10.

 

Hwotash Negash war enttäuscht. In der Hotellobby saß niemand mehr. Die Bar im Erdgeschoss war ebenfalls gähnend leer. Die wenigen Touristen, die zum Abendessen gekommen waren, hatten sich bereits auf ihre Zimmer zurückgezogen. Sie kamen ohnehin nicht in Betracht, denn es waren vornehmlich ältere Paare. Die drei alleinstehenden Männer der Reisegruppe waren ihr zu alt. Wie es aussah, würde sie an diesem Abend ohne einen Dollar in der Tasche nach Hause gehen. Die Situation beunruhigte sie. Seit drei Tagen lief hier absolut nichts. Und im Gihon-Hotel hatte sie Hausverbot. Ein Kunde, ein fetter Amerikaner mit einem Pockennarbengesicht, hatte sie dort vor einer Woche reingelegt. Erst hatte er sie auf seinem Zimmer zwei Stunden lang mit unglaublich perversen Praktiken gedemütigt. Für 100 Dollar hatte sie es über sich ergehen lassen. Das war nun mal ihr Job. Als sie dann das Zimmer verlassen hatte und gerade am Sicherheitsbeamten des Hotels vorbeigehen wollte, war der Dicke angerannt gekommen und hatte dem Sicherheitsmann gesagt, er vermisse 100 Dollar. Wenn die junge Reiseleiterin, mit der er sich im Zimmer über seine Reisepläne am Tanasee unterhalten habe, das Geld freiwillig zurückgäbe, würde er auf die Einschaltung der Polizei verzichten. Reiseleiterin hatte dieser Scheißkerl sie genannt! Als Hure hatte er sie mit aufs Zimmer genommen, sonst nichts. Aber was war ihr anderes übriggeblieben, als das Geld rauszurücken?

Kein Polizist, kein Hotelangestellter störte sich normalerweise daran, dass Prostituierte in der Lobby ihre Freier suchten. Prostitution war in Äthiopien gang und gäbe. Wo Armut herrscht, verkauft jeder, was er noch hat: Körper und Seele, Stolz und Selbstachtung. Aber wenn dann ein Kunde oder gar ein Tourist mit derart üblen Methoden nach der Polizei rief, kam die auch. Und das endete stets übel für die Mädchen. Die Polizisten nahmen ihnen alles Geld weg, sperrten sie ein – und missbrauchten sie in der Arrestzelle. Polizisten waren, wie viele Staatsbeamte in Äthiopien, korrupte Despoten.

Hwotash Negash versank in tiefe Nachdenklichkeit. Seit drei Jahren hatte sie keinen Job mehr. Doch sie hatte ein Kind, das sehr krank war und Medizin brauchte. Notgedrungen verkaufte sie ihren Körper. Sie war sehr hübsch. Die Männer aus Europa und Amerika mochten ihre kecken, blond gefärbten Rastalocken, die ihr bis zum Po gingen. Und sie hatte sehr schöne, große Augen. Die Natur hatte ihr von allem, was Männer mögen, viel gegeben. Und sie war jung. Übermorgen würde sie 18 werden. Ein Tourist, eine schnelle Nummer, und eine kleine Geburtstagsfeier wäre gesichert. Aber danach sah es nicht aus. In den letzten beiden Jahren war es ohnehin immer schwieriger geworden. Der Schöpfer hatte sich ein bizarres System ausgedacht, um das von Kriegen und Dürren heimgesuchte äthiopische Volk zu schinden. Regnete es nicht, verdorrten erst die Felder, dann starben Kühe, Ziegen und Schafe und schließlich die Menschen. Da das weltweit in den Zeitungen stand, kamen keine Touristen mehr, weil sie aus Pietät nicht in einem Land Urlaub machen wollten, in dem die Hungernden auf den Straßen lagen. Wodurch dann ein, zwei Jahre später noch mehr Menschen hungerten, weil die Hotels leer blieben und die Angestellten in ihre Dörfer zurückgeschickt werden mussten. Dorthin, wo der größte Hunger herrschte. Es war ein zynischer Kreislauf. Auch sie litt darunter. Über eine Stunde war sie heute vergeblich draußen auf der Terrasse mit dem herrlichen Blick über den See auf und ab gegangen. Nichts war gelaufen. Nur der Oberkellner hatte gefragt, ob er sie mal bumsen dürfe. Sie hatte ihn gelassen, weil er der Sohn des Hoteldirektors war und das Hotel einer staatlichen Gesellschaft gehörte und sie vom Stillschweigen des Hotelmanagements abhängig war.

Die Saison fing gerade erst an. Es sah nicht viel versprechend aus. Immer weniger Besucher kamen an den Tanasee, um die Quellen des Weißen Nils oder die uralten Klöster auf den Inseln zu sehen. Missmutig stand sie auf und verließ durch den Hintereingang das Hotel. Im Garten war es stockdunkel. Sie hoffte nur, dass ihr keine Polizisten begegneten, die Tribut für etwas einfordern würden, was sie heute nicht getan hatte. Wenn sie Pech hatte, war es eine Streife mit drei oder gar vier Polizisten.

Plötzlich schrak sie aus ihren Gedanken hoch. Aus dem Schatten eines Kasuarine-Baumes trat ein Mann hervor. Der vagen Hoffnung, es sei ein Tourist, folgte die große Enttäuschung. Es war ein Priester. Im Halbschatten sah er in seinem schwarzen Anzug mit dem weißen Stehkragen gut aus. Er war höchstens Mitte 40, hatte ein sehr markantes Gesicht mit einer auffallend schmalen Nase und rauchte eine Zigarette. Der Mann sah wie ein Araber aus. Seltsam, dachte sie. Ein Araber in einem christlichen Priestergewand! Priester und Mönche aus fernen Ländern waren hier zwar nichts Ungewöhnliches. Die Relikte des frühen Christentum, des einstigen Aksums und Abessiniens, bescherten dem Land viele heilige Kirchenmänner. Aber ein Araber, der sie zudem noch so gierig anschaute? Sie kannte diesen taxierenden Blick. Alle Männer, die Sex von ihr wollten, starrten so schamlos auf ihren üppigen Busen. Es irritierte sie, dass ein Priester es tat. Egal, dachte sie, auch Priester sind Männer.

Der Mann kam direkt auf sie zu. Sie spürte, was er wollte. Und sie signalisierte, dass sie bereit war zu geben, was er suchte.

»Hallo, junge Frau«, murmelte er in Englisch. Er hatte einen eigentümlichen Akzent. »Ist wohl niemand mehr hier, mit dem ich ein wenig plaudern kann. Alle schon brav im Bett.«

Sie lächelte kokett zurück, damit der Mann verstand, dass er nicht mehr um den heißen Brei reden musste.

»Bist du hier aus der Gegend?«

Erst in dem Moment bemerkte sie, dass er ein Kreuz auf der Stirn eintätowiert hatte. Die Haut dort war eigentümlich hell.

»Ja, ich bin aus Forae Jesus, am Westufer des Tanasees. Ein kleines Dorf.«

»Ein schöner Name für ein Dorf in Äthiopien: Marktplatz Jesu – oder so ähnlich heißt das wohl. Wirklich ein ungewöhnlicher Name.«

»Ich habe auch einen schönen Namen«, lockte sie.

Sein Augenaufschlag ließ sie erkennen, dass er ihre Nachricht verstanden hatte. »Und wie heißt du?«

»Hwotash, Hwotash Negash! Hwotash ist Amharisch und bedeutet ›offen‹. Ich bin offen für vieles!«

Der Priester starrte sie lüstern an. »So, du bist also offen für alles Schöne auf dieser Welt? Na, dann komm. Wir machen es uns gemütlich und plaudern ein wenig. Ich habe Getränke in der Minibar auf dem Zimmer. Wie du siehst, bin ich Priester, ein heiliger, ein keuscher Mann.«

Der Fremde war kein Priester, das wusste Hwotash Negash bereits nach einer Viertelstunde. Er trug weder Demut noch Keuschheit in sich. Im Hotelzimmer wurde er zu einem Tier mit bösartigen Augen. Er nahm sie so brutal, dass sie am liebsten geschrien hätte. Nach wenigen Minuten war er fertig und ging ins Bad, ohne sie anzuschauen. Ihr vor Ekel und Schmerz verzerrter Blick huschte durch den Raum. Da waren nur ein sehr kleiner Koffer und eine Tasche, nicht das typische Reisegepäck eines Touristen. Hier stimmte etwas nicht. Angst überkam sie. Hastig sprang sie auf.

Geld! Hol dir, was dir zusteht! Denk nur an dein Kind! Leise öffnete sie den Reißverschluss seines Koffers. Er war gefüllt mit arabischen Kleidungstücken. Obenauf lag das Foto einer Frau. Sie war sehr schön, sah wie eine Äthiopierin aus und trug eine Kette mit einem Kreuz um ihren Hals. Das andere Foto zeigte einen Europäer. Ihre Hand tastete im Koffer nach einer Geldbörse. Ihr Puls raste. Plötzlich fühlte sie einen harten, glatten Gegenstand auf ihrer Haut. Sie erstarrte. Eine Pistole!

»Nicht doch, Süße!« Die eiskalte Stimme des Mannes ließ sie herumwirbeln. Nackt und hässlich stand er vor ihr. Er lachte dämonisch.

»Ich habe nach einem Taschentuch gesucht«, log sie stotternd. Seine geröteten Fischaugen ließen sie erstarren.

»Ich bin sehr enttäuscht von dir, wirklich! Du würdest doch auch so bekommen, was dir zusteht. Aber nein, du willst mich bestehlen. Mich, einen Mann Gottes! Aber ich verzeihe dir, du prachtvolles Geschöpf Gottes! Komm, zieh dich an. Ich bringe dich bis zur Straße, damit dir draußen im Park nichts zustößt. Nachts sollten kleine Mädchen nicht allein herumlaufen.«

Sie gingen unter riesigen Tulpenbäumen am See entlang. Die gelb-orangefarbenen, sehr fleischigen und fast faustgroßen Blüten rochen betörend. Plötzlich presste sich seine linke Hand auf ihren Mund. Es war eine kräftige Hand mit vielen Schwielen. Nicht die sanfte Hand eines Gottesmannes. Angststarre bemächtigte sich ihres Körpers, und sie ergab sich ihrem Schicksal wie eine Gazelle, die von einem Löwen gerissen wird. Dann hallte das Plopp aus einer Pistole mit Schalldämpfer über den Tanasee.

Die 17-jährige Hwotash Negash aus dem Dorf Forae Jesus am Tanasee im Nordwesten Äthiopiens spürte nicht, wie ein Bleigeschoss mit Stahlmantel vom Kaliber .22 durch ihren Kopf drang. Wenig später trieb ihr lebloser Körper in den Fluten des Sees in Richtung der Klosterinsel Cherkos davon.

 

»Pietro, tut mir leid, ich hab das nicht so gemeint!« Commissario Toscanelli hatte so unflätig geflucht, dass er sich bei seinem Assistenten entschuldigen musste. Er war extrem angespannt. Seit einigen Tagen lag dichter Herbstnebel über Venedig. Die Stadt schien von einem mächtigen Wattebausch eingepackt zu sein. Selbst die ansonsten alles übertönenden Glocken von San Marco hörten sich an, als kämen sie aus einer gedämpften Welt. Der Nebel machte ihm zu schaffen. Nebulös gestalteten sich auch die Ermittlungen. Er versuchte, seine Gereiztheit nicht weiter an seinem Mitarbeiter auszulassen.

»Über diesem Fall liegt ein Fluch! Ganz im Ernst, Pietro. Manchmal habe ich das Gefühl, als sei eine imaginäre Macht am Werke. Da bitten wir schon mal Interpol um Amtshilfe, und prompt wird uns mitgeteilt, dass die Akte aus so genannten übergeordneten staatlichen Interessen derzeit nicht verfügbar sei. Aber wohin sie geschickt wurde, sagt man uns auch nicht. Was drin steht, schon gar nicht. Die ägyptischen Kollegen wiederum schweigen wie die Mumien in den Pharaonengräbern. Was immer wir auch anfragen, in Kairo weiß man angeblich nichts darüber. Charles Bahri? Noch nie gehört. Er war weder amtlich gemeldet noch als Besitzer eines Hauses an der Küste registriert. Und Eigentümer eines Buchladens in Kairo war er angeblich auch nicht. Ich sage Ihnen, Pietro, diese Araber gehen mir gewaltig auf die Nerven. Und nicht nur die. Aus Rom ereilt uns über unseren werten Herrn Polizeipräsidenten quasi päpstlicher Tadel, weil wir angeblich nicht in der Lage seien, den heimtückischen Mord an zwei unschuldigen Glaubensbrüdern aufzuklären. Ja, wie denn auch, Pietro? Das Ganze stinkt doch zum Himmel! Da ist was faul.«

Der Commissario stapfte missmutig durch sein Büro. Pietro kannte diese Stimmung seines Chefs. Er setzte an, etwas zu sagen, aber sein Vorgesetzter ließ ihn nicht zu Wort kommen.

»Woher wusste, zum Beispiel, der Mörder von Charles Bahri, wo sich der Alte in dem Kloster aufhielt? Der ist doch nicht in der Kutte des toten Mönches ziellos durch San Francesco del Deserto geirrt und hat Bahri gesucht! Der wusste genau, wo er ihn finden würde! Außerdem haben es die Franziskaner bis heute abgelehnt, uns mitzuteilen, warum ihr einstiger Mitbruder Charles Bahri aus dem Orden ausgeschlossen wurde. Dieser Tage war ein Vertreter vom Ordo Fratrum Minorum, also vom Orden der Minderen Brüder, wie sich die Franziskaner selbst bezeichnen, da. Der war so nett und freundlich und so unglaublich heilig, dass ich mich beinahe entschieden hätte, ins Kloster einzutreten. Ehrlich, ich war kurz davor, mich vor ihm in den Staub auf den Boden zu werfen, so erhaben redete der daher. Zum Abschluss hat der dann gesagt, dass er, als unbedeutendes Sandkorn im Meer der Diener Gottes leider keinen Einfluss darauf habe, wenn der Heilige Vater dem verehrten Herrn Innenminister sein Missfallen über die Ermittlungen der venezianischen Polizei in den Ordensinterna der Franziskaner kundtun würde. Pietro, der hat Druck ausgeübt! Mit der Stimme eines Lammes – aber knüppelhart. Der will, dass wir die Ermittlungen über Charles Bahri einstellen. Die Vergangenheit, so sagte er, solle man ruhen lassen, den Blick in die Zukunft lenken. Wortwörtlich hat der das gesagt! Und jetzt auch noch das!«

Commissario Toscanelli ging zu seinem Schreibtisch und nahm eine Nachricht der Europolzentrale zur Hand. Der für Terrorismusbekämpfung zuständige italienische Europol Liaison Officer in Den Haag hatte gute Arbeit geleistet. Ein internationaler Datenabgleich hatte Erstaunliches ergeben.

»Chef, wir müssen uns wirklich keine Vorwürfe machen«, schaltete sich Pietro nun ein. »Wer kommt schon auf die Idee, dass der vermeintliche Täter nicht direkt, sondern über Umwege nach Ägypten flieht. Wer fährt schon gen Norden, wenn er eigentlich in den Süden will? Genau das hat der Mistkerl getan. Der hat uns an der Nase herumgeführt.«

»Das war ein Profi, Pietro. Glauben Sie es mir. Der hat das nicht zum ersten Mal gemacht. Erst fährt er, völlig unauffällig, mit dem Zug von Venedig nach Verona, bucht dort unter dem Namen Ghoumal bei Germanwings einen Flug, storniert den kurz vor Abflug und düst dann zwei Tage später unter dem Namen Ben Allouh von Verona zum Flughafen Köln/ Bonn, wo sich seine Spur erst mal verliert. Dann taucht er plötzlich auf der Passagierliste der Ethiopian Airlines von Frankfurt nach Addis Abeba mit Anschlussflug nach Kairo auf. In der äthiopischen Hauptstadt ist er offensichtlich auch angekommen, obwohl uns die Bestätigung der Fluggesellschaft für den Flug von Addis nach Kairo noch nicht vorliegt. Unser Mann ist also offensichtlich Ägypter. Der sitzt jetzt irgendwo im Schatten der Pyramiden und grinst vor sich hin. Wie und wo auch immer: Husch, weg ist er!«

Pietro war den Ausführungen seines Vorgesetzten nicht wirklich gefolgt. Sein Blick war auf eine Nachricht der Kollegen aus Deutschland gerichtet, die vor wenigen Minuten reingekommen war. Dem Fax war ein Foto beigefügt. Erstaunt riss er die Augen auf. »Das ist ja… nicht zu glauben! Unser Tedesco, dieser Deutsche, Peter Föllmer, hat einen Flug gebucht: von Frankfurt nach Addis Abeba. Und zwar nicht allein!«

Commissario Toscanelli schluckte erstaunt. »Nach Addis Abeba? Äthiopien? Mit seiner Freundin… dieser Yvonne Steimer?«

»Nein, Chef, unser mysteriöser Geograf plant keineswegs, mit seiner Freundin zu verreisen. Er hat sich offensichtlich neu orientiert. Glücklicherweise haben wir ihn zur weltweiten beobachtenden Fahndung ausgeschrieben. Peter Föllmer beabsichtigt mit einer sehr attraktiven jungen Frau gen Afrika zu düsen: mit Jahzara Jan-Zela, äthiopische Staatsangehörige, achtundzwanzig Jahre jung, geboren in Bahir Dar, Äthiopien. Hier, schauen Sie sich mal die Kopie des Passfotos an, das uns die Kollegen geschickt haben.«

Commissario Toscanelli nahm das Fax in die Hand. Ungläubig schaute er seinen Kollegen an. »Das ist doch nicht möglich! Das ist doch die Frau, die dieser Föllmer auf dem Vaporetto hier in Venedig fotografierte und dabei angeblich zufällig unseren Hauptverdächtigen ablichtete! Wahnsinn! Er hat doch gesagt, dass er sie nicht kennt, oder? Und jetzt fliegt er mit dieser schwarzen Schönheit nach Äthiopien – und damit genau dorthin, wo der Mordverdächtige auch hingeflogen ist? Pietro, entweder die drei kennen sich, haben uns also belogen. Oder diese Äthiopierin schwebt in größter Lebensgefahr. Und Föllmer auch.«

»Das sehe ich ebenfalls so, Chef. Wer weiß, ob unser Tatverdächtiger überhaupt von Addis Abeba nach Kairo geflogen ist? Vielleicht ist der in der äthiopischen Hauptstadt geblieben, weil er wusste, dass dieser Föllmer oder diese Äthiopierin auch dorthin fliegen werden. Der Mörder ist ihr Schatten. Wo sie sind, ist er auch – und zwar schon vorher! Stellt sich doch die Frage, woher der immer weiß, wo die beiden sind und was sie planen. Der will was von denen. Aber was, zum Teufel – «

Pietro brach abrupt ab, sein Blick haftete auf der zweiten Seite der Nachricht. Über den Zeilen stand »STRENG GEHEIM«. »Na, sauber, das fehlt uns gerade noch«, murmelte er vor sich hin. Toscanelli schaute ihn fragend an. »Commissario, jetzt wird es kompliziert. Die Abteilung Terrorismus des Deutschen Bundeskriminalamtes teilt nachrichtlich zu unserer Kenntnisnahme mit, dass der Name Ben Allouh, also der Name, unter dem unser Tatverdächtiger von Verona nach Köln geflogen ist, im Rahmen internationaler Ermittlungen gegen eine extremistische islamische Organisation aufgetaucht ist. Moment, ich lese mal vor. ›Der von Ihnen zur Fahndung ausgeschriebene Tatverdächtige namens Ben Allouh ist mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit identisch mit einem bei verschiedenen westlichen Staaten wegen Mitgliedschaft in einer extremistischen islamischen Vereinigung und wegen Mordverdachtes gesuchten Täter, der sich Sahib al Saif oder auch Dhul-Fiqar nennt. Der Name Sahib al Saif kann, in Anlehnung an islamische Mythologien als Statthalter des Schwertes übersetzt werden. Nachrichtendienstliche Erkenntnisse gehen davon aus, dass der Gesuchte ein so genannter Racheengel, also Auftragsmörder, einer Organisation mit dem Namen Al Sakina ist. Für weitere Informationen bitten wir aus Gründen der Geheimhaltung um persönliche Kontaktaufnahme mit dem Bundeskriminalamt.‹«

Commissario Toscanelli schritt hektisch durch sein Büro. »Ist ja irre! Pietro, ich denke, hier besteht Gefahr im Verzug. Da läuft was in Äthiopien. Wir sollten den Kollegen dort Bescheid sagen, was sich in ihrem Land zusammenbraut. Aber schreiben Sie ihnen auch, dass sie dieses Trio nur beobachten und nur einschreiten sollen, wenn es unbedingt erforderlich ist. Hinter dieser ganzen Sache stecken andere Leute. Da bin ich mir sicher. Um was es letztendlich geht, weiß ich nicht. Doch ich will die Hintermänner haben. Und den Mörder der beiden Mönche. Und zwar möglichst lebend. Ich hoffe nicht, dass es schon zu spät ist. Leider habe ich das unrühmliche Gefühl, dass dieser islamische Racheengel uns um einige Schritte voraus ist.«

 

Sahib al Saif fluchte. Sosehr er auch mit der Bürste rubbelte und sich Salbe auf die Stirn schmierte, das Kreuz wollte nicht ganz verschwinden. Was er sich vor einigen Wochen als Trick ausgedacht hatte, um sich besser unter den koptischen Christen in Ägypten bewegen zu können, entwickelte sich zu einem ernsthaften Problem. Dieser Bahri, das hatten ihm seine Auftraggeber gesagt, kannte in Ägypten viele Kopten. Auch sein Ferienhaus am Roten Meer stand in einer Siedlung, in der sich ausschließlich koptische Christen aus Ägypten ein Haus gekauft hatten. Viele von ihnen hatten ein tätowiertes Kreuz auf der Stirn. Insofern war es ein cleverer Schachzug gewesen, sich als Christ zu tarnen. Aber dieses kleine Kreuz, das er sich von seinem Freund mit Tätowierungstinte auf seine Stirn hatte aufmalen lassen, war tief in die Haut eingedrungen. Mit Wasser und Seife war die Tinte nicht wegzukriegen. In Venedig hatten ihn deswegen viele Leute verwundert angestarrt, weshalb er sich für die Fahrt zu dem Kloster ein Pflaster auf die Stirn geklebt hatte. Leider war er damit noch auffälliger geworden. Er, als gläubiger Moslem, empfand dieses Zeichen längst als Teufelsmal. Durch das viele Rubbeln und die Cremes war die Haut auf der Stirn auffällig hell geworden. Solange er sich am Tanasee im Schutz der Nacht bewegte, fiel nicht auf, dass es kein äthiopisches, sondern ein ägyptisch-koptisches Kreuz war. Bei Tageslicht würde es ohne Pflaster allerdings nicht gehen. Dann würde er noch mehr Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Und das war das Letzte, was er gebrauchen konnte, wenn die beiden hier auftauchten.

Verdammt! Diese Hure hatte die Dinge kompliziert. Was musste das dumme Ding auch in seinem Koffer herumstöbern? Wahrscheinlich hatte sie nicht nur die Bilder, sondern ebenso die Waffe gesehen. Das Risiko war ihm zu groß gewesen. Er hatte sie unmöglich am Leben lassen können. Eigentlich war es schade um die Kleine. Sie war sehr hübsch und jung gewesen. Aber eben nur eine Hure.

Abrupt richtete er sich auf. Die Klimaanlage trocknete seine Kehle aus. Doch er traute sich nicht, das Fenster zu öffnen. Er war sich sicher, dass es hier Moskitos gab. Vor Malaria hatte er panische Angst. Eigentlich gab es nur wenige Dinge, vor denen er Angst hatte: Schlangen, Malaria und – wie jeder Moslem – vor unreinen Hunden. Wenn die Dinge allerdings wie geplant liefen, würde er spätestens in drei, vier Tagen wieder im Flugzeug zurück nach Ägypten sitzen. Sicherlich würden die beiden diese Karte oder zumindest eine Kopie bei sich haben. Hoffentlich! Er stand unter enormem Erfolgsdruck. Diese ganze Sache gefiel ihm längst nicht mehr. Er hasste es, Aufträge durchzuführen, von denen er nichts Genaues wusste. Hinter diesem Auftrag, das war ihm längst klar geworden, steckte mit Sicherheit mehr, als Abdul Qadir Dschila und Hasan al-Basri ihm erzählt hatten. So untadelig der Ruf dieser beiden Derwische auch war und so verwerflich es war, die Ehrenhaftigkeit der beiden Sufis anzuzweifeln, so sehr war ihm doch in der letzten Zeit bewusst geworden, dass sie ihm nur einen Teil der Geschichte erzählt hatten.

Er erinnerte sich an ihr letztes Zusammentreffen in Kairo, in der Amr-Ibn-el-As-Moschee. Was sie ihm damals von diesem Ding, das die Juden Aron ha’brit nennen, erzählt hatten, mochte ja stimmen. Vielleicht traf es auch zu, dass dieses Ding eigentlich den Moslems gehörte und dass mit der Rückkehr eine neue Zeit beginnen würde. All das hatte er geglaubt. Aber dann hatte er Hasan al-Basri zwei Stunden später zufällig im Laden von Mohammed Agiza gesehen. Das hatte ihn sehr nachdenklich gestimmt. Er kannte Mohammed. Sehr gut sogar. Der Typ ging über Leichen. Im wahrsten Sinne des Wortes. Wenn irgendwo in Ägypten wertvolle Kunstschätze illegal verschoben wurden, dann hatte er mit Sicherheit seine Finger im Spiel. Dass ausgerechnet der ehrwürdige Sufi Hasan al-Basri den Kunsträuber Mohammed Agiza in seinem Geschäft besucht hatte, und das zwei Stunden nach ihrem Treffen in der Moschee, war sicherlich kein Zufall gewesen. Entsprechend hatte er sich bei Freunden kundig gemacht über Aron ha’brit. Erste Rückmeldungen hatte er schon bekommen. Alles klang sehr mystisch. Von einem Meer der Finsternis war da die Rede, von Gog und Magog und einem Schatz. Alles an diesem Auftrag war irgendwie mysteriös und verworren! Mit dieser schwarzen Frau hatte es in Venedig angefangen. Irgendwie hatte sie bemerkt, dass er ihr folgte. Dann tauchte noch dieser seltsame Europäer auf, der scheinbar versucht hatte, ihn zu fotografieren. Das beunruhigte ihn maßlos, seit er wusste, dass ebendieser Europäer mit der Äthiopierin in Lissabon gewesen war und nun mit ihr an den Tanasee kommen würde. Wie war das zu erklären? Im Zusammenhang mit den neusten Entwicklungen drängten sich ihm ohnehin viele Fragen auf. Die Sufis hatten genau gewusst, in welchem Zimmer der alte Mann in dem Kloster wohnte. Sie kannten die Pläne des Klosters. Gab es in dem Kloster der Franziskaner jemanden, der mit den Männern des Al-Sakina-Ordens unter einer Decke steckte? Möglich wäre auch, dass jemand in der Zentrale dieses Ordens mit den Derwischen zusammenarbeitete. Möglicherweise hatte sogar Mohammed, der kriminelle Kunsthändler, etwas damit zu tun. Reines Pech war allerdings gewesen, dass Charles Bahri die Gefahr gespürt hatte und quer durchs Kloster in die Kapelle geflohen war, um dann hinunterzuschlucken, was er ihm hätte abnehmen sollen. Wäre nicht diese Besuchergruppe gekommen, er hätte den Alten so lange mit der Kordel gewürgt, bis er das Papier wieder ausgespuckt hätte. So jedoch hatte er fliehen müssen – ohne dieses Papier, von dem er mittlerweile wusste, dass es eine Karte gewesen war, hinter der die Derwische des Al-Sakina-Ordens her waren. Mohammed, der Kunsthändler, wahrscheinlich auch. Dennoch bestand eine Chance, diese Karte aufzuspüren. Die Äthiopierin würde hierherkommen – zusammen mit diesem Deutschen. Woher Hasan al-Basri das wusste, entzog sich auch seiner Kenntnis. Die Sufis wussten sogar, welche Klöster sie besuchen würden, in welchem Hotel sie wohnten und dass sie einen Geländewagen reserviert hatten. Das war seine Chance. Bald würde er erfahren, was es mit dieser Karte und der Karawane auf sich hatte. Von diesen beiden greisen Derwischen, das stand für ihn fest, würde er sich jedenfalls nicht aufs Kreuz legen lassen. Hier ging es nicht nur um dieses mysteriöse Ding, das für die Juden und Moslems angeblich so bedeutend war. Hier ging es um Geld. Um sehr viel Geld.

 

Pater Benedikt war schockiert. Armut im Garten Eden! Das hatte er nicht erwartet. Schon gestern, auf der Fahrt vom Flughafen zum Hotel in Addis Abeba, waren ihm die Heerscharen von Bettlern und Krüppeln entlang der Straßen aufgefallen. Elend und Armut zu relativieren, empfand er zwar als zynisch. Aber wenn er sich die Verhältnisse in den Armenvierteln Palästinas und denen von Jerusalem vor Augen hielt, dann lebten die Menschen dort geradezu im Überfluss im Vergleich zu jenen bemitleidenswerten Hungerleidern, die das Stadtbild im Schatten der Beton- und Glaspaläste von Addis Abeba prägten. Bei dem kurzen Spaziergang vom Hotel DeLeopold aus hatte er sich gestern höchst unwohl gefühlt. Da hatten sehr suspekte Gestalten herumgelungert. Vor dem Hotel wachten nicht ohne Grund vier bewaffnete Sicherheitsbeamte. Noch nie zuvor in seinem Leben hatte er Angst gehabt, sich im Dunkeln durch eine fremde Stadt zu bewegen. Zu absurd war der Gedanke, dass er in seiner Ordenskleidung Opfer von Räubern werden könnte. Gestern Abend hatte er allerdings dieses bedrohliche Gefühl sehr wohl gehabt. Wo grenzenlose Armut herrscht, er wusste das, zählte ein Menschenleben nicht viel.

Es machte ihn traurig, dass er auch hier am Tanasee, weit entfernt von der Hauptstadt, mit dieser Armut konfrontiert wurde. Dabei war es so ein wunderschöner Flug gewesen. Das Land hatte ihn maßlos fasziniert. Die grandiose Bergwelt mit den Viertausendern hatte ihn an die Schweiz erinnert. Überall waren Seen und Flüsse zu sehen gewesen, und die Ebenen zwischen den majestätischen Bergketten schienen sehr fruchtbar zu sein. Dieser Eindruck hatte sich beim Landeanflug auf Bahir Dar und auf der Fahrt zum Hotel noch verstärkt. Wasser gab es zu Genüge. Palmen, üppige Bananenstauden, prachtvolle Blumenbeete und blühende Ziersträucher säumten die Hauptstraßen. Auch in seinem Hotel am Seeufer hatte er zunächst das Gefühl gehabt, im Garten Eden Afrikas zu sein. Doch der erste Eindruck war schnell in maßlose Enttäuschung umgeschlagen. Bettler, Krüppel und ausgemergelte Menschen waren allgegenwärtig. Wie konnte es sein, dass in einem so fruchtbaren Land derart viele Menschen hungerten?

Die vielen Eindrücke erschöpften ihn. Gestern noch war er am frühen Morgen von Jerusalem aus aufgebrochen, hatte in Kairo viele Stunden auf den Anschlussflug nach Addis Abeba warten müssen und war erst in der Nacht im Hotel angekommen. Nach knapp fünf Stunden Schlaf hatte er schon wieder zum Flughafen gemusst. In den wenigen Stunden seit seiner Ankunft in Bahir Dar war er ein wenig herumgelaufen und hatte sich in der Stadt umgesehen. Es war ein sehr quirliges, modernes Handelszentrum. Die Menschen schienen zufrieden. Auf einem Markt etwas außerhalb des Zentrums wurde er dann aber erneut mit dem Elend dieses Landes konfrontiert. Und dort hatte er auch diesen seltsamen Mann in dem Priestergewand gesehen. Obwohl ihn nur noch wenige Schritte von dem vermeintlichen Bruder getrennt hatten, hatte ihn plötzlich ein unbestimmtes Gefühl veranlasst, den Priester nicht anzusprechen. Der Mann hatte sich sehr ungewöhnlich verhalten. Sein Blick war stier nach vorne gerichtet gewesen. Obwohl ihn einige Menschen angelächelt und gegrüßt hatten, hatte er eher rüde und abweisend reagiert. Schließlich hatte er einem sehr jungen Mädchen mit entblößtem Oberkörper lüstern und ungehörig auf die Brüste gestarrt. Dann hatte der Fremde sich abrupt umgedreht und ihn direkt angeschaut. Der Hass in den Augen dieses Mannes hatte ihn erschauern lassen. Es war der Blick eines Menschen, der nicht Demut, Gottesfurcht und Menschenliebe, sondern Böses in sich trug, gewesen. Die eng zusammenstehenden Augen und die tiefen, vertikalen Gesichtsfalten ließen erahnen, dass die Seele dieses Mannes zerrissen war, er schon viel Leidvolles erlebt hatte. Oberhalb der Nasenwurzel hatte er ein eigentümliches Mal, das wie ein tätowiertes Kreuz aussah, vielleicht ein koptisches Kreuz. Der Blick dieses Mannes mit dem arabischen Einschlag hatte so viel Aggression und Furchterregendes in sich geborgen, dass Pater Benedikt sich wortlos abgewandt hatte und ins Hotel zurückgegangen war. Er konnte diese merkwürdige Begegnung nicht einordnen, verdrängte aber den Verdacht, dass dieser Mann kein Glaubensbruder gewesen sein könnte.

Irritiert von diesem Vorfall, hatte er beschlossen, sich mit seinen Unterlagen zu beschäftigen. Für den heutigen Tag stand nichts mehr an. An der Rezeption hatte man ihm für den nächsten Tag ein Boot und einen Dolmetscher besorgt, mit dem er zunächst die in Ufernähe liegenden Klosterinseln besuchen würde. Allerdings bezweifelte er, dass er in diesen Klöstern Antworten auf seine Fragen bekommen würde. Viel wahrscheinlicher war es, dass er in Aksum oder in Lalibela fündig werden würde.

Pater Benedikt setzte sich auf den Balkon. Die warme Nachmittagssonne machte ihn schläfrig. Der Blick über den See, der Schrei eines Seeadlers und die betörenden Düfte exotischer Bäume und prächtiger Blumen ließen ihn melancholisch werden. Was für ein geheimnisvolles Land! Eines dieser Geheimnisse wollte er ergründen. Er stand unter Zeit- und Erfolgsdruck. Seine Gedanken schweiften zurück nach Jerusalem, wo die ganze Angelegenheit vor mehr als drei Jahren begonnen hatte. Der altehrwürdige Pater Lindemann, Abt der Abtei Dormitio Beatae Mariae Virginis und gleichsam treibende Kraft der benediktinischen Stiftung Hagia Maria Sion, hatte ihn damals völlig entgeistert angeschaut, als er ihm von seiner Idee erzählt hatte, in den Saharastaaten nach Spuren frühchristlicher Gemeinden und nach Spuren von Kreuzrittern zu suchen. Ja, Bruder Lindemann, dessen kahler Schädel ihn stets wie einen Asketen aussehen ließ, war anfänglich sehr skeptisch gewesen. »Die These, dass es in Nordostafrika schon im dritten und vierten Jahrhundert nach Christus frühchristliche Gemeinden gegeben hat, Bruder Benedikt, ist nichts Neues. Dass es sogar im fernen westafrikanischen Mauretanien solche Christengemeinden gegeben haben soll, halte ich allerdings, bei allem Respekt vor Ihren exzellenten Kenntnissen, für sehr wagemutig.« Das hatte der Abt damals gesagt und dann nachdenklich hinzugefügt: »Wenn sich allerdings Beweise erbringen lassen könnten, dass Tempelritter schon im zwölften Jahrhundert von Jerusalem aus nach Aksum reisten, um mit dortigen Christenkönigen Kontakt aufzunehmen, dann dürfen wir gewiss sein, dass dies weltweit für Aufsehen sorgen wird. Dann hat sich der Aufwand Ihrer Recherche gelohnt! Sie wissen ja, dass es seit jeher Gerüchte gibt, dass Templer die Bundeslade nach Rom gebracht haben sollen. Und es heißt auch, dass sich die Bundeslade in Äthiopien befand.«

Das war die erste Reaktion seines Abtes gewesen. Und daraus war schließlich die Aufgabe für ihn entstanden, die ihn hierhergeführt hatte.

Ohne Charles Bahri wäre er nie auf diese Idee gekommen! Den ehemaligen Franziskanermönch hatte er in Kairo kennen gelernt. Von ihm hatte er den Hinweis auf das Sion-Dossier erhalten. Mit diesen sensationellen Unterlagen hatte er alle Mäzenen und Gönner überzeugt, dass dieses Forschungsprojekt den eigentlichen Stiftungszielen entsprach: nämlich Juden, Christen und Muslime in Gebeten und Gesprächen, in Konferenzen und Seminaren bei vollem Respekt aller Unterschiedlichkeiten zusammenzuführen. Kaum ein Ort auf der Welt war dafür besser geeignet, als die Benediktinerabtei Dormitio im Zentrum von Jerusalem. In Fußnähe zur jüdischen Klagemauer, zur christlichen Grabes- und Auferstehungskirche, zur islamischen Moschee El Aksa und zum Felsendom lag Dormitio zwischen symbolhaften und historischen Gebets- und Wallfahrtsstätten der drei monotheistischen Weltreligionen. Wenn alles gut ginge, würden seine Nachforschungen in Äthiopien maßgeblich dazu beitragen, das Verständnis zwischen den Religionen zu fördern. Wenn wirklich zutraf, was die Christen Äthiopiens glaubten, dann hatte sich ein für alle drei Religionen bedeutsames Relikt und eines der größten Mysterien der Christen sehr lange hier befunden – oder befand sich vielleicht noch immer hier: die Bundeslade!

Ach, was für eine aufregende Reise! Vielleicht würde ihn seine Recherche sogar noch ins ferne Mali und nach Mauretanien – ins Meer der Dunkelheit führen. Wenngleich er diesbezüglich sehr zwiespältige Gefühle hegte. Einige Dokumente im Sion-Dossier hatten ihn sehr nachdenklich gemacht. Offensichtlich hatte es damals enorme Spannungen zwischen dem Heiligen Vater und dem portugiesischen König gegeben. Auch das Verhältnis Roms zu den christlichen Mitbrüdern in Äthiopien war höchst diffizil gewesen. Da waren sehr unrühmliche Dinge geschehen.

Als Pater Benedikt gegen zehn Uhr abends nochmals auf den Balkon ging und den unglaublich klaren und scheinbar zum Greifen nahen Sternenhimmel über dem Tanasee bestaunte, fiel ihm unter einem Baum am Seeufer ein Mann auf. Wahrscheinlich ein Sicherheitsbeamter des Hotels, dachte er, zog die Vorhänge des Fensters zu, legte sich ins Bett und betrachtete im Licht der Nachttischlampe ein letztes Mal die eigentümliche Karte, die ihm Charles Bahri einst als Kopie gegeben hatte.

 

Tekle Hayman, Offizier des äthiopischen Geheimdienstes, war sich sicher. Er stand unter einem Baum und beobachtete die Seeseite des Hotels. Seit über die Zentrale in Addis Abeba die Nachricht gekommen war, dass nach Informationen europäischer Sicherheitsbehörden der konkrete Verdacht bestehe, dass islamistische Gewalttäter nach Äthiopien eingereist waren und es zu Anschlägen in Bahir Dar kommen könne, herrschte höchste Alarmstufe. Besonders viel hatte er von seinem Vorgesetzten zwar nicht erfahren. Wenn es um brisante politische Hintergründe ging, galt in Äthiopien stets die Maxime, dass man das Fußvolk an der Front, Beamte wie ihn, nur mit den notwendigsten Informationen versorgte. Erste Ermittlungen in Addis Abeba hatten jedoch bestätigt, dass ein als christlicher Priester getarnter Mann in Bahir Dar gelandet war und das Zimmer 212 im zweiten Stock bezogen hatte. Das konnte nur der Araber sein, vor dem die europäischen Kollegen gewarnt hatten und um dessen Observierung gebeten worden war. Ein Mörder, ein extrem gefährlicher islamistischer Terrorist sei dieser angebliche Priester, so hatte sein Chef gesagt und alle sieben Beamten der Geheimdienstniederlassung von Bahir Dar beauftragt, das Hotel und den Terroristen zu beobachten. Zwei Antiterrorspezialeinheiten aus der Hauptstadt würden bald als Verstärkung eintreffen.

Tekle Hayman war aufgeregt. Islamistische Terroristen in Bahir Dar! Mit derart gefährlichen Leuten hatte er es hier noch nie zu tun gehabt. Er wusste, dass moslemische Bruderschaften in Somalia schon seit geraumer Zeit von dem Gedanken beseelt waren, sich das mehrheitlich christliche Äthiopien einzuverleiben und in einen islamischen Gottesstaat am Horn von Afrika zu verwandeln. Aber was wollten diese Leute in Bahir Dar?

Sein Blick richtete sich auf den Balkon, auf dem sich der Terrorist eben noch befunden hatte. In der Dunkelheit hatte er ihn nicht richtig erkennen können. Gefährlich sah der Mann nicht wirklich aus. Und wie ein typischer Araber auch nicht. Aber es bestand kein Zweifel: Der da oben war ein Killer. Ein skrupelloser Terrorist. In Europa hatte er schon zwei Männer ermordet. Und hier hatte er ebenfalls einen Mord begangen. Ein Fischer, der nachts am Ufer des Tanasees seine Reusen aufgestellt hatte, hatte in der Dunkelheit gesehen, dass ein Mann in einem schwarzen Anzug einen Frauenkörper ins Wasser geworfen hatte. Die junge Frau war wenig später tot geborgen worden. Sie hatte einen Einschuss in der Schläfe. Ein aufgesetzter Schuss mit Schalldämpfer, abgegeben aus einer Kleinkaliberwaffe, vermutlich Kaliber .22 mit Highspeed-Munition.

Ein Mord in Bahir Dar. Das allein schon hatte die Polizei und die Geheimdienstler in Aufruhr versetzt. Warum er die Frau getötet hatte, war ein Rätsel. Fest stand nur, dass der Terrorist auf zwei oder gar mehrere Personen wartete. Das hatte seine Zentrale in Addis Abeba mitgeteilt. War der Killer allein hier? Vielleicht hatte er ja Mittäter. Hoffentlich kamen die Jungs von der Antiterroreinheit aus Addis bald. Das waren Profis – Sprengstoffexperten und Scharfschützen. Die würden den Killer unschädlich machen.

Aufgewühlt von diesen Gedanken, lugte er hinter dem Baum hervor und hinauf zum Fenster des Terroristen. Soeben war das Licht ausgeschaltet worden. Es war kurz vor Mitternacht. Tekle Hayman kramte sein Funkgerät hervor: »Bahir elf-eins an Zentrale. Zielperson hat das Licht ausgeschaltet. Sieht so aus, als habe er sich hingelegt. Keine ungewöhnlichen Vorkommnisse. Ende.«