Flucht
Seth Ardvale wusste nicht, was ihn geweckt hatte. Er erinnerte sich nur an ein grollendes Geräusch, das ihm durch Mark und Bein gegangen war. In seinem einsamen Lager in der Arrestzelle tief im Inneren der Empyrean setzte er sich auf und rieb sich die Augen. Dann lauschte er auf Stimmen. Manchmal gelang es ihm, Gesprächsfetzen der Wachen aufzuschnappen, aus denen er Hinweise auf das, was auf dem Schiff geschah, ziehen konnte, aber jetzt war alles still.
Diese Isolation war ein Teil seiner Strafe, ebenso wie das Licht, das vierundzwanzig Stunden am Tag ohne Unterlass brannte. Mittlerweile war Seth dazu übergegangen zu akzeptieren, dass es vermutlich sehr lange dauern würde, bis er aus dieser Zelle wieder herauskam. Und falls Kieran Alden Captain der Empyrean bliebe, käme Seth vielleicht niemals wieder hier heraus. Er vermutete, dass er es verdiente, eingesperrt zu sein. Nicht nur für die erfolglose Meuterei, die er gegen Kieran angezettelt hatte. Er verdiente es, hier zu sein, weil er war, wie er war. »Ich bin meines Vaters Sohn«, sagte er laut.
Der Klang seiner eigenen Stimme erschreckte ihn. Er hasste es, dass er begonnen hatte, Selbstgespräche zu führen, aber das war nun einmal der Weg, eine Einzelhaft zu überleben. Er führte auch lange, stumme Dialoge, und stets stellte er sich bei diesen vor, mit ein und derselben Person zu sprechen: Waverly Marshall. Er würde seine Augen schließen und sie auf der anderen Seite der Gitterstäbe seiner Zelle sehen, auf dem Boden sitzend, die Hände um die Fußknöchel geschlungen, das Kinn auf dem Knie. Ihre Unterhaltung begann stets dort, wo sie vor rund einem Monat geendet hatte – damals, nachdem er sie gebeten hatte, ihn aus der Brig zu befreien. Sie hatte ihn nur angesehen, eindringlich und mit Zweifel in ihren dunkelbraunen Augen, der Rest ihrer lieblichen Züge sanft und zugleich ausdruckslos. Er kannte sie gut genug, um zu merken, dass sie ihm nicht vertraute. Und wie sollte sie auch? Nach allem, was er getan hatte?
»Bring mich hier raus«, hatte er gesagt, gefleht, eine Hand an den kalten Gitterstäben, die sie von ihm trennten.
Sie hatte ihn lange angesehen und schließlich mit einem langen, tiefen Ausatmen gesagt: »Das kann ich nicht.«
Und dann war sie aufgestanden und fortgegangen.
Konnte er ihr daraus einen Vorwurf machen? Er hatte einen Aufstand gegen ihren Freund Kieran Alden angezettelt, hatte ihn in die Brig werfen lassen, ihm Nahrung vorenthalten und – wie manche sagen würden – ihn zu töten versucht. All das hatte für Seth damals einen Sinn ergeben, und es zeigte, wie verrückt er gewesen war. Die Zeit war verrückt gewesen. Aus heiterem Himmel hatte die New Horizon die Empyrean angegriffen, hatte alle Mädchen des Schiffs entführt und ein Leck im Reaktor verursacht, das letztendlich seinen Vater getötet hatte. Doch all das entschuldigte nicht Seths Verhalten. Alle Kinder auf der Empyrean hatten ihre Eltern verloren oder waren von ihnen getrennt worden; auf den Schultern jedes Einzelnen von ihnen lastete die beängstigende Verantwortung, das Schiff ohne einen einzigen handlungsfähigen Erwachsenen an Bord zu steuern. Und Seth allein hatte sich unter ihnen hervorgetan, indem er sich wie ein Soziopath aufgeführt hatte.
»Vielleicht ist es ja genau das, was ich bin«, flüsterte er und bedeckte seinen Mund gleich darauf mit der Hand.
Waverly hatte richtig gehandelt, als sie fortgegangen war.
Und doch lebten in seiner Vorstellung eine Million anderer Dinge, die er zu ihr hätte sagen können, um sie zum Bleiben zu bewegen. »Du hast recht. Das solltest du nicht riskieren.« Oder: »Ich verstehe, dass du Kieran nicht hintergehen kannst.« Oder schlicht: »Geh nicht.«
Und dann stellte er sich vor, wie sie aussehen würde, wenn sie sich erneut zu ihm umwandte, wie er sie dazu bringen würde, zu lächeln oder gar zu lachen. Wie sie eine Haarsträhne hinter ihr Ohr streichen würde, kurz bevor sie den Blick senkte – eine kleine, schlichte Geste, die ihn jedes Mal mitten ins Herz traf.
Aber er hatte damals nichts von alledem gesagt. Voller Scham hatte er sie ziehen lassen.
Wenn er jemals aus dieser Zelle herauskäme, würde er ihr zeigen, dass er ein guter Mensch sein konnte. Dass sie niemals zu ihm gehören würde, war nicht wichtig. Aber er konnte die Vorstellung nicht ertragen, dass sie schlecht von ihm dachte. Und vielleicht, nur vielleicht, würde auch er ihr helfen können. Denn was auch immer mit ihr auf der New Horizon geschehen war, hatte sie niedergedrückt, ihr das Rückgrat gebrochen, das Licht in ihren Augen zum Erlöschen gebracht. Wenn er sie noch einmal wiedersehen könnte, würde er nichts von ihr erwarten. Er wollte nichts. Alles, was er wollte, war, ihr zu helfen – ihr ein Freund zu sein.
Seth rollte seinen Körper zu einem Ball zusammen. Er fühlte sich schwer und lethargisch. Das Geräusch, das ihn geweckt hatte, musste eine Veränderung in der Aktivität der Maschinen gewesen sein, eine weitere Erhöhung der Beschleunigung des Schiffs in dem vergeblichen Versuch, zu der New Horizon aufzuschließen, wo ihre Eltern als Geiseln festgehalten wurden. Es würde niemals funktionieren. Seth wusste das, aber seine Stimme würde niemals wieder in einem Entscheidungsprozess angehört werden. Er würde immer ein Ausgestoßener sein.
»Schlafen, schlafen, ich kann schlafen«, flüsterte er. Manchmal half es. »Ich bin nur Körper, bin nicht Geist. Bin nur ein Körper, der sich nach Schlaf sehnt.«
Dann hörte er das Heulen des Schiff-Interkoms und Kieran Aldens Stimme: »Evakuierung! Alle in den Zentralbunker!«
Das optische Alarm-Signal im Korridor begann sich zu drehen, blau und rot.
Seth warf seine Decken beiseite, rannte zu den Gitterstäben seiner Zelle und schrie den Korridor hinunter: »Hey! Was passiert da?«
Keine Antwort.
»Ihr könnt mich nicht einfach hierlassen!« Seth schob sich nach rechts, versuchte einen Blick auf den Korridor zwischen den Zellen zu erhaschen und stolperte über einen Teller mit Brot und Instant-Suppe, der hier für ihn zurückgelassen worden war. Alles, was er sah, waren Reihen kalter, eiserner Gitterstäbe und Schatten. »Ihr müsst mich rauslassen!«
In seiner Panik und Hilflosigkeit rüttelte er an der Tür seiner Zelle.
Sie glitt ohne Widerstand auf.
Er erstarrte, vollkommen perplex, trat vorsichtig einen Schritt aus der Zelle heraus und spähte den Korridor hinunter.
Niemand zu sehen.
Langsam schlich er den Durchgang entlang, vorbei an Max Brents Zelle, dessen Gefängnis gleichfalls offen stand und verlassen war. Er ging weiter zu der Tür, die zum äußeren Korridor führte, und lauschte; dann öffnete er sie einen Spaltbreit. Den Gang hinunter ragte ein Fuß aus dem Wartungsraum. Seth arbeitete sich langsam vor, den Blick auf den Schuh gerichtet, bereit, bei der kleinsten Bewegung loszulaufen, aber der Schuh bewegte sich nicht. Schließlich stieß er die Tür auf und sah seinen Wächter, Harvey Markem, auf dem Boden liegen. Seth beugte sich über ihn, legte sein Ohr an die bewegungslosen Lippen des anderen und wartete, bis Harvey schließlich ein warmer Lufthauch entwich. Blut verklebte das drahtige rote Haar seines Wächters. Seth griff nach der mobilen Kom-Station des Jungen, löste sie aus ihrer Sicherung und drückte den Rufknopf: »Hallo?«
Nur Rauschen vom anderen Ende der Leitung.
»Ich brauche hier unten medizinische Unterstützung«, sagte er, dann lauschte er wieder.
Keine Antwort. Aufmerksam studierte er die vielen Kanäle und Frequenzen, während er überlegte, welche von ihnen die Kommandozentrale erreichen könnten. Aber ihm blieb keine Zeit, alle denkbaren Möglichkeiten durchzugehen. Nicht, wenn er entkommen wollte. Und so ließ er die Kom-Station schließlich fallen.
Während Seth den Korridor hinablief, versuchte er sich einzureden, Harvey würde schon durchkommen. Doch als er die Tür zum Treppenschacht erreichte, drehte er sich noch einmal um und sah auf Harveys Fuß. Er hatte sich nicht bewegt, nicht mal einen Zentimeter. Was, wenn der Junge Hirnblutungen hatte? Was, wenn er starb?
Seufzend machte Seth kehrt, ging zurück zu dem Wartungsraum, zog Harvey heraus, brachte ihn in eine sitzende Position und legte ihn sich dann nach Art der Feuerwehrmänner über die Schulter. Als er sich wieder erhob, schien der Druck von Harveys Gewicht ihm sein gesamtes Blut ins Gesicht zu pumpen, und der Schweiß lief ihm aus allen Poren. Unter seiner Last schwankend, machte er sich erneut auf den Weg den Korridor hinab. Harvey war ohnedies hochgewachsen, aber mit der zusätzlichen Trägheitsmasse der Beschleunigung der Empyrean fühlte Harvey sich an wie ein Sack nasser Zement.
Seths Beine zitterten, und für einen Augenblick erwog er, den Aufzug nach oben zu nehmen, überlegte es sich dann aber anders. Die Sicherheitskameras würden ihn sofort erfassen, und falls die Türen sich öffnen sollten und eine Gruppe Wartender davorstünde, bliebe ihm keinerlei Fluchtmöglichkeit. Und so schleppte er sich weiter die Treppen hinauf, dort, wo keine Überwachungskameras installiert waren, und der Schweiß lief ihm das Gesicht herab und sammelte sich in der Vertiefung seiner Schlüsselbeine.
»Jesus, Harvey«, keuchte er, »was hast du bloß gegessen?«
Die Stufen erschienen ihm endlos und verloren sich irgendwo weit über ihm im Dämmerlicht. Er musste Harvey zum Zentralbunker bringen, aber der war so viele Stockwerke entfernt, dass er noch nicht einmal die Kraft aufbrachte, sie zu zählen. Aber der Zentralbunker war der Ort, an dem im Notfall alle zusammenkamen, und es war daher derzeit der einzige Ort, an dem Harvey Hilfe würde bekommen können.
Zweimal sank Seth in die Knie. Aber wenn er Harvey im Treppenhaus zurückließe, könnte der Junge hier sterben. Und so ging er weiter, Stufe um Stufe, jeder Schritt eine Qual.
Als er schließlich Stimmen hörte, wusste er, dass es nicht mehr weit war. Die letzten Stufen grenzten fast an eine Folter, aber Seth schob sein Gewicht vorwärts und zwang sich selbst, aufrecht zu bleiben – die Knie bis zum Zerbersten schmerzend, die Wirbelsäule kaum mehr dem Gewicht gewachsen. An der Tür blieb er stehen und hörte zwei Mädchen draußen in der Halle vor dem Zentralbunker miteinander sprechen.
»Sind sie zurückgekommen?«, fragte eine gepresste kleine Stimme auf der anderen Seite der Tür. »Sind sie gekommen, um uns zurückzuholen?«
»Falls es so ist, hilft Panik uns auch nicht weiter.« Das klang nach dem sommersprossigen kleinen Energiebündel Sarah Hodges.
»Was, wenn die Schiffshülle explodiert ist?«, fragte das erste Mädchen ängstlich.
Sarah lachte leise und freudlos: »Wenn die Schiffshülle explodiert wäre, wären wir – du und ich – nicht mehr hier.«
Langsam ließ Seth Harvey zu Boden gleiten und beugte sich vor, die Hände auf den Knien abgestützt, um wieder zu Atem zu kommen. Als er sich sicher war, wieder rennen zu können, klopfte er mit den Fingerknöcheln gegen die Tür, stieß sich ab und raste drei Treppen abwärts, ehe er Sarah Hodges’ Stimme durch das Treppenhaus hallen hörte: »Hey! Wer ist da? O mein Gott – Harvey!«
Seth hatte bereits fünf weitere Treppen hinter sich gelassen, als er Schritte hörte, die ihm nacheilten. Nur noch vier weitere Treppen, und er wäre in Sicherheit. Bitte, bitte, bitte. Im Geiste wiederholte er die Worte wieder und wieder, ignorierte die Schmerzen in seinen Gliedmaßen und verbannte die Erschöpfung aus seinem Inneren, um weiterrennen zu können.
Als er endlich die Etage erreichte, die er benötigte, griff er nach der Türklinke. So geräuschlos wie möglich öffnete er die Tür, schlüpfte hindurch, huschte den Flur hinab und presste sich geduckt durch die nächstgelegene Tür.
Augenblicklich umfing ihn der frische, erdige Geruch des Regenwalds. Gott, wie sehr er das vermisst hatte! Die feuchte Luft benetzte seine von der Gefangenschaft ausgetrocknete Haut, während er durch Kokos-Haine lief, die Zitronenbäume hinter sich ließ und in das Unterholz der australischen Pflanzenarten eintauchte. Er verbarg sich in einem Eukalyptusbusch und rollte sich dort zusammen; das Herz laut gegen die Rippen pochend, die Hände um die Fußknöchel geschlungen, lauschend.
Nicht ein Fußtritt. Nicht mal ein Rascheln. Er war entkommen! Bis es ihm gelungen sein würde, herauszufinden, was auf der Empyrean schiefgelaufen war, würde er hierbleiben.
Erst jetzt, da er in Sicherheit war, erfasste er die Merkwürdigkeit dessen, was geschehen war. Irgendjemand hatte ihn befreit. Aber wer? Vielleicht derjenige, der die Explosion verursacht hatte? Das zeitgenaue Zusammenfallen der Explosion und seiner Befreiung konnte kein Zufall sein. Und wer auch immer die Explosion verursacht haben mochte, hatte sie vielleicht als Ablenkungsmanöver für seine Befreiung geplant.
Seine Gedanken wanderten zu Waverly. Niemals hätte sie in Kauf genommen, dass Harvey verletzt oder das Schiff in Gefahr gebracht worden wäre, aber sie hätte einen Weg finden können, ihn und Max zu befreien. In diesem Fall hätte es Max gewesen sein können, der Harvey einen Schlag auf den Kopf verpasst und danach die Explosion ausgelöst hatte. Aber würde Max zu derart gewalttätigen Mitteln greifen?
Während der Zeit, in der er und Max sich eine Zelle geteilt hatten, hatte Seth zugehört, wie Max sich darüber ausgelassen hatte, was er Kieran Alden antun würde, wenn er erst einmal aus dieser Zelle heraus wäre. Wie er ihm auflauern und ihn verprügeln oder mit einem Messer nachhelfen würde. Und wie er sich dann Kierans rückgratlosen Freund Arthur Dietrich schnappen würde. Und Sarek Hassan, den Verräter. Und je länger er Max’ kranken Rachephantasien gelauscht hatte, desto öfter hatte er sich gefragt, wie er den Kerl je zu seiner rechten Hand hatte wählen können.
Ja, dachte Seth, Max wäre in der Lage, das Schiff und die Mission zu gefährden, um seine eigenen, selbstgerechten Ziele zu verfolgen. Und irgendjemand würde den Hurensohn finden müssen, ehe er noch mehr Schaden anrichten konnte. Aber das war nicht der einzige Grund, aus dem er ihn finden musste.
Was auch immer Max getan haben und was auch immer diese Geräusche verursacht haben mochte – Kieran würde Seth für all das verantwortlich machen. Und mit diesem Vorwurf in der Hinterhand würde es Kieran ein Leichtes sein, ihn für den Rest seines Lebens einzusperren. Falls diese dröhnenden Geräusche Bomben gewesen waren und Seth beschuldigt werden würde, würde jeder auf dem Schiff ihn für einen Verräter halten.
Und was würde Waverly von ihm denken?
Seth blieb nur eine Chance: Er musste Max finden und ihn handlungsunfähig machen. Er musste Kieran, Waverly und jedem anderen auf diesem Schiff beweisen, dass er, Seth, nichts mit der Sache zu tun hatte.
Und irgendwie musste ihm das gelingen, ohne gefasst zu werden.