Die Spur

Seth erwachte mit trockenem Mund und einem schmerzenden Punkt in der Mitte seines Rückens. Nachdem er Kierans Durchsage über die Schubdüsen gehört hatte, war er in der Lage gewesen, sich zu entspannen, aber er hatte dennoch nicht mehr als eine Stunde geschlafen, vielleicht zwei. Er hätte überhaupt nicht schlafen sollen. Es war Zeit zu verschwinden. Er streckte sich und dehnte die Rücken- und Beinmuskeln, die noch immer grausam von der Anstrengung schmerzten, mit der er Harvey all diese Stufen heraufgeschleppt hatte. Dann schlich er langsam einen moosbedeckten Pfad entlang, bis er einige Erdnusspflanzen erreichte. Er grub so viele der Nüsse aus, wie er tragen konnte, und streckte sich dann zwischen einigen Farnen aus, um zu essen und nachzudenken, während er die staubigen Schalen in seiner Faust zerdrückte.

Er brauchte einen Plan, wie er das Überwachungssystem umgehen konnte.

Er trug zusammen, was er über das System wusste. Die Kameras liefen vierundzwanzig Stunden am Tag, aber der Zentralcomputer nahm nur auf, was die jeweiligen Kameras sahen, wenn deren Bewegungsdetektor aktiviert worden war. Eine naheliegende Lösung, um die schiere Masse an Videomaterial zu reduzieren, das tagtäglich überall auf dem Schiff produziert wurde. Könnte es einen Weg geben, die Software zu manipulieren, die die Bewegungsmelder steuerte?

Dann kam ihm eine Idee, und plötzlich wusste er, was er zu tun hatte.

Er sprintete zu der Tür, die zum Zentralkorridor führte, lauschte, schlüpfte hindurch und rannte dann, so schnell er konnte, zum Treppenhaus an der Steuerbordseite des Schiffs. Dieses Treppenhaus wurde kaum je genutzt, weil es entlang der Außenhülle verlief, und trotz der soliden Isolierung der Hülle war es hier eisig kalt. Seth biss die Zähne zusammen, während er mehrere Etagen hinaufsprintete, bis zur Sektion mit den Wohnkabinen. Unkontrolliert zitternd und zugleich schweißüberströmt hielt er vor der Tür zu den Wohnquartieren an und lauschte erneut.

Alles war still. Seit dem Angriff war das Schiff derart unterbevölkert, dass es ihn nicht hätte erstaunen sollen, dass sich niemand auf dem Korridor aufhielt. Dennoch fühlte es sich seltsam an – als wäre er auf einem Geisterschiff. Seine durchgefrorene Haut prickelte, als er schließlich durch die Tür schlüpfte und ihn erneut warme Luft umfing. Er duckte sich in einen Wartungsraum in der Nähe seiner alten Kabine, in sicherem Abstand zu seiner einstigen Eingangstür, weil er sicher war, dass diese beobachtet wurde. Der Wartungsraum roch nach Ammoniak und dem schmierigen Fettgeruch diverser elektronischer Werkzeuge. Unter stummem Flehen ließ er seine Finger über die Panele an der Rückseite des Raums gleiten und seufzte erleichtert, als er seinen alten geheimen Einstieg fand.

Viele Jahre zuvor hatte sein Vater ihn in diesen Raum gesperrt, und nach etlichen Stunden der Verzweiflung und des Hungers hatte Seth schließlich die Verkleidung der Rückwand gelöst und einen Gang gefunden, der hinter allen Wohnquartieren entlangführte. Der Gang beinhaltete Sanitär-, Elektrik- und Belüftungsvorrichtungen für die Kabinen, bot aber an einer Seite auch noch Platz für einen schmalen Jungen, der sich an den Installationen vorbeischlängelte. Aus Angst davor, dass sein Vater ihn hier finden und bestrafen könnte, hatte Seth niemals jemandem von seinem Fund erzählt. Jetzt war er dankbar für seine Verschwiegenheit. Niemand würde ihn hier vermuten. Und das Beste war: Er wusste, dass keine Kamera auf den Wartungsraum gerichtet war. So konnte er kommen und gehen ohne die Angst, entdeckt zu werden.

Er glitt in den schmalen Durchgang, der jetzt, da er ausgewachsen war, kaum genug Raum bot, um ihn aufzunehmen. Doch wenn er den Bauch einzog, würde es ihm gelingen, sich zwischen den unzähligen Kabeln und Rohren hindurchzumanövrieren, und wenn er vorsichtig war, würden auch seine Beine sich nicht in den Entwässerungsleitungen und Lüftungskanälen verfangen. Immer wenn er über eine der Entwässerungsleitungen stieg, wusste er, dass er eine weitere Kabine passiert hatte. Und als er an zwölf Rohren vorbei war, war er zu Hause angekommen.

Mit seinen Fingernägeln rüttelte er vorsichtig an dem Panel, bis es sich schließlich mit einem letzten Ruck löste und er im Wandschrank seines Vaters stand. Sofort umfing ihn der Geruch des alten Mannes, ein saures Aroma, das ihn stets an ranzige Zitronen erinnert hatte. Er kämpfte sich durch die Kleider im Inneren und schlüpfte schließlich durch die Schranktür, wobei er fast über einen Berg schmutziger Wäsche stolperte, der sich in der Mitte des Schlafzimmers seines Vaters auftürmte. Er fing sich auf dem Schreibtisch ab, hielt nach Lebenszeichen Ausschau, aber die Kabine war leer und wirkte verlassen und geisterhaft.

Eine Flut düsterer Erinnerungen umfing und lähmte ihn, aber er zwang sich weiterzugehen. Er griff nach dem tragbaren Kom-System seines Vaters, klappte den Bildschirm auf das Keyboard, klemmte sich das Gerät unter den Arm und wandte sich ab, um in den Schacht zurückzukehren.

Mit dem Computer unter dem Arm war der Rückweg deutlich schwieriger als der Hinweg, aber Seth nahm sich Zeit und hielt alle paar Minuten inne, um seinen wunden Muskeln eine Pause zu gönnen. Der schmutzige, stinkende Wartungsraum war eine Erlösung nach dem engen, stickigen Gang, und Seth hielt inne, um sich zu strecken, und versuchte, die Knoten zwischen seinen Rippen zu lösen.

Als er schließlich den Raum verlassen wollte, hörte er plötzlich Stimmen auf dem Korridor und stoppte, um zu lauschen. Das Herz klopfte ihm bis zum Hals. Hatten sie ihn hier aufgespürt? Vielleicht hatte Kieran ihn auf dem Vid gesehen! Aber nein. Es klang eher nach zwei kleinen Mädchen auf dem Weg zum zentralen Fahrstuhlschacht.

»Hast du gesehen, wie Kieran Waverly letzte Nacht in sein Büro abkommandiert hat?«

»Vielleicht stimmt es ja. Vielleicht haben sie sich wirklich getrennt.«

»Das glaube ich nicht. Nicht bei den Blicken, die sie ihm immer noch zuwirft.«

Seths Magen krampfte sich zusammen, und zum wohl tausendsten Mal wünschte er sich, er würde sie nicht lieben. Sie würde sich nie mit einem ungehobelten Typen wie ihm einlassen und deshalb könnte er sie sich ebenso gut gleich aus dem Kopf schlagen. Seit Jahren predigte er sich selbst, sie loszulassen, und er wusste, dass er niemals mit ihr zusammen sein würde, aber es gelang ihm einfach nicht, sie aufzugeben. Vielleicht war er stur, vielleicht auch einfach dumm.

Mal davon abgesehen, dass es so etwas wie Liebe gar nicht gibt, sagte er zu sich selbst, während ihm der wölfisch-animalische Blick wieder in den Sinn kam, mit dem sein Vater seine Mutter stets betrachtet hatte. Wenn ein Ehemann seine eigene Frau töten kann, weißt du, dass Liebe nur ein Märchen ist.

Und das brachte Seth zurück zu dem sicheren Ort, den er kannte – jenem, wo er niemanden brauchte und auch niemand jemals auf ihn angewiesen sein würde, wo er niemandem je nahe genug kommen würde, als dass dieser die Dunkelheit in ihm würde sehen können. Für Menschen wie ihn gab es keine unkomplizierte Liebe oder Freundschaft, und es war besser, wenn er allein bliebe. Und das war auch das Beste für jeden anderen Menschen, insbesondere für sie.

Seth hörte, wie sich die Türen des Fahrstuhls öffneten, der die Mädchen auf- und ihre Stimmen mit sich nahm. Er schob sich aus dem Wartungsraum heraus, rannte zum äußeren Treppenschacht und nahm stets zwei Stufen auf einmal bis hinauf zum Shuttle-Hangar. Dort angekommen, spähte er durch das Sichtfenster in der Tür, sah jedoch nur die leblosen Umrisse der Shuttles und der Ein-Mann-Gefährte entlang der Wände. Dann huschte er durch die Tür und in den Frachtraum.

Er schien voller Geister zu sein. Beide Frachträume waren derart mit Tod und Verlust belegt, dass die Crewmitglieder diese Orte mieden. Auch er selbst war nicht gern hier.

Seth duckte sich hinter eines der Shuttles und lief dann zur Kom-Station nahe des Kontrollpanels für die Luftschleuse. Er startete den tragbaren Computer seines Vaters und hackte sich in der Hoffnung, dass das Passwort noch funktionierte, über den Universalport in das Computersystem des Schiffs. Mason Ardvale war leitender Pilot der Empyrean gewesen, und als solcher waren seine Zugriffsrechte fast so umfangreich wie die von Captain Jones gewesen. Es war Mason sicherlich nicht erlaubt gewesen, sein Passwort zu speichern, selbst in seinem eigenen Rechner nicht, aber vor dem Angriff hatten sie alle es mit den Sicherheitsvorschriften nicht so genau genommen.

»Komm schon, komm schon«, flüsterte Seth, als der Monitor einen Einlog-Schirm lud. Mit angehaltenem Atem wartete er darauf, dass der Einwahlprozess automatisch vonstattengehen würde. Wenn es gelang, war er in Sicherheit. Falls nicht, würde er den Computer fortwerfen und um sein Leben rennen.

Der Bildschirm flackerte kurz, dann erschienen die Worte Zugriff gestattet.

»Danke, dass du so ein fauler Sack warst, Dad«, murmelte Seth. So schnell er konnte, lokalisierte er die Software, die das Überwachungssystem kontrollierte, und überflog die Reihen von Zahlencodes, die die Bewegungsmelder steuerten. Es kostete ihn fünfzehn enervierend lange Minuten, ehe er den Code fand, nach dem er gesucht hatte, und als er ihn schließlich fand, klappte ihm vor Staunen die Kinnlade herunter. Max musste den Code bereits verändert haben. Er hatte exakt die Veränderung vorgenommen, die auch Seth geplant hatte: die Bewegungsmelder deaktivieren, aber die Kameras eingeschaltet und funktionstüchtig lassen. Beeindruckend angesichts der Tatsache, dass Max ein Idiot war. Andererseits: Wenn er es war, der die Schubdüsen manipuliert hatte, sollte er auch in der Lage sein, die Computer umzuprogrammieren.

Sollte. Aber war er das auch wirklich? Es passte einfach nicht zu ihm.

Seth schüttelte den Kopf. Es musste Max gewesen sein. Niemand sonst hatte ein Motiv.

Er klappte den Computer seines Vaters zu, klemmte ihn sich unter den Arm und lief aus dem Shuttle-Hangar. Dann verschwand er wieder im äußeren Treppenschacht, wo er sich auf den Treppenabsatz hockte. Immerhin musste er nun nicht mehr befürchten, vom Videoüberwachungssystem aufgespürt zu werden.

Was ihm die Zeit geben könnte, die er brauchte, um Max zu finden. Wo würde er hingehen, um sich zu verstecken?

Wäre Max klug, würde er zu einem abgelegenen Ort gehen und sich still verhalten, aber Max war dumm und von Kleinmut und Hass getrieben. Während Seths kurzer Zeit als Captain des Schiffs hatte er Max mehr als einmal zurechtgewiesen, weil er betrunken zum Dienst erschienen war. Als er einen kleinen Jungen vor den Klingen eines Mähdreschers zurückgezogen hatte, hatte er ihm sogar den Arm gebrochen. Wäre er nüchtern gewesen, hätte er das Kind vermutlich retten können, ohne es zu verletzen. Seth hatte es ihm damals durchgehen lassen, aber nur, um es später zu bereuen.

Das Erste, wonach Max nach dem Ausbruch aus der Brig vermutlich der Sinn stand, war Alkohol. Und tatsächlich war die Schnapsbrennerei kein allzu schlechtes Versteck – vor allem, weil das Brennen von Alkohol vermutlich zu den letzten Dingen gehörte, die Kieran Alden seiner Crew erlauben würde. Vermutlich ging nie jemand dorthin.

Zwei Stufen auf einmal nehmend, sprintete er bis zur siebten Ebene, dann schlich er in den Korridor unmittelbar vor den Getreidesilos. Niemand war zu sehen, aber er hörte Stimmen der Crewmitglieder, die den Weizen einbrachten. Das Getreide hatte einen Staubfilm gebildet, der den Boden bis hinaus auf den Korridor bedeckte. Seth presste sich an der Wand entlang und hinein in die Brennerei, wobei er sich schmerzhaft bewusst wurde, dass er Fußabdrücke hinterließ. Er musste bereits Dutzende Spuren überall hinterlassen haben.

Der beißende Geruch von Alkohol stach ihm in die Nase und trieb ihm die Tränen in die Augen. Das Licht in dem kleinen Raum war gedimmt, und auch sonst glich das Gebäude einer Fabrikanlage. Schwärme tentakelartiger Rohre schlängelten sich die Wände entlang und bedeckten den Boden. Ein komplexes System aus Bechergefäßen und Karaffen bedeckte die Arbeitsflächen. Seth hielt inne, lauschte und sah einige kleine Tropfen, die noch immer am Hahn des Gin-Destillationsapparats hingen. Gin war Max’ Lieblingsgift. Er war definitiv hier.

»Max«, wisperte er. »Ich bin’s, Seth.«

Nichts rührte sich, aber Seth konnte spüren, dass er da war und ihm zuhörte.

»Wir sitzen im selben Boot, Max. Ich möchte dich nicht auf meine Seite ziehen«, flüsterte er, »und ich möchte auch nicht auf deine wechseln. Ich will nur reden.«

Noch immer keine Antwort.

Seth kroch den schmalen Durchgang zwischen den Arbeitsplätzen entlang, die Augen auf den Boden gerichtet. Als er das Ende des Raums erreichte, stieß er auf eine kreisrunde Ablagerung, die wie Brotkrümel aussah.

»Max, komm schon. Wir können einander helfen.«

»Ich brauche dich nicht«, kam es unwirsch zurück.

Seth fuhr herum und sah Max, der sich in einem Edelstahlschrank zusammengekauert hatte, den Blick verwaschen, den Kopf zwischen seinem fleischigen Nacken hin- und herschwingend. Max war erst vierzehn Jahre alt, hatte jedoch bereits die Physiognomie eines Erwachsenen.

»Jesus, du bist betrunken.« Das würde leicht werden.

»Ich feiere nur.«

»Und was ist, wenn du abhauen musst?«

»Sie werden mich nicht finden.«

»Aber wenn sie es tun, hast du keine Rückzugsmöglichkeit. Du sitzt in der Falle.«

Eine Minute lang dachte Max über seine Worte nach, während er ihn mit blutunterlaufenen Augen anstarrte, dann hievte er sich schließlich aus dem Schrank heraus. Als Max schließlich stand, schlug Seth der starke Geruch von Gin und abgestandenem Schweiß entgegen.

»Wohin sssssollen wir gehen?«, nuschelte er.

»An einen Ort, an dem wir reden können«, sagte Seth und griff nach dem Ellbogen des Idioten vor ihm, damit dieser nicht hinfiel.

»Warte«, sagte Max und streckte seine Hand nach der Reihe von Flaschen aus, die die Regale hinter ihm füllten. Mit einem Ruck zerrte Seth ihn von den Flaschen fort und zog ihn in Richtung Tür. Als er sicher war, dass die Luft rein war, schob er den schwankenden Max den Korridor entlang zum äußeren Treppenschacht und mehrere Stockwerke hinab, bis er die Obstplantagen erreichte. Die Bäume würden sich jetzt in ihrer Winterzeit befinden, so dass es für niemanden ausgerechnet jetzt einen Grund gab, hierherzukommen. Dann zog er Max in die hintere Ecke der Plantage hinter ein Blaubeergestrüpp. Die Jungen hockten sich auf das kalte Erdreich, die frierenden Hände unter die Achseln geschoben, und Seth wartete, bis Max wieder zu Atem gekommen war.

Max sah nicht gut aus. Er hatte blaue Ringe unter den Augen, und die Haut um seinen Mund herum wirkte ausgesprochen bleich.

»Alles okay bei dir?«, fragte Seth, auch wenn er keine Sympathie für Max und seine Trinkerei aufbringen konnte. Schnell drehte er sich zum Computer seines Vaters und schaltete die Audio-Aufnahmen-Software auf Ein. Er hatte befürchtet, dies in Max’ Gegenwart tun zu müssen, aber der andere Junge war derart betrunken, dass er es nicht bemerkte.

»Ich habe Magenkrämpfe«, sagte Max und krümmte sich.

»Das war eine gute Idee mit den Schubdüsen«, sagte Seth beiläufig. »Ein gutes Ablenkungsmanöver.«

»Jupp«, meinte Max abwesend.

»Wie hast du das gemacht?«

»Was gemacht?« Max schnappte nach Luft und massierte seine Körpermitte.

»Wie hast du die Düsen programmiert, dass sie so fehlzünden, wie sie es getan haben?«

Max musterte ihn erstaunt. »Ich dachte, du wärst das gewesen.«

»Komm schon, Max. Sprich mit mir von Kumpel zu Kumpel. Wem sollte ich es schon erzählen?«

»Ehrlich, ich war der festen Überzeugung, du hättest das getan. Ich habe keine Ahnung, wie man so etwas zustande bringt.«

Seth sah Max in die Augen und kam zu dem Schluss, dass er die Wahrheit sagte. »Und was ist mit der Software der Überwachungskameras?«, setzte Seth nach, obwohl er die Antwort bereits kannte.

»Was ist denn damit?«, fragte Max nervös.

Aber wer war es dann?, überlegte Seth. »Hast du gesehen, wer uns rausgelassen hat?«

Max hielt sich den Bauch, die Augen traten aus den Höhlen, und er keuchte. »Nein. Ich bin vom Aufklicken meiner Zellentür wach geworden, aber da waren sie schon fort.«

»Und Harvey?«

»Hab keine der Wachen gesehen«, sagte Max.

»Irgendwelche Ideen, wer uns rausgelassen haben könnte?«

»Die Einzige, die je kam und dich besucht hat, war Waverly«, sagte der Junge mit schmerzverzerrtem Gesicht, die Hände noch immer auf den Bauch gepresst. »Mich hat nie jemand besucht.«

»Das ist wahr«, sagte Seth langsam.

Max krümmte sich erneut zusammen; er wimmerte, und Seth wartete, während Max stöhnte und jammerte. Nach einer gefühlten Ewigkeit lehnte sich Max erneut zurück. »O Mann, das war schlimm.«

»Also dann, was willst du jetzt tun?«

»Glaubst du, ich habe vor, dir etwas davon zu sagen?«

»Na dann.« Seth stand auf und schickte sich an zu gehen. Er bereute bereits, dass er seine Zeit mit dem Versuch verschwendet hatte, mit diesem Schwachsinnigen zu sprechen. »Komm mir nicht nach.«

»Warte«, sagte Max schwach. Seine Hand fuhr erneut zu seinem Bauch, und er lehnte sich auf einen Ellbogen. »Weißt du, ich glaube, ich bin krank.«

»Du solltest nicht trinken.«

»Ich glaube, dass es mit etwas zu tun hat, das ich gegessen habe …«

»Verrottete Lebensmittel?«

»Brot und Miso, das jemand mir hingelegt hat. Auf meinem Weg nach draußen habe ich es mitgenommen.« Erneut krümmte er sich zusammen, dann erbrach er eine faulig riechende, grünliche Flüssigkeit. Sein Kopf rollte nach hinten, die Lippen wurden blau.

»O Gott, Max. Du bist krank.«

»Kein Scherz«, sagte Max. Dann warf er den Kopf in den Nacken, deutlich weiter, als es physikalisch möglich hätte sein dürfen, und plötzlich schnarchte er heftig. Seth fühlte den Puls an seinem Handgelenk – der Herzschlag raste.

Seth kannte die Folgen einer Lebensmittelvergiftung; er hatte sie bereits gesehen, und auch er selbst war ein paarmal davon betroffen gewesen. Aber das hier war etwas anderes, etwas Ernsthaftes.

»Max!« Seth hielt den Kopf des Jungen nun in aufrechter Position, um ihm das Atmen zu erleichtern, und Max öffnete seine Augen. »Hier können wir nicht bleiben!« Seth erhob sich und zog an Max’ Arm. Tatsächlich versuchte Max aufzustehen, aber dann stolperte er in Seths Beine hinein und fiel zurück auf den Boden, wo er sich verrenkte, als gäbe es keine Knochen in seinem Körper. Es war mehr als offensichtlich, dass er sich aus eigener Kraft nirgendwo mehr hinbewegen würde.

»Verflucht«, spuckte Seth hervor. Kurz hielt er inne und dachte nach, dann rannte er zu dem Korridor, überprüfte, ob sie noch immer allein waren, kehrte zu Max zurück und hievte ihn auf seine schmerzenden Schultern. »Ich kann einfach nicht glauben, dass ich das schon wieder tue!«

Max war sogar noch schwerer als Harvey. Seth hörte seine Wirbelsäule knirschen, als er mit Max auf dem Rücken durch den Obstgarten und zum Aufzugszentralschacht keuchte. Seine Beine schmerzten bereits vor Anstrengung. Unmöglich, den Kerl die Stufen hinauf bis zur Krankenstation zu tragen.

Er setzte Max unten vor den Türen des Fahrstuhls ab und schüttelte ihn, bis er die Augen öffnete. »Max, ich schicke dich jetzt zur Krankenstation, damit sie dir dort den Magen auspumpen können.«

»Nein! Sie stecken mich zurück in die Brig!«

»Max, hör mir zu. Du bist vergiftet worden.«

Max’ Kopf knallte mit einem dumpfen Geräusch gegen die Wand in seinem Rücken, und er begann erneut zu schnarchen. Seth schüttelte ihn. »Max! Du musst eine Minute wach bleiben, okay? Wenn du in der Krankenstation ankommst, musst du ihnen sagen, dass du vergiftet worden bist. Kriegst du das hin?«

Max winkte ab und rollte sich an der Wand zusammen.

»Max!« Seth richtete sich auf und gab ihm eine schallende Ohrfeige.

Max’ Augen öffneten sich erneut, und er sah Seth erstaunt an.

»Bleib wach. Eine Minute nur. Okay?«

»Okay! Jesus!« Der Junge sammelte sich, straffte den Rücken und schüttelte den Kopf. Er war wieder bei Sinnen.

Als der Aufzug ankam, schob Seth ihn hinein und drückte den Knopf zur Krankenstation, ehe er zurück in den Korridor sprang. Als die Türen sich schlossen, sagte er: »Vergiss nicht, ihnen zu sagen, dass du vergiftet worden bist, Max. Okay?«

Max nickte, und die Türen schlossen sich.

Seth joggte zum äußeren Treppenschacht; seine Gedanken rasten. Die ganze Zeit über hatte er gedacht, die Fehlzündung der Schubdüsen wäre ein Ablenkungsmanöver gewesen, das Max initiiert hatte, um von seiner Flucht aus der Arrestzelle abzulenken. Aber was, wenn ihre Flucht das eigentliche Ablenkungsmanöver gewesen war? Was, wenn die Fehlzündung, das Vom-Kurs-Abbringen der Empyrean, das war, um das es eigentlich ging – und wenn der, der es getan hatte, Max und ihm die Schuld dafür in die Schuhe schieben wollte?

Wer würde so etwas tun?

Seth tauchte ein in die eiskalte Luft des äußeren Treppenschachts.

Er erfuhr nicht, dass Max in dem Augenblick, als sein Fahrstuhl die Krankenstation erreichte, das Bewusstsein verlor.

In der Nacht fiel er in ein tiefes Koma.

Und als der Morgen kam, war Max Brent tot.

Sternenfeuer: Vertraue Niemanden: Roman
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