Auf Messers Schneide

Er traute seinen Augen nicht. Dort am Boden zu seinen Füßen lag Waverly Marshall. Sie sah aus, als wäre sie zusammengeschlagen worden, und um ihren Kopf war ein provisorischer Verband geschlungen, unter dem braunrote Rinnsale herausgesickert waren, die nun ihr Gesicht bedeckten. Sie hatte sich selbst alles abverlangt, um hierherzukommen. »Die Luft ist dünn«, sagte Seth außer Atem. Bis er aufgestanden war und die Zelle durchquert hatte, war ihm nicht bewusst gewesen, wie schlimm es bereits geworden war. Alles verschwamm. Kein Wunder, dass sie ohnmächtig geworden war. »Waverly! Wach auf! Hey!«

Sie rührte sich nicht.

Er griff durch die Gitter der Zelle, streckte seine Hand nach ihr aus, erreichte aber nur ihren Unterschenkel. Er klopfte darauf, sacht erst, dann fester, aber sie schien nichts davon mitzubekommen. Schließlich ging er zu dem kleinen Waschbecken in der Ecke seiner Zelle, füllte kaltes Wasser in einen Becher und schüttete es ihr ins Gesicht.

Sie zuckte zusammen, sah ihn an, wirkte erstaunt. »Was?«

»Was tust du hier?«, fragte Seth erneut, atemlos.

»Ich bin gekommen, weil …« Sie rieb sich über die Stirn, als quälte sie ein grausamer Kopfschmerz. »Um dich zu holen.«

»Wo sind die Schlüssel?«

»Schlüssel?«, echote sie ausdruckslos.

»Du brauchst einen Schlüssel«, sagte er mit sinkendem Mut.

»Die Verriegelung ist nicht elektrisch?«, fragte sie unbestimmt.

»Du hast keine Schlüssel?«

»Ich habe nicht gedacht, dass …« Sie ließ den Kopf wieder zu Boden sinken. Seth vermutete, dass sie in Tränen ausbrechen würde, wenn sie nicht so erschöpft gewesen wäre.

»Jesus, Waverly!« Er ballte seine Faust, schlug zornig in die Luft, und die Anstrengung, die die Bewegung ihm abverlangte, zwang ihn fast in die Knie.

»Ich bin so dumm«, sagte sie müde.

Seth schüttelte den Kopf, ließ sich zu Boden sinken, setzte sich ihr gegenüber und lehnte seinen Kopf an die Gitterstäbe. »Du machst besser, dass du hier rauskommst«, sagte er. Er sollte wütend auf sie sein, aber die Luft war zu dünn. Und außerdem hatte er sich selbst bereits nahezu aufgegeben.

Waverly sah sich um, und ihr Blick fiel auf Jakes leere Zelle. »Wie ist er rausgekommen?«

Seth lächelte. »Seine Frau hat ihn rausgeholt.«

»Seine Frau?« Waverly schüttelte benommen den Kopf. »Aber wie?«, keuchte sie. »Er kam auf meinem Shuttle, mit dem ich die New Horizon verließ, hierher, aber …«

»Vielleicht war sie bei dem ursprünglichen Angriff dabei«, sagte Seth und musste ein paarmal tief Luft holen, ehe er fortfahren konnte, »und wurde zurückgelassen.«

»Darauf wäre ich noch nicht einmal gekommen«, wisperte Waverly.

Er hatte von ihr eine deutlich zornigere Reaktion erwartet, vermutete jedoch, dass sie aufgrund des Sauerstoffmangels mittlerweile neben sich stand. Sie blinzelte langsam und schien Probleme zu haben, klar zu fokussieren.

Sie rappelte sich auf, wobei er sah, dass eines ihrer Knie blutig war, und humpelte zu dem Trennschleifer, der halb in einem der Stäbe steckte. »Sie haben das hier benutzt?«

Seth erhob sich, was ihn schwindeln ließ. Vielleicht stand auch er bereits neben sich. Er hatte den Schleifer vollkommen vergessen. Mit einem neu erwachten Funken Hoffnung sagte er: »Sieh mal in dem Beutel da nach.«

»Dieser hier?« Sie humpelte zu der kleinen Tasche und hob sie hoch. Dann zog sie eine einzelne Scheibe hervor. »Was ist das?«

»Eine Schleifscheibe! Wechsle sie aus! Passt sie?«

Sie ging vor dem Schleifer in die Knie und starrte auf die vollkommen zerfetzte Scheibe. Als ihr blutiges Knie den Boden berührte, wimmerte sie leise. Langsam und unbeholfen versuchte sie, die verkeilte Scheibe von dem Gitterstab zu lösen, die sich teilweise in einem Durcheinander aus verbogenem Metall aus dem Gerät herausgewölbt hatte. Sie schnitt sich an den scharfen Kanten des zerstörten Gebildes und fluchte keuchend, während sie das Metall weiterhin bearbeitete und an ihm hebelte, bis es sich schließlich aus der Halterung löste. Dann versuchte sie, die eingekeilte Scheibe aus dem Gitterstab zu lösen, aber es gelang ihr nicht.

»Vergiss das einfach«, murmelte sie zu sich selbst und setzte die neue Scheibe in das Gerät ein.

»Was soll das heißen: ›Vergiss es einfach‹?«, protestierte Seth. »Es hat mich eine Stunde gekostet, so weit zu kommen.«

»Warum hast du nicht einfach das Schloss herausgefräst?«, fragte sie schlicht. Sie hob den Trennschleifer an, setzte ihn sich auf die Hüfte und humpelte zu dem Schließmechanismus neben dem Schlüsselloch. »Ich meine, es ist doch nur ein Schnappschloss, oder?«

»Richtig«, sagte Seth und kam sich vor wie ein Vollidiot.

Waverly hielt den schweren Schleifer gegen das Schloss und schaltete ihn ein. Mit einem Ruck erwachte das Gerät zum Leben und fräste sich in das Metall. Sie blinzelte in die fliegenden Späne und knurrte leise, als die Funken ihre Haut versengten und dunkle Male zurückließen. Es war ohrenbetäubend laut, und Seth bedeckte seine Ohren mit den Händen, während er ihr zusah.

Sie schwankte, als wäre sie betrunken, keuchte, ihr Atem schien außer Kontrolle zu geraten und klang verzweifelt. Sie war leichenblass, und er glaubte, einen leichten bläulichen Schimmer zu erkennen, der sich um ihre Lippen gelegt hatte. Er wusste nicht, was es war, das sie noch auf den Beinen hielt.

Als ihre Kräfte sie schließlich verließen, ließ sie den Schleifer fallen, der nur knapp ihren Fuß verfehlte. Seth erhob sich, ging zu ihr herüber und versuchte sie durch die Gitterstäbe hindurch unbeholfen dabei zu unterstützen, das Gewicht des Werkzeugs zu stemmen. Es war riskant, denn wenn sie es erneut fallen ließ, würde sie ihm vielleicht den Arm abtrennen, aber es war die einzige Möglichkeit, das Gerät zu stabilisieren.

Als sich der Schleifer schließlich durch das letzte Stück des Metalls hindurchgefräst hatte, legte Waverly ihn ohne Umschweife auf den Boden und öffnete vorsichtig die Zellentür. Sie schwang auf, und ohne darüber nachzudenken, zog Seth seine Retterin an sich.

»Danke«, flüsterte er in ihr Haar.

»Das musst du nicht«, sagte sie lallend.

Er presste sie an sich, spürte den Rhythmus ihres Herzschlags und das schnelle Auf und Ab ihres Brustkorbs, als sie atmete. So lehnten sie einen Augenblick lang aneinander, bis er schließlich nach ihrer Hand griff und sie den Korridor hinunterzog.

»Ich weiß nicht, ob ich das kann«, sagte sie atemlos. »Es ist so weit.«

»Halt den Mund«, fuhr er sie an.

»Aber ich bin so müde.«

»Das interessiert mich nicht. Beweg dich!«

Er schob sie die Stufen des eiskalten Treppenhauses hinauf, das im Licht der Notbeleuchtung fremd wirkte, und drängte sie weiter zur Tür in die Lagerhallen. Als er sie öffnete, konnte er kaum fassen, wie kalt es hier war, schob sie aber dennoch in den höhlenartigen Raum hinein. Er würde sie tragen, wenn nötig, obwohl er nicht wusste, ob er die Kraft dafür aufbringen konnte. Es gab nur noch wenig Sauerstoff in der Luft, und es war bitterkalt. Verzweifelt glitt sein Blick über die Container, und er wünschte sich, er wüsste, ob in einem von ihnen Sauerstofftanks gelagert wurden, aber es war töricht, auch nur darüber nachzudenken, nach ihnen zu suchen.

Er erreichte einen sonderbaren Wahrnehmungsstatus, in dem das Einzige, dessen er sich bewusst war, das Quietschen von Waverlys Schuhen auf dem glatten Metallboden war. Schließlich trübten sich auch die Ränder seines Sichtfelds, bis schließlich nur noch ein heller Fleck direkt vor ihm, am Ende des Gangs aus Containern, blieb. So unendlich weit entfernt. So unerreichbar weit.

Irgendwann wurde ihm bewusst, dass er Waverly die Arme um die Taille gelegt hatte und sie stützte. Als sie schließlich fiel, ließ er sie zu Boden gleiten, umschloss ihr Handgelenk mit seiner unverletzten Hand und zog sie über den Metallboden, ihrem weit entfernten Ziel entgegen. Sie war so unglaublich schwer – oder er war so unglaublich schwach.

In seinem Kopf hörte er mit einem Mal ein Lied, das seine Mutter ihm früher immer über eine Spinne vorgesungen hatte. Die erste Zeile kam in Dauerschleife wieder und wieder: »Die winzig kleine Spinne kroch auf den Wasserhahn … Die winzig kleine Spinne kroch …« Es war infantil, widerlich, keifend laut, grauenvoll. Er hasste es und wünschte, es würde aufhören, aber dann stellte er fest, dass er im Rhythmus des Lieds weiterging, und hörte schließlich auf, es zu bekämpfen.

Wie lange hatte er gebraucht, um sie durch das Containerlager zu ziehen? Er konnte es nicht schätzen. Es hätten zehn Minuten gewesen sein können und ebenso gut zwei Stunden, aber schließlich fand er sich der Tür gegenüber, und als er sie schließlich öffnete, stand er in einem Treppenhaus.

»Waverly, ich kann dich nicht tragen. Meine Hand …«, sagte er den Tränen nahe. Seine Finger wurden langsam blau, und die Gelenke waren grauenhaft angeschwollen. »Du musst aufwachen, Waverly.«

Er kniete neben ihr nieder, versuchte sie aufzurichten, zunächst mit vorsichtigem Klopfen auf ihren Brustkorb, dann mit einer saftigen Ohrfeige seiner intakten Hand, aber sie war noch immer bewusstlos, und ihr Atem ging faserig und unstet.

»Okay«, sagte er atemlos. »Du bist ziemlich mager, habe ich recht?«

Er legte seinen Arm um ihre Taille und zog sie hoch, lehnte sie gegen die Wand und hob sie mühsam an, bis er sie sich über die rechte Schulter legen konnte. Er umfasste sie mit seiner gesunden Hand und hoffte inständig, dass das ausreichen würde. »O mein Gott«, wimmerte er, und seine gebrochenen Rippen brannten unter ihrem Gewicht vor Schmerzen, aber er begann trotzdem mit dem Aufstieg. Er nahm Stufe um Stufe, hielt nach jeder inne, um auszuruhen. Das Spinnenlied war mittlerweile derart raumgreifend geworden, dass er fast glaubte, es mit seinen Ohren hören zu können – die winzig kleine Spinne … die winzig kleine … die Stimme seiner Mutter, verwoben mit dem Wind.

Nach einer, wie es schien, grenzenlosen Anstrengung krachte sein Kopf schließlich gegen etwas Hartes, und als er aufsah, bemerkte er, dass er direkt gegen ein Schott gelaufen war. Er war derart perplex, dass er Waverly fallen ließ. Sie landete hart und stöhnte.

»Tut mir leid«, flüsterte er. Er schleppte sich zum Interkom und drückte den Rufknopf. »Öffnet das untere Schott«, sagte er mit schwacher Stimme. »Bitte.«

Niemand antwortete.

»Bitte«, sagte er noch einmal. »Wir sind eingesperrt.«

»Hallo?«, ertönte da Sarek Hassans Stimme. »Waverly?«

»Sie ist hier«, sagte Seth. »Öffne das untere Schott.«

»Ich fasse es nicht, dass du noch am Leben bist«, sagte Sarek ungläubig.

»Beeil dich!«, versuchte Seth zu schreien, aber schon der Versuch bereitete ihm sengende Kopfschmerzen. Wenn er jetzt und hier ohnmächtig wurde, würden sie beide sterben, und so zwang er sich dazu, tief einzuatmen, bis die dunklen Flecken vor seinen Augen verschwanden.

»Mach dich auf einiges an Wind gefasst«, sagte Sarek.

Das Schott glitt auf, und ein Schwall warmer Luft blies Seth ins Gesicht. Er packte Waverly am Handgelenk. Ihr Kopf schlug auf den Stufen auf, aber es gab nichts, was er dagegen tun konnte. Er musste sie einfach nur durch das Schott bekommen. Als sie es geschafft hatten, betätigte er das Interkom auf der anderen Seite. »Okay, schließen«, sagte er.

Langsam schloss sich das Schott wieder, und der Wind wurde von einem Sturm zu einer Brise und flaute schließlich ab.

Die Luft hier war besser. Nicht viel, aber Seth spürte dennoch, wie sein Herzschlag sich zunehmend beruhigte und sein Kopfschmerz langsam nachließ. Nach ein paar Minuten war auch ein klein wenig Farbe in Waverlys Gesicht zurückgekehrt, und sie atmete tiefer und gleichmäßiger. Erneut tätschelte er ihre Wange. »Liebling, Waverly, kannst du bitte aufwachen?«

Sie schmatzte mit den Lippen, antwortete aber nicht.

Er sah zu dem nächsten Schott, das rund zehn Treppenabsätze über ihnen lag. »Das ist nur ein Katzensprung«, sagte er zu sich selbst und hievte sie erneut über seine Schulter.

Seine Muskeln schrien auf. Der Kopfschmerz kam mit voller Stärke zurück und schlug wie eine Faust gegen seinen Schädel. Bei jedem Schritt stöhnte er. Nie zuvor in seinem Leben war er derart an seine Grenzen getrieben worden, aber er wusste, was geschehen würde, wenn er aufgab. Und deshalb gab er nicht auf.

Als schließlich das nächste Schott über ihm auftauchte, setzte er Waverly ab und donnerte erneut auf das Interkom. »Sarek? Nächstes Schott!«

Ohne ein Wort aus Sareks Mund öffneten sich die Türen, und ein erneuter Schwall frischer, warmer Luft wehte ihm entgegen. Dieses Mal war der Wind deutlich stärker und er musste sich dagegenstemmen, während er Waverly die Stufen hinaufschleppte. Aber die Luft hier war nahezu normal, und er sog sie gierig in seine Lungen. »Schließen«, sagte er, als er sie die letzten Meter durch das Schott zog, und die Türen schlossen sich.

Er sank auf die Stufen. Das Einzige, woran er denken konnte, war, zu atmen, ein und aus, die wundervolle Luft, voll von Sauerstoff. Sein Kopfschmerz verschwand nicht, und seine Muskeln schmerzten noch immer, aber seine Gedanken wurden klarer, und er spürte, dass er weitergehen konnte.

Er hörte Waverly stöhnen, und als er sich aufsetzte, stellte er fest, dass sie versuchte, ihre Augen vor dem Licht abzuschirmen.

»Waverly«, sagte er. »Bist du okay?«

»Wie bin ich –« Sie schaute sich um, sondierte ihre Lage. »Hast du mich etwa hierher getragen?«

»Ja«, sagte er.

»Es tut mir leid. Ich habe es versucht.«

»Ich weiß.« Mit zitternden Beinen rappelte er sich auf und streckte ihr eine Hand entgegen. »Komm jetzt.«

Sie zog sich hoch, lehnte sich dann schwer atmend an das Geländer. »Wie weit ist es noch?«

»Die Hälfte haben wir, denke ich.«

»Okay«, sagte sie und begann, die Stufen hinaufzusteigen. Seth folgte ihr.

Schweigend schleppten sie sich weiter, nur begleitet vom Tappen ihrer Füße und ihrem schweren Atem. Seth spürte, wie ihm sein Pulsschlag im Nacken saß; er trommelte unfassbar schnell. Seine Fingernägel waren blau, und das Innere seines Mundes fühlte sich trocken und pappig an. Waverly war unsicher auf den Beinen, und ihr Atem ging schnell und flach, aber sie schien stark genug zu sein, um weiterzugehen.

Am nächsten Schott war der Wind, der ihnen entgegenschlug, noch stärker, und die Luft dahinter schmeckte frisch und samtig. Er saugte sie ein wie Nektar, während das Schott sich hinter ihm schloss, und Waverly lächelte ihn an.

»Viel besser«, sagte sie.

Seite an Seite standen sie an dem Treppenabsatz und gönnten sich eine kurze Rast. Seth spürte, wie die Kraft in seine Gliedmaßen zurückkehrte, und auch sein Kopfschmerz schien etwas nachgelassen zu haben. Er konnte wieder denken.

»Warum bist du gekommen, um mich zu holen?«, fragte er sie schließlich.

»Was meinst du?« Sie sah ihn fragend an.

»Du hast dein Leben riskiert, um mich zu retten. Warum?«

Sie wandte den Blick ab, die Frage schien ihr unangenehm zu sein. »Du hättest dasselbe auch für mich getan, oder nicht?«

»Und ich weiß, warum ich es getan hätte. Aber ich frage dich, warum du es getan hast.«

»Und warum hättest du es getan?«, gab sie herausfordernd zurück.

Eine Zeitlang verharrten sie in dieser Pattsituation, bis Seth schließlich den Blick abwenden musste.

»Okay. Dann sag einfach, dass du nicht darüber reden willst«, sagte er und setzte sich erneut in Bewegung.

»Ein einfaches Danke hätte auch gereicht«, knurrte sie.

»Hätte es nicht, und das weißt du ganz genau«, sagte er und warf ihr über die Schulter hinweg einen finsteren Blick zu. Ihr Mund wurde schmal, und zwei steile Falten erschienen zwischen ihren Augenbrauen.

»Weißt du was?«, sagte sie, stapfte die Stufen hinter ihm empor und keuchte bei jedem Wort. »Dieses ganze asoziale Getue, das du abziehst … es nervt einfach nur noch.«

»Für dich scheint es immer noch gut genug zu sein.«

»Was soll das bedeuten?«

»Du weißt genau, was ich meine«, keuchte er außer Atem. »Du magst nur nicht, dass ich es angesprochen habe.«

»Das stimmt. Ich mag es nicht«, sagte sie, und ihre Stimme klang wie die einer verzogenen, hochmütigen Göre. »Du bist arrogant, und du hörst nicht zu, und du bringst Leute dazu, dass sie dich einsperren und den Schlüssel fortwerfen wollen!«

Er wirbelte zu ihr herum. »Was genau stellst du dir vor? Dass deine Aufgabe die der Schönen ist, die das Biest zähmt? Ich hab es nicht so mit Märchen.«

»Ich auch nicht«, sagte sie und musterte ihn von oben bis unten, die Arme vor der Brust verschränkt »Und ich hab es auch nicht so damit, Straffällige zu rehabilitieren.«

»Ach komm schon, jetzt tu nicht so, als hättest du niemals die Grenze zur dunklen Seite übertreten«, sagte er. »Ich hab dich verdammt noch mal sogar dabei gesehen.«

Er sah zu, wie sie in sich zusammensank, innerlich verwelkte, und er wünschte, er könne das Gesagte zurücknehmen. Sie zog den Kopf zwischen die Schultern, als wollte sie nicht, dass er sie ansah. Alles, was ihm zu tun blieb, war, sich wieder umzudrehen und weiter die Stufen hinaufzugehen.

Er hörte ihre Schritte hinter sich, aber selbst ihr Keuchen und Stapfen schien von seinen Worten gedämpft worden zu sein. Scheißkerl, nannte er sich selbst bei jeder weiteren Stufe, die er erklomm, Mistkerl, Drecksack, Hurensohn.

Am letzten Schott angekommen, rannte Waverly vor zu dem Interkom und drückte den Knopf zur Kommandobrücke. »Sarek? Mach auf.«

»Okay«, kam es zurück, und die Türen des Schotts glitten auf. Dieses Mal gab es keinen Unterschied im Luftdruck, keine Veränderung der Luftqualität.

Als die Türen sich hinter ihnen schlossen, ging Waverly zum Interkom dahinter und rief erneut nach Sarek. »Wir treffen dich im Shuttle-Hangar, Sarek, okay?«

Es kam keine Antwort.

»Sarek?«, wiederholte Waverly.

Als noch immer keine Antwort kam, wandte sie sich zu Seth um. »Er muss schon unterwegs dorthin sein.«

»Ich wünschte, wir könnten zuerst zu den Wohnquartieren gehen und ein paar Dinge einsammeln«, sagte Seth wehmütig. Dort war ein Bild seiner Mutter, das er so gern gerettet hätte.

»Ich weiß«, sagte Waverly, und der Zorn war aus ihrer Stimme gewichen.

Sie sahen einander an.

»Waverly«, begann er.

Mit einer raschen Geste ihrer Hand schnitt sie ihm das Wort ab. »Nicht.«

»Ich wollte bloß … Es tut mir leid.«

»Ich sagte nicht«, schnarrte sie, doch ihre Augen wirkten reumütig. Schließlich seufzte sie. »Ich hätte auf dich hören sollen.«

»Dieser Typ. Er war ein Kindermörder. Er hatte es verdient.«

»Vielleicht«, sagte sie, aber ihr Blick war noch immer verstört. Weil sie ebenso wie er wusste, dass es nicht wirklich der Punkt war, ob er es verdient hatte oder nicht. »Ich habe mir selbst eingeredet, ich hätte es getan, um an Informationen zu gelangen, aber das war nicht der wirkliche Grund. Oder jedenfalls nicht der einzige.«

»Warum hast du es dann getan?«

Ihre Lippen bebten, und sie ließ den Kopf nach hinten sinken, bis er wie ein totes Gewicht auf ihrem Rückgrat hing. Ihre Stimme klang brüchig. »Weil es sich gut angefühlt hat.«

Er legte ihr eine Hand auf die Schulter, eine kleine Geste nur, und er wusste, dass sie nicht ausreichte. Aber ihm fiel nichts ein, was er hätte sagen können.

Auch sie sprach nicht mehr, sah ihn auch nicht an, aber er spürte, wie sie sich unter seiner Hand ein wenig entspannte, als sie der grausamsten aller Wahrheiten in sich zumindest etwas Raum gegeben hatte, um ausgesprochen, erkannt und vielleicht ein Stück weit verstanden zu werden.

Als sie den Shuttle-Hangar erreichten, war es still. Zwei Shuttles waren bereits fort, aber ein weiteres stand an der Tür zur Luftschleuse, bereit zum Start. Der kleine Hitzkopf Sarah Hodges stand am Fuß der Rampe, die Arme vor der Brust verschränkt, und tappte ungeduldig mit dem Fuß auf den Boden. Waverly ging auf sie zu, und Seth folgte ihr, während er zum ersten Mal in der Lage war, darüber nachzudenken, was jetzt kommen würde.

»Ich gehe demnach recht in der Annahme, dass wir jetzt alle zur New Horizon fliegen«, sagte er.

Waverly zuckte mit den Achseln. »Ich würde mich lieber selbst umbringen, als diesen Schritt zu gehen, aber ich befürchte, uns bleibt keine Wahl. Dieses Schiff hier ist am Ende.«

»Jap«, sagte Seth. »Aber ich vermute, von nun an wird diese irre Mather-Lady das Sagen haben.«

»Vermutlich wirft sie mich in die Brig.«

»Oh, meinst du?«

»Vielleicht treffe ich dort meine Mutter. Oder Amanda.«

»Amanda?«

»Sie ist eine der Frauen, die mir dabei halfen, zu entkommen.«

»Also glaubst du, dass das geschehen wird? Du und jede andere Person, die eine potenzielle Gefahr darstellt, wandern in die Brig, und jeder andere wird sich verhalten müssen wie –«

»Ein folgsamer, kleiner Puritaner. Ganz genau«, sagte sie zornig. »Das hältst du höchstens fünf Minuten durch.«

»Dann, vermute ich, sehen wir uns in der Arrestzelle wieder«, sagte er, wurde dabei jedoch langsamer und ließ sich zurückfallen. Sie hatten das Shuttle fast erreicht, aber in seinem Kopf begann eine Idee zu wachsen und langsam Gestalt anzunehmen. Waverly verfiel in einen wankenden Laufschritt, und auch er beschleunigte, um zu ihr aufzuschließen, während sie den mächtigen Shuttle-Hangar durchquerten.

»Ich dachte, ihr würdet nicht auf uns warten«, wandte Waverly sich an Sarah, die zornig den Kopf schüttelte.

»Ich wäre ein Dutzend Mal fast gestartet«, sagte Sarah missbilligend. Und an Seth gewandt, fuhr sie fort: »Ich hoffe, du bist zufrieden. Ich bin fast dabei draufgegangen, dass sie losgegangen ist, um dich zu holen. Nicht dass du es verdient hättest.«

»Ich freue mich auch, dich wohlauf zu sehen«, entgegnete Seth.

Waverly begann die Shuttle-Rampe hinaufzugehen, aber er hielt sie am Ellbogen zurück.

»Was?«, sagte sie zornig.

»Ich muss dir etwas sagen«, murmelte er.

»Dann sag es mir, wenn wir an Bord sind!« Waverly versuchte, sich von ihm loszumachen, aber er legte seine Hände auf ihre Schultern. Sie schien ihm stabil zu sein, aber sie war so zerbrechlich, und als er sie nun näher an sich zog, stolperte sie und fiel gegen ihn.

»Jetzt ist nicht der richtige Zeitpunkt!«, begann sie.

»Ich habe dir etwas zu sagen, und du wirst mir zuhören.«

»Was?«, schrie sie, den Blick auf Sarah gerichtet, auf die Shuttle-Rampe – sie sah überallhin, nur nicht zu ihm. »Seth, wir müssen los!«

»Es ist mir egal, dass ich nicht gut genug für dich bin«, sagte er.

Das weckte ihre Aufmerksamkeit, und schließlich sah sie ihn doch an. »Wovon sprichst du?«

»Ich sagte«, er zog sie näher zu sich heran, bis sein Atem die dünnen Härchen am Rand ihrer Augenbrauen zum Knistern brachte, »dass es mir egal ist, dass ich nicht gut genug für dich bin.«

Sie starrte ihn an, den Mund leicht geöffnet, dieses eine Mal sprachlos. Also küsste er sie.

Es begann nicht, wie er es sich stets erträumt hatte. Es war nicht zärtlich, liebevoll, sanft. Es war stürmisch, verzweifelt, ein stummer Schrei nach Nähe. Zuerst erstarrte sie, aber dann gab sie nach, Stück für Stück, bis sie sich schließlich ganz gegen ihn sinken ließ und seinen Kuss erwiderte.

»Um Gottes willen«, sagte Sarah. »Wir müssen los!«

Waverly löste sich von ihm – perplex, erstaunt, fassungslos und mit zerzaustem Haar. Wunderschön. Sie wich zwei Schritte zurück, und er tat es ihr gleich.

»Ich komme nicht mit«, sagte er, während er die Shuttle-Rampe wieder hinunterging.

»Was?«, schrie Waverly. »Was zur Hölle redest du denn da?«

»Ich komme nicht mit, Waverly«, sagte er.

»Wie du willst«, entgegnete Sarah und aktivierte die Hebevorrichtung an der Shuttle-Rampe.

Waverly brach in die Knie, als die Rampe sich zu schließen begann. »Was zur Hölle tust du da?«

»Ich weiß es nicht«, rief Seth zurück. »Aber es ist ohnehin besser, wenn du nichts davon weißt.«

»Das ist wahnsinnig!«, schrie sie und stürzte sich auf das Kontrollfeld für die Steuerung der Shuttle-Rampe, aber Sarah schlang ihre drahtigen Arme um sie und riss sie zurück. »Seth! Was zur Hölle soll das werden?«

»Ich sehe dich bald«, rief er ihr zu.

Sie ließ sich auf den Boden der Rampe fallen; der Spalt war mittlerweile so schmal geworden, dass er nur noch ihr Gesicht sehen konnte, in dem der Zorn loderte. »Du wirst dich selbst umbringen, Seth Ardvale, und das werde ich dir niemals verzeihen! Du hochmütiger Hurensohn!«

Wenn es noch irgendetwas gab, das er ihr sagen wollte, war jetzt die letzte Gelegenheit dazu gekommen, denn die Rampe des Shuttles schloss sich zwischen ihnen. Aber er fand die Worte nicht. Also hob er nur eine Hand zum Gruß und lächelte ihr zu. Ihr Mund öffnete sich, doch dann sah auch sie ihn einfach nur an, die Augen voller unausgesprochener Worte, ihre Stirn gerunzelt in Zorn und Schmerz.

Die Rampe schloss sich, und die Maschinen erwachten spotzend zum Leben, hoben das Shuttle vom Boden und brachten es in der Luftschleuse in Position. Hinter ihm schlossen sich die Türen der Schleuse mit einem Rauschen, das von der Endgültigkeit dieses Augenblicks kündete, und dann war Waverly fort.

Hochmütig, hatte sie gesagt. Er mochte den Klang dieses Wortes.

Seth wandte sich ab, und mit einem letzten Blick auf sein Zuhause – die leeren Ein-Mann-Shuttles hingen an den Wänden, hoch über ihm flackerte das Licht, und überall um ihn herum herrschte vollkommene Stille – ging er zum nächstgelegenen EMS.

Sternenfeuer: Vertraue Niemanden: Roman
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