16.

 

Timbuktu hatte sich Jahzara ganz anders vorgestellt. Ihre mystifizierten Vorstellungen von der legendären Karawanenstadt in der Sahara wichen in kürzester Zeit einer ernüchternden Realität. So hatte sie erwartet, dass das sagenumwobene Zentrum des afrikanischen Karawanenhandels, einst Umschlagplatz für Gold, Edelsteine, Elfenbein, Salz und Sklaven, am Niger liege. Idyllische, von Palmen überthronte, am Ufer des mächtigen Stroms liegende Sakralbauten und prächtige Paläste hatte sie sich erhofft. Aus dem Flugzeug heraus war es zunächst ein fantastischer Anblick gewesen, wie sich der träge Niger wie eine fette, glänzende Schlange durch die Endlosigkeit der Sahara westwärts wälzte. Was für ein Kontrast: ein mächtiger Strom inmitten der Wüste. Dann kam die Enttäuschung. Schon beim Landeanflug war zu sehen, dass Timbuktu mittlerweile viele Kilometer vom Niger entfernt lag. Die Wüste hatte ihren Tribut gefordert. Sie hatte ihre Dünen über Jahrhunderte weiter südlich wandern lassen und alles zugedeckt, was Menschenhand einst geschaffen hatte.

Jahzara war froh, das Flugzeug, mit dem sie von Bamako nach Timbuktu geflogen war, endlich verlassen zu können. Die Maschine war alles andere als Vertrauen erweckend. Die spartanischen Sitze sahen wie jene in Militärtransportern aus. Was an Gepäck keinen Platz im Rumpf gefunden hatte, war im Heck vor den Toiletten gestapelt worden. Nicht zuletzt, weil ein Wüstensturm über das Land wehte und den Himmel verdunkelte, war der Pilot in einer Zickzacklinie geflogen. Turbulenzen hatten das Gepäck immer wieder umhergeschleudert und einige der Passagiere aufkreischen lassen. Es war ein sehr unangenehmer Flug gewesen.

Obwohl die Sonne wegen des Sandsturms eher wie ein blasser Mond am Himmel stand, war die Hitze auf dem Flughafen von Timbuktu kaum auszuhalten. Eine halbe Stunde nach der Landung ahnte sie, was in nächster Zeit auf sie zukommen würde. Die Stadt war sehr heruntergekommen. Jahzara war geschockt. Im Flugzeug hatte sie noch gelesen, dass ein Sultan des früheren Mali-Reiches im 14. Jahrhundert bei einer legendären Pilgerreise nach Mekka angeblich von 60 000 Bediensteten begleitet worden war. Mansa Musa soll dabei zwei Tonnen Gold mit sich geführt haben. Nein, von diesem Glanz, das hatte sie schon auf der Fahrt in dem Gruppentaxi durch die Stadt geahnt, war nichts mehr vorhanden. Sand wehte durch die Gassen der vornehmlich aus Lehm erbauten Häuser. Überall ließen kleine Dünen vor und hinter den ärmlich wirkenden Gebäuden erahnen, dass die Wüste Timbuktu bald so verschlingen würde, wie sie es wohl einst mit der Karawane getan hatte. Grenzenlose Trostlosigkeit lag über der Stadt. Vergänglichkeit und Hoffnungslosigkeit hatten sich eingenistet.

Jahzara hatte im Campment ein Zimmer reserviert. Es war ein schlichter Steinbau mit noch schlichteren Zimmerverliesen, der am Rande der Stadt mit Blick auf Sandberge lag. Ein Besucher hatte ins Gästebuch geschrieben: »Nach einer irrsinnig strapaziösen, 24 Stunden dauernden Fahrt endlich in Timbuktu angekommen, wurde mein Kindheitstraum in nur wenigen Stunden zerstört: Bonjour tristesse!« Sie fürchtete sich ein wenig vor der Nacht in dem, was sich Hotel nannte, aber mehr einer Jugendherberge glich. Außer ihr übernachtete niemand hier. Strom gab es an diesem Tag nicht, was den nicht funktionierenden Deckenventilator erklärte. Es war stickig heiß und eng wie in einer Gefängniszelle. Sie wagte nicht, ihr Quartier für einen Spaziergang durch die Stadt zu verlassen. Die lüsternen Blicke der Männer am Flughafen, die eindeutigen Worte des Taxifahrers und die vor dem Hotel herumlungernden Tuareg in ihren blauen Gewändern und den schwarzen Gesichtsschleiern ließen sie erahnen, dass die Zeit bis zu Peters Ankunft am nächsten Tag zu einem Spießrutenlauf ausarten würde, wenn sie auch nur einen Fuß vor das Hotel setzte.

Schon in Bamako, der in Abgasen erstickenden Hauptstadt Malis, hatte sie kein gutes Gefühl gehabt, hatte sich als schwarze, allein reisende Frau permanent sehr direkten Offerten von Männern erwehren müssen. Das war am Flughafen ebenso gewesen wie im L’Amitié-Hotel, das glücklicherweise recht modern war und sehr hübsch am Niger lag. Dass Peter sie nicht, wie vereinbart, in diesem Hotel erwartete, hatte sie nachdenklich gestimmt. Intuitiv spürte sie, dass es etwas mit Yvonne zu tun haben könnte. Dann aber hatte sie von ihm eine Mail bekommen. Er war auf dem Flug von Frankfurt via Casablanca nach Mali in der marokkanischen Hafenstadt verspätet angekommen und hatte seinen Anschlussflug verpasst. Die Flugumbuchung nach Timbuktu war für sie zu einem Abenteuer geraten. Erst als ein netter Hotelangestellter ihr erklärte, dass in diesem Land nichts ohne »Jetons«, also Schmiergeld, ging, hatte sie für Peter einen neuen Flug arrangieren können.

Nun saß sie allein in dieser tristen Wüstenstadt, in diesem schmuddeligen Hotel, nippte frustriert an einer lauwarmen Cola und sehnte sich nach dem nächsten Tag. Jegliche Euphorie war gewichen. Lange wälzte sie sich in dem schmalen Bett von einer Seite auf die andere. Sie war sehr unruhig. Ihre Gedanken kreisten weder um die Prinzessin Sahel noch um den Priesterkönig Johannes noch um die Bundeslade. Aber auch nicht um Peter. Sie freute sich sehr darauf, ihn zu sehen. Doch jedes Mal, wenn sie die Augen schloss, sah sie nicht sein, sondern das Bild von Yvonne vor sich. Etwas musste geschehen sein.

 

Peter erreichte das Hotel am späten Nachmittag des nächsten Tages. Er sah erschöpft aus und wirkte sehr nervös. Seine Umarmung war halbherzig. Sie setzten sich auf die Terrasse des Campments, und Jahzara fühlte, dass ihm etwas auf der Seele lag.

Peter ließ sie nicht lange warten: »Puh, war das eine anstrengende Reise. Hinzu kommt noch, dass mich dieser Hautausschlag, den ich mir irgendwo eingefangen habe, noch immer ein wenig malträtiert. Ein Hautarzt in München hat mir zwar eine wirksame Cortisonsalbe verschrieben, aber so ganz ist es immer noch nicht weg. Außerdem konnte der Arzt mir auch nicht sagen, um was für einen Ausschlag es sich handelt.«

Peter stockte für einen Moment. Er hüstelte verlegen.

»Jahzara, es ist sehr schwer für mich, dir das zu sagen. Du weißt, dass ich dich mag und dich außerordentlich schätze. Und du wirst sicherlich längst bemerkt haben, dass ich dich auch begehre. Weil das so ist und ich großen Respekt vor dir habe, denke ich, dass ich es dir schuldig bin, ehrlich zu sein.« Er stockte und nippte an seinem Bier. Dann flüsterte er verlegen: »Yvonne ist schwanger.«

Jahzara erstarrte innerlich. Es fiel ihr schwer, nicht die Contenance zu verlieren. Millionen Gedanken rasten ihr durch den Kopf. Was sollte sie sagen, was nicht sagen? Sie versuchte, ihre Überraschung zu kaschieren.

»Schwanger? Von dir?«

»Ja!«

»Freust du dich? Oder ist es eher ein Problem?«

Peter druckste herum. Noch nie hatte sie ihn so irritiert, so sprachlos gesehen. Er wirkte sehr ernst. Sie ahnte, was er sagen würde.

»Ich war immer ehrlich zu dir, Jahzara. Und ich möchte es auch weiterhin sein – mit allen Konsequenzen! Das bin ich dir schuldig. Ja, im ersten Moment war ich geschockt, als Yvonne es mir sagte. Aber dann habe ich mich plötzlich sehr darüber gefreut. Eigentlich habe ich mich nie mit dem Gedanken beschäftigt, zusammen mit Yvonne ein Kind haben zu wollen. Sie hat verhütet, das weiß ich. Aber es ist passiert, wahrscheinlich in Venedig, am Abend bevor ich dich zum ersten Mal sah. Und jetzt freue ich mich unendlich, dass es so ist. Yvonne und ich sind wieder zusammen, Jahzara. Wir haben uns in München lange darüber unterhalten, was in Lissabon und in den zurückliegenden Jahren geschehen ist. Yvonne war mir nicht böse. Sie ist ein sehr großherziger, uneigennütziger Mensch. Und sie hat freimütig zugegeben, dass du eine außerordentlich attraktive Frau bist. Doch Yvonne hat mir schon in den Wochen nach Lissabon gefehlt. Nur deine Anziehungskraft und die Sache mit der Karawane haben das in den Hintergrund gedrängt. In München habe ich schließlich klar erkannt, dass Yvonne und ich zusammengehören. Yvonne wusste das schon viel früher als ich. Die Trauer um den Tod meiner Frau und meines Kindes haben mich jedoch vor Schmerz blind werden lassen.«

Jahzara wunderte sich, dass sie kein Verlangen hatte, zu weinen. Der Anflug von Neid, der sie kurz überkam, wich einem sehr angenehmen Gefühl der Ruhe. Wie aus heiterem Himmel erkannte sie, dass sie Dinge in Peter projiziert hatte, die mehr Illusion als Realität waren. Ihr Wunschdenken hatte sich darauf fokussiert, dass Peter ihr vielleicht aus diesem tiefen, dunklen Loch, in dem sie sich seit ihrem Selbstmordversuch befand, herausholen, ihr helfen würde. Doch mit seinen Worten wuchs nun die Erkenntnis, dass sie viel, sehr viel für Peter empfand – aber keine Liebe. Deswegen tat es ihr auch nicht weh, dass Yvonne schwanger und Peter wieder mit ihr zusammen war. Irgendwie fühlte sie sich sogar erleichtert, befreit. Sie dachte in diesem Augenblick weniger darüber nach, was ihr die Zukunft bringen würde, als vielmehr darüber, dass sich ihr Verhältnis zu Peter mit dieser Nachricht auf wundersame Weise völlig entkrampft hatte. Sie fühlte sich wohl, fast glücklich dabei. Ihn in Zukunft als Freund zu haben, nicht mehr darüber nachzudenken zu müssen, was sich zwischen ihr und ihm entwickeln könnte, empfand sie als eine wunderbare Bereicherung ihres Lebens. Peter war ein Freund! Ein toller Freund, einer, den sie brauchte, immer schon gebraucht hatte und mit dem sie nun vielleicht auch über ihr Problem sprechen konnte, ohne Angst zu haben, dass er sie danach verlassen würde. Zu Peter hatte sie Vertrauen. Lösen konnte er ihre Probleme nicht. Aber er konnte ihr zuhören, sie in den Arm nehmen, den Schmerz lindern, sie trösten. Und mit ihm als Freund konnte sie ihren großen Wunschtraum realisieren: die tragische Geschichte der Prinzessin Sahel und den Versuch Roms, die Christen Äthiopien dem Untergang zu weihen, an die Weltöffentlichkeit zu bringen! Während ihr all das durch den Kopf schoss, blickte Peter sie wartend an. Sie sah ihm an, dass er Angst vor ihrer Reaktion hatte. Lächelnd beugte sie sich zu ihm und gab ihm zwei sanfte Küsse auf die Wangen. »Das waren Küsse von einer Freundin! Nicht die erotischen Küsse einer Geliebten, sondern freundschaftliche Küsse, Peter! Lass uns Freunde sein. Freunde, die wahrscheinlich Glück hatten, dass sie nicht miteinander geschlafen haben. Vielleicht wäre danach weder Freundschaft noch Liebe entstanden.

Vielleicht hätten wir erkannt, dass Wollust nicht gleich Liebe und Liebe nicht gleich Freundschaft ist. Ja, Lust hatte ich manchmal, Peter. Du auch, ich weiß!«

Jahzara griff mit der linken Hand nach seinem Ohrläppchen und zog so lange sanft daran, bis er begann, die Augen zu verdrehen. Ihr Gesicht war nur wenige Zentimeter von seinem entfernt, Sie ballte ihre rechte Hand zur Faust und hielt sie ihm vor das Gesicht. Ihr Stimme wurde sehr sanft, als sie fortfuhr: »Wenn du aber in Zukunft deine neue Freundin noch mal lüstern anschaust, kriegst du von einer sehr moralischen, erzkonservativen Äthiopierin eins auf die Nase. Und zwar mit dieser kleinen, aber sehr effizienten Faust!«

Peter brachte kein Wort heraus. Wie sie so vor ihm saß, ihre wunderschönen großen Augen rollend, wusste er plötzlich, dass dies einer der schönsten Momente seines Lebens war. Jahzara hielt noch immer sein Ohrläppchen fest. Er gab vor, als täte sie ihm weh.

Jahzara ließ ihn daraufhin los und starrte ihn wie hypnotisiert an. Durch den feuchten Glanz seiner Augen hindurch sah sie, wie unglaublich gern er sie hatte. Jahzara empfand ebenso. Sie kannte diesen Blick. Ihr Bruder hatte sie genauso angeschaut. Peter legte seine Arme um sie und drückte sie sehr fest an sich. Eng umschlungen standen sie einen Moment da, und Jahzara war auf einmal grenzenlos glücklich, einen so starken und klugen Bruder-Freund zu haben. Sie hatte das Gefühl, dass gerade etwas geschehen war, was ihr helfen würde, ihre Vergangenheit zu bewältigen.

Tief gerührt von seinen Umarmungen, drückte sie ihn vorsichtig von sich weg, schaute ihm tief in die Augen und sagte: »Aber komm jetzt bloß nicht auf die Idee, Yvonne nachkommen zu lassen! Das fehlte mir gerade noch, dass ihr, vor Glückseligkeit überwältigt, in der Sahara anfangt zu schmusen, während ich leer ausgehe.« Ihre Augen funkelten schelmisch: »Hast du eine Schwester?«

»Nein, warum?«

»Schwestern können grausam, zickig, biestig und unglaublich eifersüchtig sein, wenn ihre Brüder mit anderen Frauen rumknutschen. Also hüte dich vor mir! Ich werde mit Argusaugen darüber wachen, dass Yvonne dir nichts Böses antut. Da ich aber nicht glaube, dass eine Frau, die dich liebt und dein Kind in sich trägt, dir wehtun möchte, würde ich vorschlagen, dass du sie mir nach unserer Rückkehr vorstellst. Vielleicht können wir Freundinnen werden. Wobei du dich dann noch mehr vorsehen musst! Denn wenn ich mich mit ihr zusammentue, hast du schlechte Karte, Brüderlein, solltest du anderen Frauen nachstellen. Ich würde petzen! Dann hättest du die grausamsten Feinde gegen dich vereint, ja! Das hübsche Duo der Femmes fatales würde garantiert dein Schicksal sein. Yvonne würde dich im Liebesspiel heimtückisch überwältigen. Und ich, als blutrünstige Äthiopierin, die weiß, wie man weißen Männern Höllenschmerzen zufügt, würde dich dann schön langsam foltern. Wir Äthiopierinnen wissen, wie das geht, glaub es mir. So, damit sind die Fronten jetzt ja wohl geklärt. Wenn ich mich also nachts in der Wüste vor Angst oder Kälte an dich kuschle, dann denk daran, dass ich deine Schwester-Freundin bin. Behüten musst du mich, beschützen – mich retten, ja! Aber nicht begrabschen. Sonst kriegst du Keile, wie ihr in Deutschland wohl sagt. Und nun lass uns die Karawane suchen, damit du schnell zu deinem Kind zurückkommst – und ich möglichst bald mit Yvonne besprechen kann, wie wir dich freiheitsliebenden Lüstling zähmen können, ohne dass du dabei ein anderer wirst. Ich denke, Yvonne und ich mögen dich nämlich so, wie du bist. Falls ihr übrigens eine Taufpatin sucht, könnt ihr ja an mich denken.«

 

Wenig später gingen Jahzara und Peter Arm in Arm, scherzend und lachend vom Campment quer durch Timbuktu zu einem klotzigen Bauwerk, über dem die Fahne Malis wehte. Ihr kurzer Abstecher zu den Häusern der berühmten Afrikaentdecker Alexander Gordon Laing, René Caillié und Heinrich Barth war ebenso frustrierend gewesen wie die Stippvisite zum Markt. Diese Stadt starb, das fühlte und sah man überall. Einzig die Tatsache, dass es ein Internet-Cafe und sogar eine Handyverbindung gab, ließ erahnen, dass hier noch ein wenig Hoffnung und zukunftsorientiertes Denken existierten.

Der Palast des Gouverneurs wurde von zwei Soldaten bewacht. Nach ihrem Anliegen befragt, erklärte ihnen Peter, dass sie eine Genehmigung bräuchten, um in eine entlegene Wüstenregion fahren zu können. Der etwa 60-jährige Gouverneur war ein mürrisch wirkender Mann in einem weiten Gewand, mit grauen Haaren und verschlagenem Blick. Sein Büro war bis auf einen riesigen Schreibtisch und eine Couch, auf der eine junge Frau herumlungerte, leer. Er sprach Arabisch, Russisch und so schlechtes Englisch, dass er einen Lehrer aus dem Ort holen ließ, um ihr Anliegen zu verstehen. Die Kommunikation war kompliziert und seitens des Gouverneurs von Anfang an nicht von Wohlwollen geprägt. Als Peter ihm erklärte, er plane, eine Reportage über alte Karawanenrouten der Sahara zu schreiben, schien er mehr beunruhigt als beeindruckt zu sein, denn der Lehrer, ein kleiner Mann mit unruhigem Blick, übersetzte die Ausführungen des Gouverneurs folgendermaßen: »Der Herr Gouverneur bedauert zutiefst, dass er Ihrem Ersuchen nicht nachkommen kann. Das Land der Leere, wie die Tuareg diese Region der Sahara nennen, ist Sperrgebiet. Es ist zu gefährlich, dorthin zu fahren. Treibsand, Sandstürme und Minenfelder aus dem Krieg mit den Franzosen machen es nahezu unmöglich, dorthin zu reisen. Der Herr Gouverneur sieht leider keine Möglichkeiten, Ihnen das zu genehmigen.«

Jahzara musterte Peter unauffällig. Ohnmacht und Wut einten sich in seinen Augen. Aber die Ablehnung schien ihn nicht aus der Fassung zu bringen.

Ruhig begann er zu sprechen: »Zunächst darf ich Eure Exzellenz von ganzem Herzen danken, dass er uns auf diese Gefahren hinweist. Mit allem gebotenen Respekt möchte ich aber darauf hinweisen, dass wir nicht beabsichtigen, ins Land der Leere zu fahren, sondern von einem Ort namens Likrakar aus der Karawanenroute nach Taoudenni, zu den dortigen Salzminen, folgen wollen. Wir sind uns der Gefahren der Wüste sehr bewusst. Ich selbst, Eure Exzellenz, habe viel Erfahrung. Ich habe die Sahara von Algerien aus zwei Mal bis nach Nigeria durchquert, bin von Marokko aus nach Mauretanien gefahren und habe viel Praxis im Umgang mit Allradfahrzeugen. Wir haben in Bamako einen perfekt ausgerüsteten Geländewagen bestellt, der morgen hier ankommen wird. Ein GPS-Gerät habe ich dabei. Unsere Reise dient lediglich als Vorbereitung einer längeren Expedition, die im nächsten Jahr stattfinden soll und bei der wir Eure Exzellenz selbstverständlich über den Botschafter der Republik Mali in Deutschland involvieren würden. Wobei wir darauf hinweisen möchten, dass wir bei dieser Expedition sicherlich einige erfahrene Führer und Fahrer aus Timbuktu benötigt werden, die wir selbstredend ihren Qualifikationen entsprechend gut bezahlen würden. Über die touristischen Auswirkungen unserer Projekte auf diese Region möchte ich nicht all zu viel sagen, gehe aber davon aus, dass meine Berichte sicherlich dazu beitragen werden, mehr Besucher nach Timbuktu zu locken.«

Jahzara bewunderte Peters Raffinesse und schmunzelte innerlich. Seine Afrikaerfahrung bewog ihn, den Gouverneur wie einen Pascha zu behandeln und ihn gleichzeitig mit persönlichen finanziellen Vorteilen zu ködern. Der Gouverneur spekulierte wahrscheinlich bereits damit, dass die im nächsten Jahr benötigten Führer und Fahrer aus seiner Familie stammen würden. Der Hinweis auf den Botschafter in Deutschland brachte den Gouverneur zudem in Zugzwang. Wie hatte man ihr im Hotel in Bamako gesagt? Ohne »Jetons« läuft in diesem Land nichts.

Der Gouverneur stand auf und schritt majestätisch durch den riesigen Raum. Peters Reaktion irritierte ihn offensichtlich: »Wie soll ich sagen, Monsieur, Ihr Anliegen ehrt uns. Aber selbst wenn ich Ihnen diese Genehmigung erteilen würde, müsste ich doch darauf beharren, Ihnen zwei erfahrene Führer in einem zweiten Wagen mitzugeben. Niemand fährt allein in die Wüste. Wenn Sie technische Probleme mit Ihrem Wagen hätten, wäre Sie ohne ein zweites Auto verloren. Doch ein solches Fahrzeug mit zwei Wüstenexperten ist nur schwer aufzutreiben. Ich müsste Ihnen quasi ein Fahrzeug des Departments mit zwei staatlichen Angestellten zur Verfügung stellen, um Ihre Sicherheit zu gewährleisten. Sie werden verstehen, dass das für Sie mit ganz erheblichen Kosten für Personal, Treibstoff, Lebensmittel und Gefahrenzulagen für die beiden Männer verbunden wäre.«

Peter fluchte innerlich. Mit allem hatte er gerechnet. Dass er Schmiergeld zahlen müsste, um eine Genehmigung zu bekommen, war ihm klar gewesen. Dass dieser listige Bursche das Gefahrenzulage nannte, kam nicht unerwartet. Der Kerl wollte sie schlicht und einfach schröpfen. Das Letzte, was Jahzara und er aber gebrauchen konnte, waren zwei Aufpasser. Er überlegte angestrengt, ahnte jedoch, dass kein Weg an diesen beiden staatlichen Angestellten vorbeiführen würde. Ihre einzige Chance bestand darin, dieses Angebot zunächst anzunehmen und dann später durch weiteres Schmieren die beiden dazu zu bringen, sie allein weiterfahren zu lassen.

Eine Stunde dauerten die Verhandlungen über die Kosten für die Führer und das Fahrzeug. Obwohl er die ersten Preisvorstellungen des Gouverneurs, immerhin umgerechnet aberwitzige 3000 Euro, auf unter 2000 heruntergefeilscht hatte, war das für die geplanten vier bis sechs Tage viel zu viel. Aber sie hatten keine Wahl. Würde er das Angebot ausschlagen, würden sie keine Genehmigungen bekommen. Zähneknirschend willigten sie schließlich ein und erhielten vom Gouverneur ein monströses Dokument: »Übergeben Sie diesen Permiss dem Chef des Conseil du Cercle, also dem Bezirksrat von Likrakar. Er wird Ihnen weiterhelfen. Bei ihm müssen Sie sich anmelden und auch wieder abmelden, wenn Sie in die Sahara fahren und sie verlassen.«

Wenige Minuten später traten Peter und Jahzara aus dem Gouverneurspalast. Die Nacht war hereingebrochen, die Luft von mehlartigem, rotem Staub erfüllt. Sie konnten kaum 20 Meter weit sehen.

Nach ein paar Schritten blieb Jahzara abrupt stehen und hielt ihn am Ärmel fest. »Da vorne! Peter, schau mal, an der Hausecke!«

Peter versuchte, durch die von Sandpartikeln erfüllte Nachtluft hindurch etwas zu erkennen. Aber er sah nur eine diffuse Straßenlaterne und graue Lehmhäuser. »Ich sehe nichts. Was meinst du?«

Jahzara stand noch immer bewegungslos neben ihm. Er konnte in ihren Augen sehen, dass sie sich nicht so recht traute, auszusprechen, was sie gesehen hatte.

»Ach, ich denke, ich bin einfach nur paranoid. Ich hatte gedacht, eben einen Mann in einem Priestergewand gesehen zu haben. Blödsinn, so ein Schwachsinn! Die Männer hier tragen ja alle solche Flattergewänder. Das war bestimmt ein Targi, ein Sohn der Wüste – und kein Mann Gottes.«

 

Beim Anblick der beiden Söhne der Wüste bekam Peter ein mulmiges Gefühl. Die Tuareg, die am übernächsten Morgen in einem schrottreifen Toyota Land Cruiser mit Regierungskennzeichen vor dem Campment vorfuhren und sich als ihre Führer vorstellen, waren in stahlblaue Gewänder gehüllt. Bis auf schmale Sehschlitze, die selbst ihre Augen kaum erkennen ließen, war ihr Kopf mit einem schwarzen Tuch verhüllt. Der Größere von ihnen, nach Statur und Bewegungen zu urteilen eher ein junger Bursche, nannte sich Habib Mounzer. Der andere, ein etwas untersetzter Mann, dessen Alter Peter überhaupt nicht einschätzen konnte, nannte sich Said Fomba. Sie zeigten sich nicht sonderlich gesprächig. Said schwieg völlig. Sein Freund erklärte in radebrechendem Französisch, dass Said weder Französisch noch Arabisch könne: »Er sein Imochar – eine freie Mensch. Er sprecht nur Dialekt vom Stamm der Kel Iforas.«

Was das heißen sollte, konnten Jahzara und Peter nur erahnen, wussten aber nun, dass die Kommunikation mit diesen beiden Tuareg sehr beschränkt sein würde. Nachdem beide Wagen mit zusätzlichen Wasservorräten, frischem Gemüse, Reis sowie Obst vom Markt, allen verfügbaren Konserven und Benzin für etwa 2000 Kilometer beladen worden waren, fuhren sie am darauffolgenden frühen Morgen los. Zu ihrer beider Erstaunen beharrte Habib Mounzer darauf, dass Said Fomba in ihrem Wagen mitfahren sollte. Der Sprachlose, wie Jahzara den missmutigen Nomaden nannte, nahm im Fond ihres Geländewagens Platz und tat das, wie sie und Peter hofften, was er die nächsten Tagen weiterhin tun würde: Er schwieg. Dafür roch er umso mehr. Seine strengen Ausdünstungen, eine fast ätzend riechende Mischung aus Schweiß, Knoblauch und Mottenkugeln, wurden vom Fahrtwind im Wageninneren umhergewirbelt. Jahzara saß auf dem Beifahrersitz und verdrehte ständig ihre Augen, deutete grinsend ihre anstehende Ohnmacht an und hielt ihren Kopf stets sehr nahe am Fenster.

Die Teerstraße Richtung Likrakar endete bereits wenige Kilometer hinter Timbuktu. Viele Reifenspuren ließen den Schluss zu, dass die Piste ziemlich stark befahren wurde. Einzelne Nomaden kamen ihnen auf Kamelen entgegen. Winzige Wanderdünen züngelten, angetrieben von einem heißen Wind, über die Piste. Der Himmel war grau wie auch die Welt, die sie umgab.

Peter fingerte sein Handy aus seinem Rucksack. Zum Schutz gegen Hitze und Staub hatte er es zusammen mit dem GPS-Gerät mit einem Handtuch umwickelt und in eine Plastiktüte gesteckt. Während er weiterfuhr, fiel sein Blick auf das Display. Es zeigte eine akzeptable Feldstärke an. Sie hatten also weiterhin Kontakt mit der Außenwelt, aber Yvonne hatte noch nicht geantwortet. Er hatte ihr am Vortag aus dem Internet-Cafe eine ausführliche Mail und eine SMS geschickt. Jahzara wiederum hatte ihren Vater darüber informiert, dass sie in etwa einer Woche nach Timbuktu zurückkehren würden.

Peter steckte das Handy wieder weg. Die öde Landschaft machte ihn einsilbig. Seine Gedanken gingen zu Yvonne. Ein Lächeln huschte über sein Gesicht. Würde sie sich darüber freuen, dass Jahzara Patin ihres Kindes werden wollte?

Ein dezenter Piepston aus seinem Rucksack unterbrach seine Gedanken. Er holte das GPS-Gerät hervor. Das Piepsen signalisierte ihm, dass sie von den Koordinaten, die er eingegeben hatte, abwichen. Er schaute auf das Display. Sie befanden sich auf 16°48’ 10.90“ Nord und 3°00’ 11.02“ West, also nur knapp neben dem Korridor, den er mithilfe von Satellitenbildern errechnet hatte. Zufrieden steckte er das Gerät weg und lächelte Jahzara an. Ihr Haar wehte im Fahrtwind. Die große Sonnenbrille verdeckte fast ihre gesamte Augenpartie. Das Halstuch, das sie zum Schutz gegen den feinen Sandstaub über den Mund gezogen hatte, ließ sie wie eine elegante Räuberin aussehen. Kurz fiel sein Blick auf den Rückspiegel. Der zweite Wagen mit Habib Mounzer am Steuer fuhr eigenartig dicht hinter ihnen. Das war ihm schleierhaft. Jeder Wüstendurchquerer wusste, dass der vom vorausfahrenden Fahrzeug aufgewirbelte Staub in kürzester Zeit nicht nur der Windschutzscheibe, sondern auch dem Motor zusetzen und damit schnell technische Probleme aufkommen lassen würde. Die Gefahr, dass Sand den Luftfilter verstopfte und der Wagen überhitzen würde, war groß. Peter fragte sich, wieso der Targi so nah auffuhr? Er wollte gerade schimpfen, dass der Fahrer wohl zum ersten Mal in der Wüste war, als eine starke Luftböe durch die Seitenfenster ins Wageninnere drückte. Aus dem Augenwinkel heraus sah er im Rückspiegel, wie der Gesichtsschleier von Said Fomba für Bruchteile von Sekunden weggeweht wurde. Die Augen des Mannes waren deutlich zu sehen. Es waren dunkle, unergründliche, böse Augen. Es war dieser Blick, aber auch die hässliche Falte oberhalb der Nasenwurzel des Mannes, die ihm eine Gänsehaut verursachten. Diese Augen kannte er doch! Seine Gedanken überschlugen sich. Im Rückspiegel beobachtete er, wie der Mann nervös auf seine Uhr blickte. Dann klingelte sein Handy. Er kannte die Nummer auf dem Display. Es war Yvonne.

 

Yvonne saß mit dem Rücken zur Wand auf dem Boden. Sie zitterte am ganzen Körper. Sie konnte kaum ihr Handy festhalten. Mit panischem Blick starrte sie den Mann an, der vor ihr auf dem Boden kniete und eine Pistole auf ihren Kopf richtete. Der Mann war klein und hatte einen Bauch. Er trug altmodisch gestreifte Hosen und ein kariertes Hemd. Sein Kopf war mit einer Motorradsturmhaube verhüllt. Sie sah nur zwei Augen, die sie gierig anglotzten. Sie schluchzte. Ihr Herz pochte heftig. Hoffentlich erreiche ich ihn, dachte sie. Was, wenn Peter schon in der Wüste ist, wenn er keinen Handyempfang mehr hat? Der Rufton ging durch. O Gott, dachte sie, bitte lass ihn ans Telefon gehen. Der Mann schien zu ahnen, was ihr durch den Kopf ging. Er beugte sich nach vorne und setzte den Lauf seiner Waffe auf ihren linken Busen. Sie fühlte seinen heißen Atem. Seine Augen blitzten auf und tasteten ihren Körper ab. Seine linke Hand legte sich auf ihr Knie und begann, langsam ihren Rock nach oben zu schieben. Sie zuckte zurück. Er starrte sie wütend an, presste seine Waffe erneut drohend auf ihren Busen und begann, mit der Mündung der Pistole an den Knöpfen ihrer Bluse herumzufummeln. Sie hatte schreckliche Angst. Dieser Mann, die drei Männer, die sie vor einer Stunde vor ihrer Haustür abgepasst, sie in ein wartendes Auto gezerrt und sie mit Chloroform betäubt hatten, waren zu allem fähig. Seit sie in diesem Kellerraum saß, ahnte sie, dass sie sterben würde.

Endlich hörte sie Peters Stimme. Ihr Oberkörper richtete sich abrupt auf. Der Pistolenlauf presste sie zurück. Seine linke Hand war inzwischen unter ihren Rock gerutscht; sie war schweißnass. Er roch unangenehm nach kaltem Rauch. Sie wollte angeekelt schreien, weil er nun ihren Slip befingerte. Nur Peters Stimme gab ihr Hoffung.

Ihre ersten Worte gingen in Schluchzen unter. »Pe… Peter? Bist… bist du es?« Sie hörte noch, wie Peter vor Freude ihren Namen in das Handy schrie. Seine Freude hallte mit vielfachem Echo durch ihren Körper. Dann entriss der Mann ihr das Handy, zog seine Hand unter ihrem Rock hervor und richtete sich auf.

»Hallo, Peter! Oh, Pardon, Mister Föllmer, wollte ich natürlich sagen. Hören Sie mich einwandfrei? Gut! Passen Sie auf, was ich Ihnen jetzt sage. Wir haben Ihre Freundin, Sie wissen schon, die nette Frau mit dem tollen Busen, mit der Sie in Lissabon waren. Sie ist wirklich sehr nett. Sehr sogar! Alles bei ihr fühlt sich so fest an. Leider hat mich unser Telefonat davon abgehalten, mir anzuschauen, was sich unter ihrem Rock verbirgt. Aber ich habe ja Zeit. Im Gegensatz zu Ihnen! Machen wir es kurz, Peter! Geben Sie Ihr Handy mal weiter. An wen? Na, schauen Sie mal auf den Rücksitz Ihres Autos. Geben Sie es Said, machen Sie schon! Und noch eines: Ich rate Ihnen dringend, all das zu tun, was Said Ihnen jetzt sagt. Je schneller Sie da unten in der Wüste fertig sind, umso schneller können Sie mit Ihrer Freundin das tun, was ich jetzt an Ihrer Stelle genießen werde.«

Yvonne erstarrte. Ihre Hoffnung wich blankem Entsetzen. Hatte sie bis vor wenigen Sekunden noch gedacht, Peter könne ihr in irgendeiner Weise helfen, überkam sie nun Todesangst. Was der Mann mit der Pistole eben gesagt hatte, ließ nur einen Schluss zu: Peter und Jahzara waren ebenfalls in der Gewalt dieser Verbrecher. Sie schluchzte. Doch sie wusste, dass das zwecklos war und niemand sie hören würde.

 

Hauptkommissar Gert Fröbig paffte nervös eine Zigarette nach der anderen. Schweißperlen standen auf seiner Stirn. Sein Blick ging hektisch zu Commissario Toscanelli, der gebannt auf die Lautsprecher auf dem Schreibtisch starrte. Der Funkverkehr zwischen den Einsatzfahrzeugen war auf ein Minimum abgeklungen. Im Raum herrschte eine angespannte Atmosphäre. Auch der italienische Kommissar wirkte ungewöhnlich unruhig. Sein Assistent Pietro stand mit einem weiteren BKA-Beamten vor einer überdimensionalen Karte von München, die an einer Wand des provisorischen Lagezentrums im Polizeipräsidium angebracht worden war. Beide diskutierten die aktuelle Lage. Gert Fröbig hörte, wie der italienische Kollege leise fragte: »Meinen Sie, es gibt eine direkte Verbindung des Al-Sakina-Ordens zu diesem islamischen Zentrum? Oder ist es nur Zufall, dass die Wohnung, in der die Geisel festgehalten wird, so nahe an dieser Moschee liegt?«

Der deutsche Beamte flüsterte: »Das ist schwer zu beurteilen. Wir sollten uns mit voreiligen Schlüssen besser zurückhalten. Im letzten Verfassungsschutzbericht wurden die Islamische Gemeinschaft in Deutschland e.V. und ihr Initiator, der ägyptische Muslimbruder Dr. Said Ramadan, zwar erwähnt, aber die festgestellten Äußerungen der Mitglieder dieser Bruderschaft sind eher gemäßigt. Vertreter der Organisation weisen immer wieder darauf hin, dass man sich vom islamistischen Terrorismus distanziere und die Gesetze des Gastlandes zu beachten habe. Formell kann diesen Leuten nichts angelastet werden. Insofern müssen wir zunächst mal davon ausgehen, dass es Zufall ist, dass die Leute von Al Sakina Yvonne Steimer nur zwei Straßen weiter festhalten. Inwiefern es zwischen den beiden Derwischen und diesem islamischen Zentrum persönliche Kontakte gibt, weiß ich nicht. Doch das sollte uns derzeit auch weniger beschäftigen. Dafür ist die Sache zu brenzlig! Wenn das mal nur gut geht.«

Pietro starrte erneut auf die Wandkarte, auf der rote und gelbe Lämpchen den Standort der Fahrzeuge des mobilen Einsatzkommandos anzeigten. Alle hatten sich in sicherem Abstand zu einem Wohnobjekt ganz in der Nähe des islamischen Zentrums in der Wallnerstraße positioniert. Die MEK-Spezialeinheit hatte das Objekt umstellt und wartete auf den Befehl zuzugreifen. Die Kellerwohnung lag zur Gartenseite des Wohnblocks hin. Nachforschungen hatten ergeben, dass jedes der beiden Zimmer über ein kleines Fenster verfügte. Aus einer Wohnung im dritten Geschoss des gegenüberliegenden Wohnblocks ergab sich sogar ein recht akzeptables Schussfeld für Scharfschützen. Wer immer auch von den Entführern den Raum betrat, in dem Yvonne Steimer festgehalten wurde, musste von der Tür aus zwei Schritte am Kellerfenster entlanggehen. Genug Zeit für einen finalen Todesschuss, zumal sich zwei der Entführer derzeit außerhalb der Wohnung befanden. Sie fuhren durch die Innenstadt von München, standen jedoch unter Observation des MEK. Dennoch zögerte Hauptkommissar Fröbig, den Befehl zum Zugriff zu geben.

Commissario Toscanelli konnte seine Nervosität und seine Befürchtungen nicht mehr länger zurückhalten. »Kollege, tut mir leid, wenn ich das so offen sage, aber wir spielen mit dem Leben dieser Frau! Sie haben doch gehört, was dieses Schwein von Entführer eben in dem Telefonat mit Föllmer gesagt hat. Der vergewaltigt sie! Vielleicht wird sie von allen drei Entführern missbraucht. Die Scheißkerle haben doch nichts zu verlieren. Föllmer weiß jetzt, dass seine Freundin in der Hand dieser Leute ist. Er wird tun, was sie von ihm verlangen. Was bleibt ihm anderes übrig? Er ist doch offensichtlich selbst unter Kontrolle eines Mannes von Al Sakina da unten. Ich bin sicher, der Mann, der im Wagen von Föllmer und Jan-Zela sitzt, ist Sahib al Saif – der Racheengel, Statthalter des Schwertes – unser Hauptverdächtiger. Ein Auftragskiller! Dass der Typ jetzt auch noch unter dem Schutz des Gouverneurs von Timbuktu steht, macht die Dinge nicht leichter. Der legt Föllmer und Jan-Zela um, wenn er hat, was will. Und die drei Typen werden Yvonne Steimer niemals laufen lassen. Die haben sie nur für dieses Telefonat gebraucht. Ich habe ein schlechtes Gefühl. Das geht nicht gut! Die gesamte Operation läuft uns aus dem Ruder, wenn wir nicht schnell zugreifen.«

Hauptkommissar Fröbig hatte mittlerweile sein Jackett ausgezogen. In einer vertrauten Geste legte er eine Hand auf die Schulter seines italienischen Kollegen.

»Ich weiß, dass wir mit dem Feuer spielen. Es geht nicht anders. Wir müssen warten, bis die Entführer einen der beiden Derwische in Kairo anrufen. Sonst kriegen wir die Sufis nicht. Erst nach einem Anruf können wir einen Zusammenhang zwischen der Entführung und den Derwischen beweisen. Die ägyptischen Kollegen machen seit Tagen nichts anderes, als die beiden Sufis zu observieren. In dem Augenblick, in dem wir die Kollegen in Kairo anrufen und den Zugriff fordern, haben wir sie am Arsch! Ein Anruf von uns, und die Ägypter nehmen diese Ratten hops. Aber dafür müssen wir warten, bis die Entführer Kontakt mit ihren Auftraggebern aufnehmen. Danach dauert es nur Minuten, bis wir die Frau da rausholen. Lebend.«

 

Tausende Kilometer von München entfernt hatte Peter für Bruchteile von Sekunden unter dem Schock des Telefonats nicht aufgepasst. Der Geländewagen erfasste mit dem rechten Vorderrad eine kleine Wanderdüne und geriet ins Schleudern. Der tonnenschwere Land Cruiser entwickelte eine bedrohliche Eigendynamik. Die Last von Benzin, Wasser und den Vorräten auf dem Dachgepäckträger zogen das Fahrzeug mit jeder abrupten Gegenlenkbewegung extrem zur Seite. Sand wirbelte auf. Der Wagen hüpfte über kleine Sanddünen, Fahrrinnen und Steine. Nach hundert Metern gelang es ihm, das Auto am Pistenrand zum Stillstand zu bringen.

Jahzara war bei den ersten jähen Lenkbewegungen aus dem Schlaf hochgeschreckt. Ihre weit aufgerissenen Augen starrten ihn erst panisch, dann gequält lächelnd an. Mit einem schnellen Blick erfasste sie die Situation.

»Na, wo waren wir denn mit den Gedanken? Ein bisschen zu viel an Yvonne gedacht, hm?«

Peter verzog keine Miene, er starrte in den Rückspiegel. Der Mann auf dem Rücksitz war wütend. Seine Augen blitzten. Er riss sich den Schleier vom Kopf. Peter erkannte ihn sofort wieder.

Der Mann, den er in Venedig unabsichtlich fotografiert hatte, brüllte sofort los: »Verdammter Hurensohn! Ich bringe dich um, wenn du das noch mal versuchst!«

Jahzara wandte sich um. Sie sah die Augen, sah die Aggression in seinem Blick, die Pistole und registrierte Peters versteinertes Gesicht. Dann schrie sie: gellend, in Todesangst. Auch sie erkannte den Mann.

Der Araber riss ihren Kopf an den Haaren brutal nach hinten und presste den Lauf seiner Waffe an ihre Schläfe.

»Ja, ich bin es, Sahib al-Saif, Statthalter des Schwertes, Racheengel des Al-Sakina-Ordens, und endlich hab ich euch! Und damit eins klar ist: Wenn einer von euch beiden in den nächsten Tagen irgendwelche Tricks versucht oder Anstalten macht, zu fliehen, erschieße ich euch sofort. Alle beide! Ihr habt mir schon so viel Ärger bereitet, dass ich euch am liebsten jetzt gleich eine Kugel in den Kopf jagen würde. Aber leider brauche ich euch noch.« Zu Peter gewandt, der apathisch durch die Windschutzscheibe stierte, zischte der Araber: »Denk an deine Freundin in München. Machst du noch mal so eine Scheiße, siehst du sie nie wieder.«

Bei den letzten Worten des Arabers zuckte Jahzara zusammen. Zitternd blickte sie auf.

Peters Stimme verriet ihr, dass auch er grenzenlose Angst hatte.

»Die haben Yvonne. Sie haben sie in München als Geisel genommen. Sie hat eben, als du eingenickt bist, angerufen. Tut mir leid, Prinzessin.«

Nach einer Stunde marternder Gedanken kam Peter zu dem Schluss, dass die Situation nahezu aussichtslos war. Eine vage Hoffnung hatte sich in ihm breitgemacht, als er an das Schreiben dachte, das er dem Bezirksvorsteher in Likrakar übergeben sollte. In der Einöde einer versandeten Ebene mit nur einigen wenigen Akaziensträuchern tauchten vereinzelte Lehmhäuser auf. Kinder winkten ihnen zu. Er traute sich nicht, die freundlichen Grüße zu erwidern. Im Vorbeifahren sah er ein großes Plakat mit dem Namen Sundance. Eine Schweizer Flagge und einige Worte auf dem Plakat ließen ihn erahnen, dass hier eine Schweizer Hilfsorganisation Solaranlagen und Brunnen baute. Aber nirgendwo war ein weißes Gesicht zu sehen. Die letzte Hoffnung schwand mit dem letzten Lehmhaus. Der Araber forderte ihn wortlos auf, weiterzufahren.

Peter begriff nun, dass auch der Gouverneur von Timbuktu Teil dieser Verschwörung war. Der ganze Handel um Genehmigungen war ein Täuschungsmanöver gewesen. Das Geld hatte er völlig umsonst bezahlt. Der Gouverneur hatte fraglos schon vor ihrer Ankunft gewusst, was sie vorhatten. Der Araber hatte sie in Timbuktu bereits erwartet. Wie Idioten waren Jahzara und er in die Falle getappt! Er dachte angestrengt nach. Yvonne war in München in der Gewalt dieser Verbrecher. Hatte sie überhaupt eine Chance, das zu überleben? Hatten Jahzara und er eine Chance, hier lebend rauszukommen? Kaum! Diese Männer wollten den Schatz, die Karawane. Oder waren sie noch hinter etwas anderem her? Sie wussten, dass er und Jahzara die Unterlagen und das Wissen besaßen, die sie zu dem Schatz führen könnten. Sollte es die Karawane wirklich geben, wäre es nur eine Frage der Zeit, bis diese skrupellosen Männer sie beide töten und in der Sahara verscharren würden. Yvonne konnten sie wohl kaum am Leben lassen. Also war die Situation ausweglos. Woher sollte Hilfe kommen?

Plötzlich schoss ihm ein Gedanke durch den Kopf. Ja, das war es! Nur wenn Jahzara und er überlebten, gab es auch eine theoretische Chance, Yvonne zu retten. Eine theoretische. Mehr nicht! Bei seinen Gedanken an Yvonne füllten sich seine Augen mit Tränen. Schemenhaft nahm er zwei Kamele am Straßenrand wahr. Die Bastkörbe beidseitig der Höcker waren mit Salzplatten beladen. Die Reiter, Tuareg in blauen Gewändern, winkten. Sie mussten mittlerweile ungefähr 20 Kilometer von Timbuktu entfernt sein. Hier in der Nähe verlief die alte Karawanenroute nach Taoudenni, im äußersten Norden von Mali, wo seit Jahrhunderten Salz gewonnen wurde. Er dachte an den Korridor von Koordinaten, in dem sich die verlorene Karawane damals westwärts bewegt haben musste. Ein Funken Hoffnung machte sich in ihm breit. Wenn es einen Ausweg aus dieser Lage gab, dann waren es diese Koordinaten. Noch besaß nur er sie.

Aus dem Augenwinkel heraus sah er zu Jahzara. Sie wirkte apathisch, den Kopf gegen das Fenster gelehnt, in dumpfen Gedanken. Es war ein erbärmlicher Anblick. »Beschützen musst du mich«, hatte sie noch vor zwei Tagen scherzhaft zu ihm gesagt. Scheißkerle, elendige Scheißkerle! Widerstand gegen die vermeintliche Aussichtslosigkeit ihrer Situation wallte in ihm auf. Er hatte eine Idee, ja. Ob es funktionieren würde, wusste er nicht. Aber es war eine kleine Chance.

 

Das Klingeln des Handys erzeugte Unmut bei Abdul Qadir Dschila. Er war ohnehin den ganzen Tag über sehr gereizt gewesen. Die Luft in Kairo war kaum mehr dazu in der Lage, seiner alten Lunge Sauerstoff zuzuführen. Seit drei Tagen gab es in Heliopolis keinen Strom mehr. Zu allem Überfluss war vor wenigen Stunden auch noch der Generator ausgefallen. In seinem Haus war es stickig. Eigentlich hatte er fernsehen wollen. Aber aus den Nachrichten würde nun nichts mehr werden. Was, so dachte er sich, schert mich alten Mann noch, was irgendwo auf der Welt geschieht? Für ihn waren die Errungenschaften der Neuzeit – Fernsehen, Telefon, Handys und Flugzeuge – nur für kurze Zeit vom Reiz des Neuen und Fantastischen belegt gewesen. Seit es all diese technischen Spielzeuge gab, war sein Leben hektischer geworden. Was hatte es ihn früher interessiert, ob in Bagdad eine Bombe explodiert war? Was hatte er mit den Problemen eines Putins in Moskau oder des Bürgermeisters von New York zu tun gehabt? Nichts! Nachrichten, so war ihm längst bewusst geworden, waren in dieser Zeit meistens nur schlechte Nachrichten. Und die mochte er überhaupt nicht. Entsprechend missmutig nahm er das Gespräch an.

»Ja?«

Er erkannte die männliche Stimme am anderen Ende der Leitung. Diesen Anruf hatte er seit Stunden erwartet. Aufmerksam lauschte er. Ein zufriedenes Lächeln huschte über sein Gesicht.

»Sehr gut! Und unser Mann in der Wüste weiß Bescheid?«, fragte er.

In dem Moment ahnte der alte Sufi nicht, dass er mit dieser Frage eine der größten, weltweit angelegten Operationen der Abteilung Staatsschutz des deutschen Bundeskriminalamtes auslösen würde. Vertrauend auf seinen bislang nahezu ungetrübten mehrjährigen Aufenthalt in Ägypten, auf seine innige Freundschaft mit einigen honorigen ägyptischen Politikern und wissend, dass in Ägypten neben der Macht des Präsidenten noch die Macht des Glaubens an den Allmächtigen die Räder der Zeit langsam vorwärtstrieb, plauderte der Greis recht lange mit dem Anrufer aus München. Hämische Freude überlagerte schließlich seine Verärgerung über den Stromausfall und das grausame Wetter in Kairo. Endlich! Nun konnte eigentlich nichts mehr passieren. Alles lief wie geplant. Es war nur noch eine Frage der Zeit. So, als habe er nie in seinem Leben auch nur einer Fliege etwas zu Leide getan, redete er so unbefangen und fröhlich am Handy, dass ihn erst das laute Knattern eines Hubschraubers über seinem Haus aus seiner euphorischen Stimmung riss.

Was, zum Shaitani, fragte er sich, macht der Hubschrauber hier? Und warum fliegt er so niedrig? Dann hörte er seltsame Geräusche auf seinem Dach.

»Abdullah! Abdullah!«, rief er nach seinem Hausangestellten. Er war zu erschöpft, um selbst nachzuschauen, was da draußen vor sich ging. Abdullah antwortete nicht. Der Hubschrauber schien sich wieder zu entfernen.

Abdul Qadir Dschila setzte sich in einen Sessel. Er wollte soeben nach einem Buch greifen, als die Scheibe hinter ihm klirrend zerbarst. Glassplitter flogen in das Zimmer. Er glaubte, sein Herz würde stehen bleiben. Panisch drehte er sich im Sessel um. Die Männer, die durch das Fenster sprangen, trugen Maschinenpistolen. Dann flog die Tür zu seinem Salon aus den Angeln. Noch mehr Männer in Uniform, mit Waffen und verhüllten Gesichtern stürmten durch die Tür. Abdul Qadir Dschila griff sich an die Brust. Sein Herz schlug erst sehr schnell, setzte dann aus, schlug daraufhin noch viel schneller. Seine kleinen Augen konnten dem, was da so irrsinnig schnell um ihn herum geschah, nicht folgen. Dann traf ihn ein Gewehrkolben am Hinterkopf. Es war ein harter Schlag. Zu hart für einen alten Mann. Blut spritzte aus seinem rechten Ohr.

Der maskierte ägyptische Polizist, der wenige Minuten später dem auf dem Boden liegenden Derwisch die Halsschlagader abtastete, nickte mitleidslos und sagte auf Arabisch: »Ein Problem weniger in unserem Land. Ruft die Kollegen in Deutschland an und drückt unser Bedauern aus, dass beide Derwische des Al-Sakina-Ordens bei Fluchtversuchen ums Leben gekommen sind.«

 

Yvonne hockte mit auf dem Rücken zusammengebundenen Händen in der Ecke des Zimmers. Ihre Bluse war blutüberströmt. Sie wollte schreien, aber der Knebel in ihrem Mund machte es ihr unmöglich, ließ ihre Angst zu einem entsetzten Gurgeln werden. Ihre weit aufgerissenen Augen starrten auf den jungen Mann mit dem schwarzen Haar, der reglos zwischen ihren Beinen lag. Eben noch hatte er vor ihr gestanden, hatte seine Sturmmütze ausgezogen, hatte sie triumphierend angegrinst und wollte gerade den Gürtel seiner Hose öffnen, als er plötzlich in ihre Richtung geschleudert worden war. Es war ein Araber und er hatte ein hübsches Gesicht gehabt, das nun grässlich entstellt war. Die Hälfte seines Hinterschädels fehlte. Blut rann aus seinem Kopf über ihre Beine.

Yvonne konnte sich nicht erklären, was geschehen war. Im Zimmer war es still. Da war niemand. Nichts war geschehen: kein Knall, keine Explosion. Alles war wie vorher. Nur in der Scheibe des Kellerfensters war ein kleines Loch. Der Araber war einfach tot auf sie gestürzt. Auf einmal hörte sie im Haus Getrampel und Stimmen. Sie erstarrte, ihr Herz schlug rasend schnell. Die beiden anderen Entführer! Was würde nun mir ihr geschehen?

Mit einem ohrenbetäubenden Knall flog ihr das Türblatt entgegen. Überall qualmte es. Das Erste, was sie sah, war ein Kopf mit einer schwarzen Sturmmaske. Zwei Augen trafen ihren Blick. Dann stürmten andere Männer in Overalls in das Zimmer, mit Schnürstiefeln und Waffen. Alle trugen Sturmmasken – aber alle blieben vor ihr stehen. Ihre Körpersprache signalisierte Yvonne, dass sie ihr nichts tun wollten. Sie fühlte sich leer, konnte nicht mehr denken. Das Einzige, was sie fühlte, war das warme Blut des Toten auf ihren Beinen. Bevor sie ohnmächtig wurde, nahm sie noch eine Frau mit langen, blonden Haaren und einem besorgten Gesichtsausdruck wahr. Sie trug eine bayerische Polizeiuniform. Neben ihr stand ein Mann, den sie aus Venedig kannte: Commissario Toscanelli.