Der Angriff

Kieran ließ den Blick über seine Gemeinde wandern und strahlte. Die Aula war noch nie so voll gewesen, noch nicht einmal an einem Sonntag, noch nicht einmal, seit er die Teilnahme am Gottesdienst zur Pflicht gemacht hatte. Nahezu jeder Platz war besetzt. Sogar Waverly war hier, in einer der mittleren Reihen, trug ein blaues Kleid und sah zu ihm hinauf. Da war irgendetwas in ihrem Verhalten, das festzumachen ihm schwerfiel. Bescheidenheit? Schuldbewusstsein? Vielleicht tat es ihr leid, wie ihre Unterhaltung gelaufen war, und nun war sie hier, um es wiedergutzumachen.

Heute fühlte er sich besonders durchdrungen von seiner Rede. Seine Stimme war klarer, seine Worte kraftvoller, er selbst mehr von Freude durchdrungen, sein Herz offen. Er würde sie erreichen. Er wusste es.

»Habt ihr jemals darüber nachgedacht, wie es kam, dass ihr auf diesem Schiff gelandet seid, statt auf der Erde zu bleiben, wo ihr auf einem Planeten leben müsstet, der sich vor euren Augen in eine Wüste verwandelt? Habt ihr euch jemals Gedanken gemacht, wie viele besondere Umstände in genau der richtigen Reihenfolge ineinandergreifen mussten, um euch zu einem der wenigen Auserwählten für die wichtigste Mission zu machen, die die Menschheit je unternommen hat?«

Er räusperte sich, den Blick auf die flache, hölzerne Kante seines Podiums gerichtet. Er strich über die Kante und spürte das feste Holz unter seinen Händen. Es fühlte sich zuverlässig und wahrhaftig an.

»Einige von euch erinnern sich vielleicht an Arthur Dietrichs Geschichte. Erinnert ihr euch noch? Wie seine Eltern den ganzen Weg über den Atlantischen Ozean auf einem Frachtschiff zurücklegen mussten? Die Maschinen des Schiffs gaben fünfhundert Meilen vor der Küste von Grönland den Geist auf, weil das schlechte Benzin sie zerstört hatte, und das Schiff trieb sechs Wochen lang in der Nordsee, die Menschen destillierten ihr eigenes Wasser und aßen nur das, was sie mit ihren Fischernetzen fangen konnten, bis endlich ein Kreuzfahrtschiff vorbeikam und sie in einen Hafen Neuschottlands schleppte. Sie mussten per Anhalter mit der Interkontinentalen Eisenbahnlinie fahren, auf dem Dach von Triebwagen, die nicht dafür ausgelegt waren, Menschen zu transportieren. Sie froren bei Nacht, und am Tag brieten sie in der Sonne, bis sie es schließlich schafften, Chicago zu erreichen, wo sie sich einer erschöpfenden Reihe von Eignungstests unterziehen und wieder und wieder ihr Bildungsniveau unter Beweis stellen mussten, bis ihre Namen schließlich in eine riesige Verlosung aufgenommen wurden. Aber das war noch nicht das Ende. Nein. In der ersten Runde wurden sie nicht ausgewählt, wusstet ihr das? Ihre Namen wurden in der Nachrückliste gespeichert, und sie hätten sich fast schon geschlagen gegeben und wären nach Deutschland zurückgekehrt. Schließlich sollte die Mission schon in zwei Wochen beginnen. Aber sie entschlossen sich trotzdem zu warten, und wisst ihr, was passierte? Die Menschen, die vor ihnen auf der Liste standen, wurden von Gangstern bei einem willkürlichen Überfall getötet – nur vier Tage vor dem Start der Empyrean. Und so geschah es, dass Gunther und Edith Dietrich doch noch als Techniker für die Crew der Empyrean ausgewählt wurden. Macht euch das mal bewusst. Denkt an all die Dinge, die hätten schieflaufen können und es doch nicht taten.« Kieran beschrieb mit seinen Händen eine Geste des Erstaunens. »Manche Leute mögen es Zufall nennen oder Glück, aber mein Herz sagt mir, dass Zufall und Glück allein nicht erklären können, was Arthurs Eltern geschah. Und denkt an all die anderen Geschichten. An die Crewmitglieder, die mit Zähnen und Klauen darum kämpfen mussten, an Bord dieses Schiffs zu gelangen. Eure Eltern. Meine.«

Er konnte sehen, wie sie sich zurückerinnerten, in ihren Stühlen saßen und in die Vergangenheit blickten, einen Ausdruck von Konzentration auf jedem ihrer Gesichter.

»Für mich gibt es nur eine logische Schlussfolgerung. Wir gehören hierher. Dieses Schiff ist unsere Bestimmung. Wir alle sind Teil eines größeren Plans. Jeder von uns tut genau das, für das er vorgesehen ist, und er tut es genau auf die Art, die ihm vorbestimmt ist. Und das ist es, was mir die Sicherheit gibt zu wissen, dass wir nicht scheitern werden.«

Er machte eine Pause, gerade lang genug, um das Echo seiner Stimme zu hören, das sich an den Wänden des Auditoriums brach. Es gab kein schöneres Gefühl für ihn als diese Momente der Stille während seiner Predigten. Jene Augenblicke, in denen er die Präsenz Gottes fühlen konnte. Da war so viel Liebe in ihm, alles fühlte sich so richtig an. Er war glücklich, dass Waverly gekommen war, um es zu sehen. Jetzt sah er sie an, ihr wunderschönes ovales Gesicht und ihre großen Augen. Die Art, wie sie an seinen Lippen hing. Er konnte sehen, dass sie angestrengt über irgendetwas nachdachte. Hatte er sie erreichen können?

»Könnt ihr es spüren?«, flüsterte er in sein Mikrofon und hielt dann inne und wartete darauf, dass die vollkommene, andächtige Stille seiner Gemeinde den Raum ganz durchdrang.

»Könnt ihr die Kraft spüren, die in dieser Botschaft liegt? Ich hoffe, dass ihr nicht aufhört, sie zu spüren. Dass sie euch durch den Tag trägt. Ich hoffe, dass ihr diese Kraft in euch bewahrt, bis wir uns morgen früh wiedersehen, um unser Glaubensbekenntnis zu erneuern.«

Und jetzt kam seine Lieblingsstelle. Er trat neben das Podium, hob seine Hände und rief der Menge zu: »Nun ist es an euch zu sprechen! Bitte tretet vor, um eure Sorgen und Anliegen mit uns zu teilen!«

Er war geschockt, als Waverly ohne Zögern aufstand.

»Es macht mir Sorgen, dass wir noch immer keine Wahl abgehalten haben«, sagte sie und schaute ihn direkt an. »Dieses Schiff ist als eine demokratische Gemeinschaft gedacht und vorgesehen. Was wir unverzüglich brauchen, ist ein Zentralrat.«

Jedes ihrer Worte war wie ein Eissplitter.

Aber ihre Stellungnahme war nur der Anfang einer Lawine. Sarah Hodges erhob sich in der Mitte der Gemeinde, richtete ihre zornigen Augen auf ihn und sagte mit einem schadenfrohen Grinsen: »Mir macht es Sorge, dass Kieran uns Informationen vorenthält. Wir haben einen Terroristen an Bord, und wir müssen wissen, was vor sich geht.«

Kieran öffnete den Mund, um zu antworten, doch da erhob sich bereits Melissa Dickinson und rief mit ihrer dünnen Stimme: »Ich bin besorgt darüber, dass Kieran Alden Leute in die Arrestzelle werfen lässt, ohne dass ein Friedensrichter hat prüfen können, ob die Anschuldigungen gerechtfertigt sind.«

Das hier war ein Alptraum. Wie paralysiert starrte Kieran die drei Mädchen an, bis Waverly sich schließlich räusperte.

»Kieran hat seine Sache großartig gemacht«, sagte sie laut und wandte sich nun an die gesamte Gemeinde. »Aber er war genauso traumatisiert von dem Angriff wie jeder Einzelne von uns. Wie können wir von ihm erwarten, die Last des Regierens dieses Schiffs allein auf seinen Schultern zu tragen? Auch er braucht etwas Zeit, um sich zu erholen.«

Ihr Blick traf seinen, und ihre Stimme war glockenhell, als sie sagte: »In Anbetracht dessen nominiere ich Sarah Hodges als Gegenkandidatin zu Kieran Alden bei einer allgemeinen Wahl um den Kapitänsrang auf diesem Schiff.«

»Und ich nominiere Waverly Marshall für den Zentralrat«, rief Sarah Hodges.

Plötzlich war die Luft erfüllt von Stimmen, die Namen riefen, um Posten an Bord des Schiffs zu besetzen.

Das Ganze musste inszeniert worden sein. Sie waren nicht gekommen, um seiner Predigt zu lauschen. Sie waren gekommen, um seine Führungsposition anzugreifen.

»Einen Augenblick! Wartet!«, donnerte er über ihre Köpfe hinweg. Er hatte nicht so zornig klingen wollen, aber immerhin brachte es sie zum Schweigen. Alle zweihundertfünfzig Kinder wandten sich zu ihm um. »Wie können wir eine Wahl abhalten, während wir einen Terroristen an Bord haben?«

»Wir können das an einem Tag hinter uns bringen«, rief Waverly der Menge zu. »Und wenn du in der Wahl in deiner Position bestätigt wirst, kannst du noch heute Nacht beginnen, den Zentralrat einzuweisen, damit dessen Mitglieder gleich morgen anfangen können, die Last des Regierens mit dir zu teilen.«

Er hasste sie dafür, dass sie es so darstellte, als täte sie ihm damit einen Gefallen.

Sarah Hodges begann Zettel zu verteilen. Sie hatte Hunderte von ihnen dabei, und die Kinder griffen begierig danach. Kieran sah zu Waverly hinüber, und sie erwiderte seinen Blick mit nicht einer Spur von Reue im Gesicht. Das letzte bisschen an Bewunderung, das er ihr entgegengebracht hatte, erlosch, und er erkannte, dass diese herrlichen großen Augen, das herzförmige Kinn, diese hohen Wangenknochen, die honigfarbene Haut – dass all dies das Gesicht seines Feindes war.

»Das ist unser Fahrplan für die Debatten zwischen den Nominierten«, rief Sarah Hodges in die Menge. »Am Ende jedes Vortrags eines der Nominierten können wir für unseren Favoriten abstimmen. In ein paar Stunden werden wir einen Zentralrat haben. Danach können wir am Nachmittag einen Friedensrichter wählen, und schon heute Abend können die beiden für den Kapitänsposten nominierten Anwärter ihre Reden halten. So bleibt dir auch noch Zeit, dich vorzubereiten, Kieran.«

»Ich brauche keine Vorbereitungszeit!«, sagte Kieran wütend.

»Gut«, entgegnete Sarah gut gelaunt.

Er starrte auf ihr unverfrorenes Grinsen und schüttelte ungläubig den Kopf.

Aber als er seinen Blick nun über die Menge schweifen ließ, begann er zu verstehen, wie eifrig sie alle bei der Sache waren. Die Kinder rasten umher, aufgeregt, lasen den Ablaufplan, sprachen miteinander. Noch nie hatte er sie so lebhaft bei der Sache gesehen. Sie wollten das, was hier geschah.

Würde er jetzt versuchen, die Wahl zu verhindern, würde er seine Position als Captain definitiv verlieren.

»Ich beuge mich dem Willen der Crew«, sagte er laut, um sicherzugehen, dass jeder ihn hören konnte. Mit einem hinterhältigen Lächeln reichte Sarah ihm einen der Ablaufpläne. Er zog sich in sein Büro zurück, um nachzudenken, und ließ das Sirren aufgeregter Stimmen hinter sich, die alle gleichzeitig zu sprechen schienen.

Er bettete seinen Kopf auf seine Schreibtischplatte und schloss die Augen. Das hier war eine Prüfung. Seine Prüfung.

Er atmete tief ein und versuchte, sich wieder zu beruhigen.

Ich muss mich auf meinen Glauben besinnen, sagte er sich selbst. Wenn diese Wahl Teil seines großen Plans ist, muss ich nur Vertrauen haben.

Aber was, wenn ich verliere?, dachte er. Das werde ich nicht. Ich bin dazu auserwählt, der Captain zu sein. Was hätte all das sonst für einen Sinn gehabt?

Als er schließlich in die Aula zurückging, war er ruhig und bereit, seinen Gegnern gegenüberzutreten. Die Debatten begannen gerade.

Rund fünfundzwanzig Crewmitglieder saßen auf dem Podium und konkurrierten um eine Position in dem siebenköpfigen Zentralrat. Sie alle waren begierig darauf, darzulegen, wie sie dazu beitragen würden, Leben und Abläufe auf der Empyrean zu verbessern. Tapfer ertrug Kieran Kritik um Kritik, wobei das meiste davon auf mangelhaftem Verständnis der Redner für die Kapazitäten der Crew und des Schiffs basierte.

Den absurdesten Vorschlag machte Adam Mizrahi: »Wir können schon morgen zur New Horizon aufschließen, wenn wir die Maschinen der Empyrean so weit hochfahren wie irgend möglich.«

Er erntete dafür starken Applaus von den jüngeren Kindern, aber Kieran konnte sehen, dass die älteren, die verstanden, welchen Einfluss die erhöhte Schwerkraft auf ihre Gesundheit haben würde, weniger begeistert waren.

Arthur Dietrich, der auch nominiert worden war, stand auf und wandte sich an Adam: »Abgesehen von den Auswirkungen, die das auf unsere Körper haben würde, können wir die Maschinen nicht stärker beanspruchen, als wir es bereits tun, ohne einen Zusammenstoß mit Weltraumpartikeln zu riskieren, die unsere Außenhülle beschädigen könnten. Das steht auch im Handbuch für Steuerung und Navigation, falls du dir die Mühe machen möchtest nachzuschauen.«

Das brachte die Menge zum Schweigen, und Arthur wandte sich ihr zu. »Im Zentralrat muss zumindest eine Person vertreten sein, die mit dem Schiff vertraut ist und die letzten Informationen zum Terroristen und zur New Horizon kennt. Wenn ihr mir eure Stimme gebt, bin ich diese Person.«

Er sah Kieran vielsagend an, und der wusste, dass Arthur ihm als treuer Verbindungsmann dienen würde. Kieran hoffte, dass er gewählt werden würde.

Dann hob Waverly die Hand, um die Aufmerksamkeit der Menge zu bekommen. »Ich kenne mich besser als jeder hier mit den Kommandostrukturen auf der New Horizon aus, und die politische Situation auf diesem Schiff ist mir ebenso vertraut wie sein physischer Aufbau. Wenn sie einen Angriff planen, wird mein Fachwissen für den Zentralrat von unschätzbarem Wert sein.«

»Du hast unsere Eltern zurückgelassen!«, kreischte ein schmales Mädchen in den hinteren Reihen, eine von Marjories Gefolgsleuten. Etliche andere Mädchen stimmten in das schrille Kreischen ein, und Marjorie thronte in der Mitte dieser Gruppe und lächelte.

»Wenn ich sie zurückgelassen habe, habt ihr sie ebenso zurückgelassen«, schoss Waverly zurück, und ihre Augen funkelten.

Das schien die Mädchen einzuschüchtern. Aber einige der Jungen waren noch immer nicht zufrieden. »Du hast noch nicht einmal versucht herauszufinden, wer von ihnen noch am Leben ist!«, rief ein Zwölfjähriger. Kieran wusste, dass seine Eltern als vermisst galten.

»Hast du eine Schusswunde in deinem Körper?«, fragte Waverly zornig, zog den Kragen ihres T-Shirts herunter und entblößte die scheußliche Vertiefung in ihrer Schulter. »Das habe ich bekommen, als ich versuchte, unsere Eltern zu retten. Und ich hätte es auch getan, wenn ich nicht inmitten eines Kugelhagels gestanden hätte.«

»Du hast sie dort zurückgelassen!«, schrie Marjorie Wilkins. Auch wenn sie eine von Kierans leidenschaftlichsten Unterstützerinnen war, hatte er sie nie wirklich gemocht. Da war etwas in ihrem hämischen Gesicht, das auf eine widerliche kleine Seele hindeutete.

»Es war mein Plan und der von Sarah Hodges, der die Mädchen von diesem Schiff gebracht hat. Samantha Stapleton gab ihr Leben, damit wir uns selbst befreien konnten«, sagte Waverly, den Blick auf Marjorie gerichtet. »Dass hier und heute in dieser Versammlung überhaupt Mädchen sitzen, ist uns zu verdanken.«

Dazu schien niemand etwas zu sagen zu haben.

Als die Wahlreden schließlich beendet waren, reihten sich alle Mitglieder der Crew an der Rückseite der Aula auf und gaben ihre sieben Favoriten für den Zentralrat in einen Computer ein, der die Angaben sofort auswertete. Einige von Kierans Unterstützern waren gewählt worden. Arthur war dabei, auch Tobin Ames – »Doktor Tobin«, wie die Kinder ihn zu nennen begonnen hatten – und Harvey Markem, ein Kommando-Offizier. Harvey trug nicht länger den Verband um seinen Kopf und sah wieder vollständig genesen aus. Auch Waverly war mit einer knappen Mehrheit gewählt worden, gemeinsam mit einigen Kindern, die eher auf ihrer Seite standen: Alia Khadivi war eine loyale Freundin Waverlys; auch Melissa Dickinson – das Mädchen, das die Aufgabe übernommen hatte, sich um die Kinder zu kümmern – hatte Waverly stets vor ihren Angreifern in Schutz genommen; und Sealy Arndt war Seths hitzköpfiger Kumpel gewesen. Kierans Mut sank. Seine Unterstützer würden im Zentralrat in der Minderheit sein. Arthur würde bei den Diskussionen all seine Überzeugungskraft einsetzen müssen.

Nach einer scheinbar endlosen Debatte zwischen fünf Kandidaten für den Friedensrichter einigte sich die Crew schließlich mit knapper Mehrheit auf den zwölfjährigen Bobby Martin. Kieran versuchte, sein Missfallen über diese Wahl nicht allzu deutlich zu zeigen. Bobby war unberechenbar, und Kieran war sich seiner Loyalität niemals sicher gewesen. Es erschien ihm wahnsinnig, die Rechtsgewalt auf die Schultern eines Jungen zu laden, der sich noch nicht einmal rasieren musste. Das Problem war, dass all die älteren Kinder bereits Positionen als Wachen, Mitglieder des Zentralrats oder in der Kommandozentrale innehatten. Sie hatten nicht mehr genug Jugendliche, um das Schiff am Laufen zu halten.

Kieran warf Waverly einen zornigen Blick zu und war überrascht festzustellen, dass auch sie ihn ansah. Er nickte ihr zu, da es nun so aussah, dass er mit ihr würde zusammenarbeiten müssen – ganz gleich, was er ihr gegenüber empfand. Aber er wusste, dass sie die Wut hinter seinen glatten Gesichtszügen erkennen konnte. Er war noch nie in der Lage gewesen, irgendetwas vor ihr zu verbergen.

Als alle Debatten für die niedrigeren Positionen abgeschlossen waren, ging Waverly zu dem verlassenen Podium und griff nach dem Mikrofon. »Es ist Zeit für die Debatte um den Kapitänsposten. Ich möchte jetzt Sarah Hodges auf das Podium bitten.«

Sarah machte sich auf den Weg, schwang ihre Arme und wirkte, als würde sie sich auf einen physischen Kampf vorbereiten. Sie griff nach dem Mikrofon und warf Kieran ein hasserfülltes Lächeln zu, ehe sie begann. »Wie ihr wisst, wurde ich einige Tage zuvor ohne ein rechtmäßiges Gerichtsverfahren eingesperrt. Ich wurde bedroht und als Verräterin gebrandmarkt. Stimmt ihr nicht für mich, mag euch vielleicht eines Tages dasselbe Schicksal ereilen. Kieran Alden ist nicht der Captain dieses Schiffs. Er ist ein Diktator, und es liegt an jedem Einzelnen von uns, ihn zu stoppen.«

Kieran zitterte vor Zorn, während er Kränkung um Kränkung lauschte, die Sarah ihm entgegenschleuderte. Es erschreckte ihn, von sich selbst mit solchem Hass sprechen zu hören, aber als er seinen Blick über die Menge schweifen ließ, sah er etliche unter ihnen, die Sarah mit Skepsis betrachteten. Je länger sie sprach – darüber, wie sie die Verfolgungsjagd auf die New Horizon beschleunigen wollte und wie sie Anne Mather und ihren Zentralrat für ihre Taten hinrichten lassen würde –, desto weniger klang sie wie ein Anführer, sondern mehr wie ein zorniges, verängstigtes kleines Mädchen, das nicht die geringste Ahnung hatte, was auf sie zukam und wie sie dem gegenübertreten sollte. Auch wenn am Ende ihrer Rede Applaus aufbrandete, wusste Kieran, dass er es besser konnte.

Als er das Podium betrat, initiierte Arthur, der an der hinteren Wand des Raums stand, eine derartige Welle von Jubelrufen, dass Kieran sich gleich sicherer fühlte.

»Das war zweifellos eine sehr interessante Geschichte, die Sarah Hodges euch da über mich erzählt hat«, sagte er und versuchte, mehr amüsiert als wütend zu klingen. »Ich nenne es eine Geschichte, weil nichts davon wahr ist. Ich habe Miss Hodges in die Brig bringen lassen, weil sie uns wichtige Informationen vorenthalten hat, die uns hätten helfen können, Seth Ardvale und den Terroristen zu finden. Ich kümmere mich darum, unsere Eltern zurückzuholen, und ich kümmere mich darum, dieses Schiff am Laufen zu halten, aber es gibt eine Sache, die mir noch mehr am Herzen liegt: euch am Leben zu erhalten. Wenn ein Wahnsinniger hier auf dem Schiff frei herumläuft und unsere Crew tötet, wie er auch Max Brent getötet hat, glaubt ihr nicht, dass es dann besser ist, vor nichts haltzumachen, um ihn zu finden und zu richten?«

Arthur schrie von der Rückwand aus seine Zustimmung, was einen Chor aus Rufen und Beifallspfiffen auslöste.

»Schaut«, sagte Kieran und wartete dann, bis der Applaus sich gelegt hatte. »Ich weiß, dass ich kein perfekter Captain gewesen bin. Ich habe Fehler gemacht. Ebenso wie ihr bin auch ich ein Kind, das den Job eines Erwachsenen macht. Auch wenn es Probleme auf dem Weg gegeben hat, bin ich überzeugt, dass ich auf diesem Schiff am besten für den Posten geeignet bin.«

Erneuter Applaus. Schon jetzt klang die Menge begeisterter als während Sarahs Rede. Sie saß in der ersten Reihe, blickte Kieran missmutig an und kaute auf einem ihrer Fingernägel.

»Noch wichtiger aber ist, dass wir unsere Anführer nicht mitten in dieser Sache auswechseln sollten. Ich mache diesen Job jetzt bereits seit etlichen Monaten. Ich weiß, was es bedeutet. Ich kenne mich mit dem Schiff aus. Die Führungspositionen auszutauschen, während wir mit einer ernsthaften Bedrohung konfrontiert sind, kann in einem Desaster enden. Nicht nur für das Schiff, sondern auch für unsere Rettungsmission. All dies sind gute Gründe, mich in die Position des Captains zu wählen«, sagte er bescheiden. »Aber es gibt einen weiteren Grund, der alles andere in den Schatten stellt.« Aus rhetorischen Gründen machte er eine Pause und blickte über die versammelte Crew hinweg, die geschlossen zu ihm aufsah, manche von ihnen skeptisch, aber die meisten interessiert und hoffnungsvoll. »Niemand hat so wie ich eine Vision für die Zukunft dieses Schiffs. Es ist mir gelungen, aus einem Haufen ungepflegter, handlungsunfähiger Jugendlicher eine Crew zu formen, die heute dieses Schiff am Laufen hält. Schaut euch an, wie weit wir gekommen sind! Aber ich kann mir diesen Sieg nicht auf die Fahnen schreiben. Ich glaube, dass wir es nur geschafft haben, uns zusammenzunehmen, weil wir schließlich akzeptiert haben, dass wir eine gemeinsame Bestimmung haben. Gemeinsam prägen wir die Gesinnung, die unsere Zukunft formen wird, und ich fühle mich unbeschreiblich geehrt, das Instrument zu sein, das es uns ermöglicht, unsere Bestimmung als Schöpfer einer Neuen Welt zu erfüllen.«

Nun entstand eine nachdenkliche Pause, ehe der Applaus aufbrandete, aber als er es schließlich tat, war er laut und lang anhaltend. Kieran nickte. Jetzt war er sich sicher, dass er gewählt werden würde.

Die Wahl dauerte nur einige Minuten, während derer jedes Mitglied der Crew einen schmalen Wahlzettel in einen Kasten warf. Auch das Auszählen der Stimmen durch drei unabhängige Zähler ging schnell, und sie zählten gleich vor Ort. Sarah folgte dem Prozess mit zusammengekniffenen Augen und warf immer wieder wütende Blicke in Kierans Richtung. Er saß in der ersten Reihe und versuchte selbstsicher auszusehen, aber er sorgte sich dennoch. Was würde er tun, wenn er nicht mehr Captain wäre? Er war sich nicht sicher, ob das Leben für ihn dann immer noch dieselbe Bedeutung haben würde. Er musste einfach gewinnen.

Und du wirst auch gewinnen, sagte die Stimme in seinem Hinterkopf.

Er setzte sich gerader hin. Wo war sein Glaube geblieben? Wenn es wirklich seine Bestimmung war, die Empyrean nach New Earth zu führen – und daran glaubte er ja –, dann würde er natürlich gewinnen. Er sollte keine Angst haben.

Als die drei Auszähler – Harvey Markem, Alia Khadivi und Melissa Dickinson – schließlich ans Mikrofon traten, erstarb das Gemurmel im Raum, und alle sahen sie erwartungsvoll an.

Harvey räusperte sich, und sein Gesicht leuchtete rot unter seinem orangefarbenen Haar. »Sarah Hodges erhielt einundneunzig Stimmen. Kieran Alden erhielt einhundertneunundvierzig Stimmen. Kieran Alden ist –«

Harveys Stimme ging in einer Welle von Applaus und Rufen unter. Kieran stand auf, und der Applaus steigerte sich zu einem Crescendo, als er die Stufen zur Bühne hinaufstieg und zum Podium schritt. Er konnte nicht anders, als zu lächeln. Als er zu Sarah hinabsah, saß sie mit vor der Brust verschränkten Armen da und machte ein finsteres Gesicht. Waverly saß einige Reihen hinter ihr und wirkte nicht erstaunt.

»Danke, ich danke euch«, sagte er mit einem Lächeln und hielt eine Hand in die Luft, um die Menge zum Schweigen zu bringen. Schließlich verebbte der Jubel, die Leute setzten sich, um seiner Rede zu lauschen. »Zunächst einmal möchte ich Waverly Marshall danken, weil sie diese Wahl einberufen hat.«

Waverly sah ihn teilnahmslos an. Falls sie den Sarkasmus in seiner Stimme gehört hatte, ließ sie es sich nicht anmerken.

»Ich möchte euch nur alle wissen lassen, dass ich dieses Schiff auch weiterhin führen werde …«

Einige Leute in den hinteren Reihen husteten, und er wartete darauf, dass es wieder still wurde. Aber dann begannen auch weitere Kinder in der hinteren Reihe zu husten, und einige von ihnen standen auf und bedeckten ihr Gesicht mit den Händen.

Und dann fielen sie um.

Kieran vergaß, was er hatte sagen wollen, und beobachtete, wie die Infektion sich von den hinteren Reihen nach vorne auszubreiten schien. Mehr und mehr Kinder verzogen das Gesicht, würgten, krümmten sich, und Tränen liefen ihnen über die Wangen. Es breitete sich in Richtung der Bühne aus wie eine Welle. »Evakuieren!«, schrie Kieran ins Mikrofon. Die Leute in den ersten Reihen sahen ihn verblüfft an. »Auf der Stelle evakuieren!«, schrie er. »Verlasst den Raum durch die vorderen Türen! Hier drinnen ist irgendeine Art von Gas! Lauft!«

Es schien Stunden zu dauern, bis sie endlich aufstanden, sich umdrehten und sahen, wie die anderen Mitglieder der Crew in den hinteren Reihen zu Boden fielen, wie sie sich an den Hals fassten und um Atem rangen. Schließlich verstanden sie.

Und dann brach das Chaos aus.

Kieran ließ seinen Blick über die Menge schweifen, zuerst zu Waverly, die zwei kleine Mädchen trug, eines auf jeder Hüfte, und unbeholfen auf den nächstgelegenen Ausgang zurannte. Als Nächstes fiel sein Blick auf Sarah Hodges, die einen kleinen Jungen hinter sich herzog und ihre Nase und ihren Mund mit dem Kragen ihres T-Shirts bedeckte.

Dann sah er Arthur.

Er lag auf dem Rücken, alle viere von sich gestreckt, genau auf dem Mittelgang.

Kieran dachte nicht nach, sondern sprang.

Er schwamm gegen den Strom der Menge an, stieß gegen Schultern und verschwitzte Köpfe, kämpfte sich weiter, um zu Arthur zu gelangen. Noch sechs Meter. Er konnte ihn durch die Menge, die sich ihm entgegenstemmte, nicht mehr sehen – ein endloser Strom angsterfüllter, tränenüberströmter Gesichter rauschte auf dem Mittelgang an ihm vorbei. Er fühlte ein grauenvolles, ätzendes Stechen in seiner Kehle, seinen Augen, seinem Magen. Es schmeckte nach vergorenem Orangensaft. Er glaubte, sich übergeben zu müssen, aber dann begriff er, dass er vermeiden sollte, es überhaupt einzuatmen. Er hielt sich den Mund zu, zwang sich dazu, nicht einzuatmen. Er warf sich gegen die noch immer fliehenden Kinder – noch drei Meter – und glaubte, ein Schimmern von blondem Haar am Boden gesehen zu haben. Dann verlor er Arthur ganz aus den Augen, aber er schob sich blind weiter vorwärts, bis er schließlich auf ihn trat.

Er versuchte, Arthurs Hand zu greifen, verfehlte sie, tauchte verzweifelt noch einmal danach und schaffte es dieses Mal, Arthurs Ledergürtel in die Finger zu bekommen. Er schloss seine Finger darum und zog daran, bis es ihm gelang, seinen anderen Arm unter Arthurs Taille zu bekommen, und dann – er wusste nicht wie, aber irgendwie gelang es – wuchtete er sich Arthur über die Schulter und rannte los.

Seine Lunge schmerzte. Es waren noch nicht einmal zwanzig Sekunden vergangen, seit er begonnen hatte, die Luft anzuhalten, aber die Anstrengung durch Arthur auf seinen Schultern führte dazu, dass jeder Muskel in seinem Körper nach Sauerstoff schrie. Er kämpfte gegen den Instinkt an, nach Luft zu schnappen, und richtete seine Augen stattdessen auf die Tür, die gewiss noch mehr als zwanzig Meter entfernt war. Er tastete sich nahezu blind vorwärts, blinzelte immer wieder Tränen aus seinen brennenden Augen, fühlte eine Reihe von Sitzen an seinen Beinen entlangstreifen, und schließlich war die Tür vor ihm.

Er schmiss sich mit all seinem Gewicht dagegen und taumelte in den Korridor, der überfüllt war mit kranken Kindern, hustenden Kindern, weinenden Kindern. Er hechtete zu dem Fahrstuhl, keuchend und kaum in der Lage zu atmen. Sein Hals fühlte sich eng und geschwollen an, und er war eingekeilt von all den Kindern, die sich mit ihm in den Fahrstuhl schoben. Als die Fahrstuhltüren sich wieder öffneten und den Blick auf den Wahnsinn freigaben, der bis vor kurzem noch die Krankenstation gewesen war, trübte sich Kierans Sicht. Panische Kinder wurden in den Wartebereich verfrachtet, und es gab nirgends einen freien Stuhl oder ein freies Bett. Vorsichtig setzte er Arthur auf dem Boden ab und stand auf, um Tobin zu finden.

Ein lautes Krachen hallte durch den überfüllten Raum, und die Menge verstummte, als die Anwesenden sich umsahen, um nach der Quelle des Geräuschs Ausschau zu halten. Erst jetzt erkannte Kieran, dass es das Geräusch seines eigenen Hinterkopfs gewesen war, der auf dem metallenen Fußboden aufgeschlagen war. Er hatte den Aufprall noch nicht einmal gespürt.

Sternenfeuer: Vertraue Niemanden: Roman
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