf das Buch. »Der Allmächtige hat uns nur einen Verstand so klein wie Früchte einer Doumpalme gegeben. Wie soll ich elendige Kreatur dann solch fantastischen Dinge verstehen? Erst dieser Traum. Und nun das, was in diesem Buch der Wunder geschrieben steht. Hier wird von Welten und Wesen erzählt, von denen ich noch nie gehört habe und von denen ich nicht weiß, ob es sie überhaupt gab oder gibt. Und all das soll mit jenem Johannes zu tun haben, dessen Legende euer Herz so laut schlagen lässt, dass selbst ich, der halb taub bin, es hört?«

Peter glaubte zu erröten. Sein Herz schlug tatsächlich unglaublich schnell und laut. Doch das konnte der Mönch unmöglich hören. Die Finger des Greises tasteten über die in Ge’ez verfassten Zeilen. Peter beobachtete ihn. War der Alte blind? Ertastete er nur, was dort geschrieben stand?

Mit monotoner Stimme sprach der Mönch weiter: »Aber was soll’s! Nicht ich suche die Wahrheit, von der ich bezweifle, dass sie den Menschen Frieden und Erlösung bringen wird. Nein, ihr sucht sie. Entscheidet ihr, was ihr glauben könnt, wollt oder glaubt, wissen zu müssen. Ich erzähle nur, was war. Also: Diese seltsamen Dinge begannen zu jener Zeit, da der ruhmreiche König Lalibela vom Allmächtigen den Auftrag bekam, in seiner Königsstadt ein zweites Jerusalem und einen Hügel zu bauen wie jener, auf dem Jesus laut den Evangelien gekreuzigt wurde und den die Juden Golgotha nennen. Das war in der Stadt Roha, die wir heute Lalibela nennen. Der Chronist des Buches der Wunder schreibt, dass König Lalibela sich für diese unvorstellbare Aufgabe der Hilfe von Ferendschis, also von Fremden, bediente, die aus dem fernen Jerusalem kamen. Es waren hellhäutige Hünen mit Brustkörben aus Metall und Hüten, die ihnen auf den Kopf geschmiedet worden waren. Einige von diesen Fremden hatten rote Haare. Sie alle trugen ein weißes Gewand mit einem Kreuz, wie es auch heute noch die Sarkophage bei den Kirchen von Lalibela ziert. Ein solches Kreuz ließ König Lalibela in die Innendecke einer dieser Kirche einarbeiten, auf dass ein jeder Gläubige, der zum Allmächtigen emporschaue, sehen könne, mit wessen Hilfe dieses Wunder aus Fels entstand. Zwölf prächtige Kirchen wurden dereinst in Lalibela dem Wunsche des Allmächtigen entsprechend gebaut. Eine jede ward aus einem einzigen purem Felsen herausgeschlagen.«

Der Mönch hielt inne und blätterte in dem Buch. Peter wagte kaum zu atmen. Was er eben gehört hatte, schien die These von Templern, die nach Äthiopien gereist waren, zu bestätigen. Die Beschreibungen aus diesem Buch waren unmissverständlich: die eisernen Brustkörbe, die Teil der Rüstung waren; die weißen Gewänder mit dem roten Kreuz. War es dasselbe Kreuz, das hier im Kloster die Brust des Mannes auf der Wand zierte? Er harrte weiterer Einzelheiten.

Der Alte schien inzwischen gefunden zu haben, wonach er suchte. »Die Spur dieses ruhmreichen Königs Lalibela und seiner treuen christlichen Glaubensbrüder und Helfer aus Jerusalem verliert sich in jenen dunklen Jahrhunderten unseres Kontinents, in denen eines der ersten christlichen Königreiche des Universums, das von Aksum, unterging und das Wort Gottes nur noch als Echo vergangener Zeiten über die Berge und Täler unseres Landes hallte. Stattdessen drangen aus den Kehlen der Ungläubigen, die unter der grünen Fahne ihres Propheten wie Heuschrecken über unser Land herfielen, schrille Allahu-Akbar-Schreie bis zu den mächtigen Steinsäulen von Aksum, brachen sich an den Felsenhängen von Lalibela und verwandelten die Fluten des heiligen Nils in einen blutgetränkten Strom der Verzweiflung für alle christlichen Völker zwischen Nubien und den Ländern der Zagwe-Dynastien. Dann, so steht es hier im Buch der Wunder geschrieben, eilte plötzlich die Kunde von Männern auf Schiffen durch das Land, deren riesige Segel dasselbe rote Kreuz wie das der rotschöpfigen Ferendschis aus Jerusalem trugen. Diese Fremden schützten ihre Brust durch Lederharnische, hatten Federn auf den Köpfen und Rohre aus Eisen, aus denen der Tod mit Getöse und Qualm hervorbrach. Die Fremden kamen aus der aufgehenden Sonne, erkundigten sich nach dem Presbyter Johannes und fragten, wo seine Heere stünden und wie viele an der Zahl es seien. Noch während diese Fremden unsere Gäste waren, brachten Karawanen, die aus den Ländern der untergehenden Sonne quer durch das Meer aus Sand zu uns kamen, die Nachricht, dass noch mehr Männer mit denselben Federn auf den Köpfen und demselben Kreuz auf den Segeln ihrer Schiffe jenes ferne Meer, in das die Sonne sich nächtens bettet, durchkreuzten und überall verlauten ließen, dass der Apostel Johannes aus seinem Grab auferstanden sei, um die Heere der Gläubigen gegen die Ungläubigen zu führen und die Hure Babylon auszumerzen.«

Peter signalisierte Seyoum, dass er Fragen habe. Bis hierhin hatte er der mystischen Geschichte problemlos folgen können. Offenbar wurde von den Portugiesen erzählt, die einerseits über den Indischen Ozean nach Ostafrika und andererseits von der Westküste Afrikas über den Gambia-Fluss ins Innere des afrikanischen Kontinents vorgedrungen waren. Obwohl der zeitliche Ablauf dieser Erzählungen nicht ganz mit den ihm bekannten historischen Fakten übereinstimmte, so trafen sie im Kern doch zu.

Der alte Mönch reagierte ein wenig ungehalten auf die Unterbrechung. Es schien, als sei auch er von den Schilderungen im Buch der Wunder fasziniert. Der Greis senkte seinen Kopf und lauschte mit geschlossenen Augen den Fragen Peters.

»Sieh mir bitte nach, wenn ich solche Fragen stelle. Aber ich verstehe diese Sache mit dem Apostel Johannes, der aus dem Grab emporstieg, nicht. Ist da nicht Jesus gemeint? Wer oder was ist die Hure Babylon?«

Ein Anflug von Arroganz legte sich über das Gesicht des Greises. »Die Hure Babylon ist eine der biblischen Allegorien für die Gegner der Gläubigen. Gemeint sind also die moslemischen Heere! Und was die andere Frage betrifft: Du solltest bei der Suche nach jenen Wahrheiten, die dich umtreiben, wissen, dass der Apostel Johannes in frühen christlichen Überlieferungen als Presbyter Johannes bezeichnet wurde. In zwei der neutestamentlichen Texte bezeichnet er sich selbst als Presbyter. Die apokryphen Johannes-Akten besagen außerdem, dass der Apostel Johannes sich zwar in sein Grab legte, aber nicht starb, denn er war von Jesus dazu auserkoren, bis zur Wiederkehr Christi unerkannt auf der Welt umherzuwandeln, um dann gemeinsam mit dem Messias die paradiesischen Zustände des himmlischen Jerusalem auf ewig herzustellen. Wie du wahrscheinlich auch nicht weißt, war dieser Johannes der Verfasser der Apokalypse, in der das Jüngste Gericht gegen die Feinde Gottes verkündet wird! Das solltest du aber wissen. Denn jene Männer unter den weißen Segeln mit dem roten Kreuz ließen damals verlauten, dass ein apokalyptischer Erlöserkönig, der sich Presbyter Johannes nennt, gekommen sei, um das Christentum von der Knute der Horden mit den grünen Fahnen ihres Propheten zu befreien. Sie, diese Fremden unter den weißen Segeln, so sagt es das Buch der Wunder, hatten das Unbekannte durchquert, um den erhabenen Presbyter Johannes bei uns zu suchen, um gemeinsam mit seinen Heerscharen die Ungläubigen aus Jerusalem zu vertreiben. So steht es geschrieben!«

Der Mönch schaute Peter nun direkt an. Seine winzigen Äuglein verunsicherten ihn. Noch immer war er sich nicht sicher, ob dieser Mann blind war oder nicht. Vielleicht bewegte er sich nur deswegen so scheinbar sicher, weil er auf dieser kaum mehr als 500 Meter langen Insel längst jeden Millimeter kannte, jeden Schritt tausendfach getan hatte. Vielleicht hatte er den Baum neben der Kirche noch nie in seinem Leben gesehen. Alles, was er wusste, kannte er womöglich nur aus Erzählungen. Las er mit seinen Fingerkuppen, ertastete er die Schriftzeichen? Lebte der Greis in einer anderen, in einer dunklen Welt? Waren seine anderen Sinnesorgane deswegen so geschärft und hatte er deshalb seherische Fähigkeiten?

Als habe der Mönch seine Gedanken erraten, klappte er plötzlich das Buch der Wunder zu. »Mein Sohn, was ich dir jetzt sage, steht nicht in diesem Buch geschrieben. Der Abba des Klosters Tana Cherkos, also des Klosters, das ihr morgen besuchen wollt, hat mir das mal erzählt. Er weiß von den damaligen Geschehnissen sehr viel. Er hat gesagt, dass Äthiopien erstmals in den Briefen des Dominikanermönchs Jordanus als ›Reich des Priesterkönigs‹ auftauchte. Wieso, konnte sich hier niemand erklären. Später wurde dann sogar eine äthiopische Delegation zum Konzil nach Florenz eingeladen. Dort wurden unsere Glaubensbrüder gefragt, ob sie den Presbyter Johannes kennen würden. Sie verneinten, wunderten sich dann aber sehr, dass ihre abendländischen Brüder unseren äthiopischen König weiterhin als Priesterkönig Johannes bezeichneten! Du siehst, das scheint euch Menschen aus Europa eigen zu sein: Ihr müsst allem einen Namen geben! Hat es keinen Namen, könnt ihr nicht daran glauben. Wenn ihr euch nach etwas sehnt, dann heißt diese Sehnsucht plötzlich Priesterkönig Johannes. Und wenn es ihn nicht gibt, dann erfindet ihr ihn oder lasst diesen Titel unserem König angedeihen. So war es wohl damals. Und das Wundersame daran ist, dass alle es glaubten. Denn eure Landkarten wiesen plötzlich ein Regnum Presbyteri Johannis in Nordostafrika auf. Das Konzil von Konstanz erwartete sogar eine Delegation des Priesterkönigs. Wir fanden das alles sehr seltsam, was da geschah. Doch auch in unseren Herzen keimte plötzlich Hoffnung auf, denn die Moslems bedrohten unser Land. Ohne Hilfe konnten wir uns der Ungläubigen nicht mehr erwehren. Was lag da näher, als sich mit den Christen im Abendland zu verbünden? Warum sollten wir deren Illusion, ihren Traum, dass unser König der Priesterkönig Johannes sei, zerstören? Man muss den Glauben der Menschen schüren, nicht zerstören! Wer glauben will, den soll man glauben lassen. Glauben lässt aus Ameisenhügeln Berge und aus einem afrikanischen Christenkönig einen Erlöser werden. Diese Geschichte beweist das.«

Peters Gedanken überschlugen sich. Die Dinge, die der Greis soeben gesagt hatte, verliehen der ganzen Angelegenheit eine völlig neue Dimension. Womöglich hatten sich einfallsreiche Kleriker in Rom eine mystische Geschichte ausgedacht, sie mit biblischen Prophezeiungen ergänzt, um die erschlaffte Bereitschaft der abendländischen Staaten, Kreuzzüge durchzuführen, zu reaktivieren. Dieser scheinbar absurde und doch irgendwie naheliegende Gedanke ließ Peter nicht mehr los. Wenn plötzlich ein angeblich mächtiges Christenreich mit einem Priesterkönig Johannes als Anführer eines gigantischen Heeres im Süden der moslemischen Staaten existierte, würden Europas Herrscher sich im Rahmen einer heiligen Allianz fraglos wieder zu neuen Feldzügen überreden lassen. Wo Hoffnung keimt, gedeiht die Bereitschaft zu neuen Anstrengungen! Ja, so konnte es gewesen sein! Irgendjemand in Europa hatte irgendwann damit angefangen, die äthiopischen Herrscher als Priesterkönig Johannes zu bezeichnen. Nicht als Eigenname, sondern als Titel! Die Äthiopier nannten schließlich ihre Könige und Priester Abba – Ältester. Die Europäer nannten sie Presbyter – was ebenfalls Ältester hieß!

Der Mönch richtete plötzlich seinen Oberkörper auf und lauschte angestrengt. Als habe ihm ein Vogel die Uhrzeit zugezwitschert, sagte er: »Es ist wenige Minuten vor dem Nachmittagsgebet. Ich hoffe, dass ich euch ein wenig helfen konnte, Wahrheiten zu finden. Ob ihr sie mögt, wage ich zu bezweifeln. Vielleicht werdet ihr morgen im Kloster Tana Cherkos mehr erfahren. Dort weiß man, wie Kaiserin Eleni mit den Portugiesen einen Plan schmiedete, unser Land, das Abendland und Jerusalem von den Moslems zu befreien. Was ihr wissen wollt, sind Wahrheiten, die in diesem Buch der Wunder geschrieben stehen – aber zwischen den Zeilen. So wie der Blinde im Dunkeln sehen kann, so kann nur der Weise zwischen den Zeilen finden, was der Glaube dort an Wahrheiten versteckt hat. Aber seht euch vor. Mir geht dieser Traum von Gog und Magog und dem Araber, der das Böse mit der linken Hand lenkt, nicht aus dem Sinn.«

 

Es war eine sehr kurze Nacht gewesen. Er und Seyoum hatten versucht, Jahzara die teils so blumig dargelegten Erzählungen des Mönches in all ihrer Aussagekraft zu vermitteln. Bis nach Mitternacht hatten sie auf der zum See hin gelegenen Terrasse des Tana-Hotels gesessen, hatten Fakten, Thesen und wagemutige Denkmodelle diskutiert. Jahzara hatte sich anfänglich mit Peters sensationeller Vermutung, der Priesterkönig Johannes sei eine Fiktion, eine personifizierte Projektion abendländischen Wunschdenkens oder aber auch eine raffinierte Täuschung Roms gewesen, nicht anfreunden mögen. Doch je mehr Spielraum sie alle ihrer Fantasie gelassen und Fakten lediglich als Orientierungshilfe mit einem gewissen Wahrheitskern betrachtet hatten, desto schneller war bei ihnen die Erkenntnis gereift, dass sich viele Geschehnisse von damals geradezu ernüchternd klar darstellten, wenn man die Rolle des Papstes, der römisch-katholischen Kirche, im Kontext mit den damaligen Gegebenheiten in Europa und im Orient betrachtete.

Rom lag im Zwist mit den abtrünnigen Ostkirchen. Der Patriarch von Byzanz wehrte sich gegen den Alleinvertretungsanspruch des Papstes ebenso wie die weltlichen Kaiser des wiederbelebten Heiligen Römischen Reiches. Die Macht des Papstes bröckelte. Und plötzlich tauchte in Afrika noch ein anderes Christenreich auf: Häretiker, die sich dem Glaubensdiktat Roms nicht beugen wollten. Ihre jüdischen Traditionen waren dem Papst ein Dorn im Auge. Für ihn waren Äthiopiens Christen Ketzer. Fraglos sann er nach Möglichkeiten, wie er diese Ketzer entweder missionieren oder sie als Gleichgesinnte in sein Macht- und Glaubensgebilde einverleiben konnte. Wenn du einen Feind nicht besiegen kannst, dann mache ihn zu deinem Freund!

Seyoum war es schließlich gewesen, der abschließend gemeint hatte: »Vielleicht war der Verfasser des Sion-Dossiers ein Abgesandter, ein Spion des Papstes. Einer, der die Portugiesen bei ihrer Reise nach Äthiopien begleitet hatte, um aus erster Hand nach Rom berichten zu können, wie gefährlich oder auch hilfreich das Christenreich in Afrika für Rom werden könnte und welche wahren Intentionen die Portugiesen bei der Kontaktaufnahme mit dem vermeintlichen Priesterkönig Johannes hatten. Ja, der Papst traute den Portugiesen nicht! Er hatte Angst, dass sich neben Byzanz im Osten, den aufsässigen Kaisern des Heiligen Römischen Reiches im Norden nun auch noch mithilfe Portugals eine Front im Süden der damaligen Welt gegen ihn auftun könne. Der Spion des Papstes sollte herausfinden, ob der Priesterkönig Johannes, wie sie den äthiopischen König nannten, ein potenzieller, unterwürfiger Verbündeter sei. Der Teufel, den du kennst, ist besser als der Teufel, den du nicht kennst, so wird der Papst wohl gedacht haben.«

So hatte Seyoum mit viel Wohlwollen seitens Jahzaras resümiert. Schließlich waren sie alle drei zu der Erkenntnis gelangt, dass der Schlüssel zu den Geschehnissen auf der Klosterinsel Tana Cherkos zu finden sein würde.

 

Das gemietete Boot machte einen recht stabilen Eindruck. Seyoum hatte für reichlich Essen und Getränke gesorgt. Mehrere Stunden, so schätzte er, würde die Fahrt zu der entlegenen Insel dauern. Per Funk war die Insel über ihre Ankunft informiert worden. Die zwei Sicherheitsbeamten, die während der Nacht vor den Zimmern von Jahzara und Peter gewacht hatten, blieben zurück. Die Morgensonne tauchte das Ufer und Bahir Dar in warme Pastelltöne, als sie schließlich ablegten.

Peter empfand eine seltsame Anspannung. Dennoch genoss er die Ruhe des Sees, die herrlichen Ausblicke auf die Uferregionen mit den mehreren tausend Meter hohen Bergmassiven im Hintergrund. Farbenprächtige Vögel begleiteten sie längsseits des Bootes, und eine leichte Brise trieb Federwölkchen von Horizont zu Horizont. So groß hatte Peter sich den See nicht vorgestellt. Er schien ein Meer zu sein. Der sanfte Wellengang machte ihn schläfrig.

Seine Gedanken trieben mit den Wolken am Himmel dahin. Viel war passiert in den letzten Wochen. Was Yvonne wohl gerade machte? Wieso dachte er eigentlich ausgerechnet in diesem Moment an Yvonne? Er schaute zu Jahzara, die mit Seyoum auf dem Bug saß und sich angeregt zu unterhalten schien. Ihr Haar wehte im Fahrtwind, ihr klares Profil hob sich gegen den blauen Himmel ab. Sie war schön, ja. Und doch spürte er, dass sich in den letzten Tagen seine Gefühle und Empfindungen für sie verändert hatten. Ihre Attraktivität faszinierte ihn noch immer. Die Lust, das Verlangen nach ihrem Körper schien jedoch mit dem Fahrtwind davonzuwehen. Vielleicht wuchs in ihm mehr und mehr die Erkenntnis, dass zwischen ihm und Jahzara nie mehr als eine tiefe Freundschaft sein würde, sein konnte. Wieder huschten Erinnerungen an Yvonne durch seine Gedanken. Er verdrängte das Gefühl, sie zu vermissen. Erneut fiel sein Blick auf Jahzara. Sie schaute zu ihm herüber, wirkte sehr angespannt und lächelte ihm nett zu. Nett, mehr nicht.

Je weiter sie sich von Bahir Dar entfernten, umso mehr stieg die Spannung. Unvorstellbar der Gedanke, dass die Mönche in der Lage wären, die Frage nach dem Priesterkönig Johannes, nach Kaiserin Eleni und vielleicht sogar über den Verfasser des geheimnisvollen Buches oder des Sion-Dossiers zu beantworten. Drei Stunden würden sie noch bis zur Insel brauchen. Zeit genug, sich noch einmal mit seinen Notizen zu beschäftigen.

Es war eine wunderschöne Bootsfahrt. Alle waren angespannt, doch bester Stimmung. Aber die dramatischen Geschehnisse der zurückliegenden Wochen holten sie unversehens ein, als der dickliche Bootseigner bei einem gemeinsamen Picknick an Bord plötzlich anfing zu schwatzen: »Ich bin so froh, dass ihr euch zu dieser Fahrt entschlossen habt. Nicht viele Besucher wagen diese lange Fahrt nach Tana Cherkos. Vor einigen Tagen hatte sich schon mal jemand dazu angemeldet. Ich hatte bereits Diesel, Getränke und Essen gekauft und das Boot klargemacht. Aber dann war der Kunde plötzlich verschwunden, kam einfach nicht mehr. In seinem Hotel haben sie mir dann gesagt, dass er überraschend abgereist sei. War schon ein komischer Typ. Wir leben in einer seltsamen Welt. Nicht mal mehr auf Priester kann man sich verlassen. Aber glücklicherweise habe ich ja jetzt euch als neue Passagiere.«

Jahzara blickte erst ihren Vater und dann Peter schockiert an. Seyoum räusperte sich verlegen und versuchte mit einer hilflos wirkenden Geste, der dramatischen Information Banalität angedeihen zu lassen. Ohne Erfolg.

Peter fühlte, wie sein Puls in den Adern schneller pochte. Das konnte nicht sein! Gestern, der Mönch – er hatte von einem Araber geträumt, einem Linkshänder, einem mit bösem Blick, der die Wellen des Tanasees mit seinem Hass aufpeitscht. War der Araber aus Venedig Linkshänder gewesen?

Peter schaute Jahzara an. Er wusste nicht, was er sagen sollte, sah aber in ihren Augen, dass sie Angst hatte. Seyoum schien mit der Situation überfordert. Keiner wagte, dem anderen seine Gedanken und Ängste mitzuteilen. Der Bootseigner grinste etwas dümmlich und stellte sich dann wieder an das Steuerrad. Er warf einen etwas besorgten Blick auf den nördlichen Horizont, wo sich winzige Kumuluswolken wie Wattebäusche über dem Wasserspiegel aufbauten.

Von diesem Moment an war jegliche Unbedarftheit gewichen. Jeder schwieg vor sich hin. Der Gedanke an den Araber stand allen ins Gesicht geschrieben. Schließlich beobachtete Peter, wie sich aus den winzigen Wölkchen am Horizont langsam, aber beständig bedrohlich mächtige Wolkenberge mit zartrosa farbigen Rändern und einem dunkelblauen Zentrum entwickelten. Er kannte solche Wolkenkonstellationen. Sie gehörten zu Afrika. In der Serengeti hatte er sie gesehen, Stunden bevor sintflutartige Regenfälle aus Rinnsalen tosende Flüsse hatten werden lassen. Er kannte sie aus Namibia, wo diese Wolkengebilde Jahr für Jahr ankündigten, dass nach heftigen Regenfällen in den weit entfernten Bergen Angolas die Trockenflüsse in wenigen Minuten zu todbringenden Strömen anschwellen würden. Diese Wolkengebilde waren Vorboten heftiger Unwetter.

Und genau so, wie der Mönch es geträumt hatte, kam es. Erst legte sich der Wind. Die Oberfläche des Tanasees wurde so glatt wie ein Spiegel. Nirgendwo war ein Vogel am Himmel zu sehen. Kein Insekt umschwirrte das Boot. Kein Fisch sprang mehr aus dem Wasser empor. Die Natur signalisierte ihren Kreaturen durch geheime Botschaften, dass es besser sei, sich in Sicherheit zu bringen. Aber was Vögel, Fische und Fliegen angesichts des sich ankündigenden Unwetters taten, war ihnen als Menschen auf dem Boot versagt. Sie waren noch mindestens eine Stunde von Tana Cherkos, aber bereits Stunden von Bahir Dar entfernt. Es gab keinen Weg zurück. Das wusste auch der Bootsbesitzer. Sorgenfalten hatten sich auf seine Stirn gelegt. Sein Grinsen wirkte gequält. Er fing plötzlich an, von Gog und Magog zu faseln, und ließ seine Gebetskette immer schneller durch seine Finger gleiten. Jahzara wandte sich von den Männern ab und bekreuzigte sich heimlich. Seyoum schaute auf die Uhr, erkannte, dass die Zeit gegen sie war, und zündete sich die dritte Zigarette binnen weniger Minuten an.

Dann brach der Zorn aller Götter, Geister und Dämonen Afrikas, die sich über dem Tanasee zu einer unheilvollen Machtdemonstration gegen die zerbrechlichen Wesen zusammengerottet hatten, über sie her. Gog und Magog vereinten sich mit ihnen. Der Himmel verzog sein am Morgen noch so nettes, blaues Antlitz zu einer Fratze mit aufgeblähten Wangen und schwarzen Augen. Die erste Sturmböe kam ohne Ankündigung und hob das Boot wie eine mächtige Hand aus dem Wasser empor. Seyoum prallte mit dem Kopf gegen einen Fahnenmast und sank benommen nieder. Peter wurde in die Kajüte geschleudert und riss den Skipper mit um. Er krallte sich am Ruder fest und schaute hinter sich. Jahzara sprang gerade auf, um ihrem Vater zu helfen. Die nächste Böe erfasste das Boot, kurz bevor sie ihren Vater erreichte. Das Boot wurde durchgerüttelt, drehte sich steuerlos im Kreis, neigte sich bedrohlich zur Seite, wippte, schaukelte, bäumte sich am Bug gen Himmel auf und schlug wie ein toter Fisch wieder auf dem Wasser auf. Der Skipper lag festgekrallt am Steuer. Er blutete an der Stirn.

Peter wurde umhergeschleudert. Ein loses Wasserfass prallte gegen seine Rippen. Der stechende Schmerz ließ ihn aufschreien. Er versuchte, sich zu orientieren, sah mal auf der Leeseite den Horizont und wurde auf der Luvseite gewahr, dass da kein See mehr, sondern nur noch Wolken und Himmelsfetzen waren. Dann hörte er durch den Sturm hinweg Seyoum brüllen. Er brüllte nicht vor Schmerzen. Es war Entsetzen, nackte Angst, was er dem Sturm entgegenschrie. Peter wirbelte herum. Panisch suchten seine Augen das Boot ab. Seyoum lag noch immer auf dem Boden. Sein Oberkörper hatte sich in Seilen verfangen. Seine starren Pupillen schrien Peter lautlos zu, wo Jahzara am Heck über Bord gegangen war.

Das Böse fauchte unablässig den Zorn der Götter in die tosende Welt herab. Ein Schlund – so riesig wie ein Tal zwischen zwei Gipfeln – tat sich am Himmel auf und spuckte eine Flut an Wasser auf das umherschleudernde Boot. Binnen Bruchteilen von Sekunden stand das Wasser kniehoch im Bootsinneren. Der Dieselmotor bäumte sich noch einmal auf, bevor sein Tuckern aussetzte. Das Boot drohte zu kentern, trieb durch ein Wellental zum nächsten.

Peter klammerte sich an die Reling und versuchte aufzustehen. Seyoum schien hilflos in den Seilen gefangen zu sein. Der Skipper bibberte vor Angst. Triefend nass und in Todesangst sah er bemitleidenswert aus. Peter hangelte sich mit aller Kraft an der Reling hoch, wurde von rechts nach links geworfen. Wohin er auch schaute, er sah nur Wasser und Wolken. Kein Rettungsring, keine langes Seil, keine Jahzara, keine Hoffnung. Da war nur Angst.

Plötzlich schien die Sonne. Nur wenige Minuten waren vergangen. Es war eine heiße Mittagssonne. Prall und glühend stand sie fast im Zenit über dem Boot, das auf dem spiegelglatten Sees wie fest verankert dalag. Es war ein Wunder! Kein Wind, kein Sturm, kein Regen. Nur das Wasser im Boot zeugte davon, was soeben geschehen war. Nicht eine winzige Welle war auf dem See auszumachen. Gen Süden, über das Heck hinweg, konnte Peter bis zum Horizont sehen. Außer Wasser war da nichts. Wo war Jahzara?

»Jaaahzaaaraaa!«, schrie er und schlug sich beim Aufspringen das Knie an der Bank. Die Sonne blendete seine weit aufgerissenen Pupillen. Seyoum lag leblos in den Seilen. Peter schrie und schrie.

»Peeeteeer!«

Er hörte sie, konnte sie aber nirgends entdecken. Dann tauchte ihre Hand auf. Die zarten, feingliedrigen Finger mit den hell lackierten Fingernägeln streckten sich ihm aus der Kuhle am Heck des Bootes, dort, wo Seile und Kanister unter einer Plane gelagert waren, entgegen. Erst war es die rechte, dann die linke Hand, die sich am Rand der Vertiefung festhielten. Ihr Kopf tauchte auf. Sie richtete sich auf, stand durchnässt so schön und groß und unglaublich attraktiv, wie der Schöpfer sie geschaffen hatte, am Heck in der Luke. Ihr Busen zeichnete sich unter dem nassen Hemd ab. Sie sieht pudelnass sehr hübsch aus, schoss es Peter in seiner grenzenlose Freude und Erleichterung durch den Kopf. Er lächelte, lachte sie an, erwartete Tränen der Erleichterung zu sehen. Aber Jahzara starrte panisch an ihm vorbei. Ihre Augen bestanden nur aus Weiß. Ihre Lippen waren geöffnet, suchten, fanden aber keine Worte. Seyoum kniete sich auf den Boden, nicht weit von Jahzara entfernt. Er schaute zum Himmel hoch. Was er dort sah, schien er nicht zu glauben. Peter wandte sich irritiert um. Auch der Bootseigner starrte zum Himmel. Er zitterte am ganzen Körper.

Dann sah Peter es. Er war nicht ganz so erstaunt wie die anderen, ahnte, dass er der Einzige an Bord war, der wusste, was da vor ihnen lag. Nicht weit von ihnen entfernt, vielleicht einen Kilometer oder gar weniger, endete die Welt, der See. Dort war nur noch eine Wand, eine Mauer zu sehen. Rot, braun und ein wenig gelb. Sie reichte vom spiegelglatten Wasser des Sees bis hinauf zur Sonne. Aber es gab keine Schatten! Die Sonne war da, schien über dem Boot, wärmte seinen nassen Körper. Doch die Wand blieb ohne Schatten! Und sie bewegte sich, schien, wie von magischer Hand geschoben, über den See zu wandern. Wo sie sich hinbewegte, verfärbte sich das Wasser rot.

Peter schluckte. Er wusste, dass dies den Tod bedeuten würde, wenn diese Wand sich dem Boot näherte. Das da war das Meer der Finsternis, der Dunkelheit! Der Wüstensturm, den die Portugiesen einst so gefürchtet hatten, weil er alles verschluckte: Dörfer, Schiffe und Karawanen. Wie eine gigantische Walze aus rotem und gelbem Sand schlich die monströse Wand in Zeitlupentempo über den See auf sie zu.

Peter hatte Todesangst. Er kniff seine Augen zu engen Schlitzen zusammen und blinzelte gegen die Sonne in die Welt aus Sand und Wind. Ja! Ganz eindeutig! Der Sturm trieb ostwärts, wälzte Myriaden Tonnen Sand, angereichert mit heißer Luft, auf das Festland zu, dorthin, wo das Meer der Finsternis hergekommen war. Dorthin, wo der Harmattan den Sand von Mutter Erde aufgesogen und ihn auf den Tanasee getrieben hatte. Dann verschwand die Wand wie von Zauberhand, ließ durch wunderschöne, rötliche Wolken am Horizont im Norden erahnen, wohin er beabsichtige, den Tod zu bringen. In den Sudan. Oder nach Ägypten.

Zitternd drehte Peter sich um. Jahzara saß zusammengekauert auf dem Heck. Sie schluchzte. Seyoum paffte an einer Zigarette, zündete sich mit der alten eine neue an. Der Skipper stammelte wirres Zeug. Plötzlich hörten sie das Tuckern eines Bootes und verstanden nicht, warum dieses Boot auf sie zusteuern und dabei über die Stellen gleiten konnte, wo eben noch der Tod gelauert hatte.