Die Sternwarte
Seth vermisste Waverly. Er hatte sich an einem wärmenden Abluftkanal in der Atmosphärensteuerungssektion zusammengerollt und ließ die Hitze über den Schmerz in seinen Rippen streichen. Was er brauchte, waren ein weiches Bett und warme Mahlzeiten, aber er hatte nichts von beidem. Waverly hatte ihm täglich und an den vereinbarten Orten Sandwiches und kalten Salat hinterlegt. Gestern waren es ein Hühnchen-Sandwich und einige Pflaumen gewesen, die sie ihm in der Hülle der Tür auf Ebene fünfzehn im Treppenschacht an der Steuerbordseite hinterlassen hatte. Als er die Mahlzeit schließlich gefunden hatte, war sie beinahe gefroren gewesen, aber er war dennoch sehr dankbar dafür. Er konnte sich von dem ernähren, was in den Biosphärenreservaten wuchs, doch es stillte seinen Hunger niemals sehr lange.
Sein Magen knurrte. Nur noch ein paar Minuten, bis sie ihm Essen in der Sternwarte hinterlassen würde. Die Sternwarte war eine kugelförmige Glaskonstruktion, es war dort stets ziemlich kalt, und niemals kam jemand dorthin – ein guter Ort, um Nahrung zu hinterlegen.
Dennoch konnte er seine Gedanken nicht abstellen. Er konnte nicht aufhören, über den blinden Passagier nachzudenken. Es hatte irgendeinen neuen Angriff gegeben, das wusste er. Er hatte kurze Bruchstücke von Unterhaltungen aufgeschnappt, wann immer Mitglieder der Crew an seinen Verstecken vorbeigegangen waren. Auch wenn er die Details nicht kannte, war ihm klar, dass die Crew noch mehr Angst hatte als zuvor. Er wünschte, er könne sich vergewissern, dass es Waverly gutging, aber der einzige Hinweis auf ihr Wohlbefinden waren die Nahrungsrationen, die sie ihm hinterließ. Vielleicht würde sie ihm gemeinsam mit der nächsten Ration eine Nachricht zukommen lassen.
Er schloss die Augen und versuchte zu schlafen. Bilder von ihr zogen vor seinem inneren Auge vorbei, wie sie ihn angelächelt hatte – niemals ein offenes Lächeln, eher wie das Lächeln von jemandem, der versuchte, nicht zu lächeln. Es war sein Ziel, ihr eines Tages ein echtes Lächeln zu entlocken. Er wollte sehen, wie sie aussah, wenn sie glücklich war.
Vielleicht war sie gerade jetzt in dieser Sekunde mit seinem Essen auf dem Weg zur Sternwarte. Die Sternwarte war stets der Ort gewesen, an dem die Kinder der Empyrean sich für Dates verabredet hatten. Die Aussicht war dieselbe wie aus jedem der Bullaugen, aber es war ein stiller Ort, wo sie in der Dunkelheit ein klein wenig Privatsphäre haben konnten. Ob es etwas bedeutete, dass Waverly ausgerechnet diesen Ort als eines der Nahrungsverstecke gewählt hatte? Nein, sagte er sich selbst. Die Sternwarte war aufgegeben worden, jetzt, da es außer den vor sich hindämmernden Strahlenopfern auf der Krankenstation keine Erwachsenen mehr auf dem Schiff gab und die Kinder an jeden Ort gehen konnten, wenn sie allein sein wollten. Der einzige Grund, aus dem heutzutage irgendjemand die Sternwarte betreten würde, wäre die Wartung der vorderen Sensorfelder, die aber kaum je gewartet werden mussten.
Seth öffnete die Augen. Und mit einem Mal wusste er, wie der blinde Passagier mit der New Horizon kommunizierte.
Die vorderen Sensorfelder wurden zur Langstreckenerfassung genutzt, und sie halfen dem Nav-System, Kurskorrekturen durchzuführen und Kollisionen mit Objekten zu vermeiden, die der Empyrean im All begegneten. Sie sendeten hochsensitive elektromagnetische Farbsynchronsignale aus und hielten fest, wenn diese auf ein Objekt trafen. Sie konnten leicht modifiziert werden, um verschlüsselte Stimmsignale zu senden und zu empfangen. Die Hauptkontrolle für die vorderen Sensorfelder war in der Kommandozentrale, aber aus Wartungszwecken gab es eine manuelle Steuerungsmöglichkeit im Bug des Schiffs.
Und diese befand sich in der Sternwarte.
Je länger Seth darüber nachdachte, desto überzeugter war er. Dies war die einzige Möglichkeit, wie der Terrorist unentdeckt mit dem anderen Schiff kommunizieren konnte. Es gab keinen anderen Weg. Und der Terrorist konnte problemlos den ganzen Tag in der Sternwarte verbringen und auf Nachrichten warten, ohne je entdeckt zu werden.
Und Waverly war genau jetzt dorthin unterwegs.
Plötzlich überkam ihn ein grauenvolles Gefühl der Angst. Er musste zur Sternwarte. Jetzt.
Nachdem er an der Tür des äußeren Treppenhauses nach Wachen gelauscht hatte, joggte er etliche Ebenen nach oben, bis er schließlich den Bug des Schiffs erreichte. Er keuchte, und seine Rippen ächzten schmerzvoll, aber er musste sichergehen, dass Waverly in Ordnung war. Auf dem Korridor war es still, und Seth versuchte sich so vorsichtig wie möglich zu bewegen, während er auf Zehenspitzen zur Tür der Sternwarte schlich.
Er konnte sich des Gefühls nicht erwehren, zu spät gekommen zu sein.
»Werd nicht paranoid«, flüsterte er keuchend.
Vorsichtig streckte er den Kopf in den dunklen Raum. Er hörte nichts, sah nichts außer den Reihen von Theatersitzen, die in einem Kreis angeordnet und auf die kugelförmige Glasdecke ausgerichtet waren, die die Wände des Raums bildete. Wie absurd von den Ingenieuren auf der Erde, anzunehmen, dass dieser Raum je einen sinnvollen Zweck erfüllen würde! Hier auf der Empyrean sah man selten aus den Bullaugen. Man wollte die Monotonie vermeiden, die einen stets daran erinnerte, wie weit man von der Erde und einem Himmel, der sich konstant verändert hatte, entfernt war. Stattdessen richtete die Crew ihre Blicke nach innen, auf die Pflanzen und Tiere – Erinnerungen an einen Planeten, den sie vor Jahrzehnten hinter sich gelassen hatten und niemals wiedersehen würden.
Seth duckte sich hinter eine Sitzreihe und beobachtete die Tür. Der Raum roch moderig, und die Luft war von jener verdichteten toten Qualität, die entstand, wenn sie zu lang unbewegt eingeschlossen gewesen war. Vielleicht versuchte Kieran Energie zu sparen, indem er nur die Ventilatoren in jenen Bereichen des Schiffs laufen ließ, die häufig genutzt wurden. Keine schlechte Idee in Anbetracht der Tatsache, dass die Maschinen erst vor kurzem eine Kernschmelze erlebt hatten. Tatsächlich und sosehr er es auch hasste, es zuzugeben, machte Kieran seinen Job gar nicht mal so schlecht …
Seth erstarrte. Er hörte etwas. Hatte er etwas gehört? Oder hatte er es gespürt? Etwas hinter ihm, sehr nahe. Vielleicht der kaum spürbare Hauch von Luft, die eingeatmet wurde. Vielleicht der vage Geruch eines anderen Körpers.
Er drehte sich leicht um die eigene Achse, als ein eisenharter Arm sich um seinen Nacken legte und ihn umklammerte.
»Ich habe keine Ahnung, wie du mich gefunden hast, du kleiner Drecksack«, schnarrte eine rauhe Stimme.
Seth versuchte, den Arm von seiner Kehle fortzuschieben, aber die Stärke des Mannes war brutal. Er presste Seths Nacken in die Beuge seines Ellbogens und drückte ihm die Luft ab. Er konnte spüren, wie ihm die Blutzufuhr zum Gehirn abgedrückt wurde, und er blinzelte gegen die roten Flecken an, die zunehmend in seinem Blickfeld tanzten.
»Dieses Mal werde ich dich töten müssen«, sagte die Stimme sanft, fast zärtlich. »Es tut mir leid, mein Junge. Es ist nichts Persönliches.«
Ich werde sterben, dachte Seth, und der Gedanke schien ihm aus weiter Ferne zu kommen. Sein Gesicht fühlte sich geschwollen an, und seine Kehle war noch immer abgedrückt. Er versuchte, den Arm des Mannes von seiner Luftröhre zu lösen, während seine Beine unter ihm zusammenzubrechen drohten. Aber sein Bewusstsein schwand bereits, und seine Gliedmaßen erschlafften, als die Blutzufuhr zu seinem Gehirn endgültig endete.
Dann hörte er das Klicken der Türklinke.
Waverly.
Mit dem letzten Rest seiner Kraft drehte er den Körper von der Tür weg, so dass der Mann Waverly nicht sehen würde. Er schlang seine Hände um den fleischigen Arm des Angreifers, um etwas von dem Druck auf seine Kehle zu nehmen, ließ sich dann mit all seinem Gewicht nach unten sinken und brachte den anderen so in eine gebückte Haltung.
Lauf, dachte er, als er spürte, wie Blütenblätter aus Nichts in seinem Kopf zu tanzen begannen. Bitte lauf weg, Waverly.
Er hörte das klickende Geräusch von Metall auf Metall, als die Tür sich schloss, und der Griff um seinen Hals lockerte sich.
»Du kleine Hure«, hörte er den Mann knurren. »Du hast Shelby getötet.«
Seth spürte, wie er fiel, dann lag er am Boden, unfähig, sich zu rühren oder seine Augen zu öffnen. Er hörte Waverlys erstaunten Aufschrei, und dann hörte er sie gurgeln.
Er erwürgt sie.
Der Gedanke erschien ihm wie eine naturwissenschaftliche Tatsache. Nichts reist schneller als das Licht, und Waverly stirbt.
Ich bin auf Händen und Knien, wurde ihm klar. Schwankend, während immer mehr rote Punkte vor seinen Augen den dunklen Raum durchtanzten. Er atmete rasselnd ein, presste die Luft durch seine angeschwollene Kehle und schaffte es irgendwie, auf die Beine zu kommen. Als er schließlich stand, schien der Raum um ihn her zu kippen, aber er schaffte es, sich an einer Stuhllehne festzuhalten und in Richtung der Geräusche zu staksen, die Waverly machte, während sie erwürgt wurde.
Auf dem Boden neben seinem linken Fuß lag ein großer Schraubenschlüssel, jene Art von Utensil, das genutzt wurde, um die Schrauben an Traktorreifen zu lösen. Aus Waverlys Werkzeuggürtel, vermutete er. Und dann sah er ihn auch, den Werkzeuggürtel, geschlungen um ihre schmale, sich windende Taille, und während ihre Beine hilflos über den Boden ruderten, verteilten sich Schrauben und Bolzen durch den ganzen Raum. Der Mann hatte sich mit all seiner Massigkeit über sie gelehnt, drückte ihren Kopf nach unten und ihren Hals mit all seinem Gewicht auf seinen Arm.
In Seths Innerem schoss der Zorn empor wie eine Flamme, und er vergaß, wie schwach seine Glieder waren und dass der Raum sich um ihn herum drehte. Er griff nach dem Schraubenschlüssel, machte zwei Schritte auf den Mann zu und schwang die improvisierte Waffe mit all seiner Kraft.
Die Spitze des Schraubenschlüssels riss einen Hautlappen vom Schädel des anderen, und er fuhr herum, einen Ausdruck des Staunens im Gesicht.
Niemals zuvor hatte Seth Gesichtszüge gesehen, die auf so grausame Art verschoben waren. Die Nase des Mannes warf Falten, und seine Augen glühten rot im gedämpften Licht, seine Zähne knirschten, und Spucke glitzerte in seinen Mundwinkeln.
Seth schwang den Schraubenschlüssel erneut, aber der Mann lehnte sich zurück und Seth verfehlte ihn. Er spürte, wie der Schraubenschlüssel ihm aus den schwachen Fingern gezogen wurde.
Der Saboteur beugte sich wieder vor, zog eine Grimasse und schwang den Schlüssel nun selbst. Wenn dieser Gegenstand seinen Kopf treffen würde, das wusste Seth, wäre er tot. Er wich einen Schritt zurück, dann noch einen, bis er Waverlys warme Beine unter seinen Füßen spürte. Dann sank er über ihr zusammen und bedeckte ihr Gesicht mit seinen Händen. Sie ist tot, dachte er für einen grauenvollen Moment.
Nichts in seinem Leben war jemals wundervoller gewesen als jener Augenblick, als ihr Atem schließlich doch noch seine Finger streifte.
Er wartete auf den Schlag, aber er kam nicht. Stattdessen hörte er einen Ausruf des Erstaunens, und als er sich umschaute, sah er einen gebeugten Koloss, der mit sich selbst zu ringen schien. Der Mann schrie und ließ den Schraubenschlüssel fallen, hob eine blutige Hand und presste sie gegen seinen Körper. Der Mann drehte sich leicht, so dass Seth nun seinen Rücken sehen konnte, und da wusste er, auf was er blickte: Ein schmaler Junge klammerte sich an den Saboteur, hatte ihm die Beine um die Taille geschlungen und die dürren Ärmchen um den muskulösen Nacken. Der Junge klammerte sich fest, als gälte es sein Leben, als der Mann ihm nun mit seiner unverletzten Hand in den Nacken griff. Der Junge schrie Zeter und Mordio, und seine Worte waren derart von Zorn verzerrt, dass sie kaum als Sprache erkennbar waren: »Du hast meine Mutter getötet! Ihr habt meine Mutter umgebracht!«
»Seth«, hörte er ein Flüstern. Als er hinabsah, begegnete er Waverlys Blick. Sie keuchte. »Hilf ihm«, presste sie hervor, ehe sie ein weiteres Mal um Atem rang.
Seth griff erneut nach dem Schraubenschlüssel und kämpfte sich auf seine zitternden Beine, genau in dem Augenblick, als der Mann den kleinen Jungen mit aller Kraft gegen das kalte Glas der Kuppel schleuderte. Der Kopf klatschte gegen das Glas, das Kind stöhnte tief und fiel dann schlaff auf den metallenen Boden. Der Mann sah erstaunt zu ihm herab und hatte sich gerade erst herumgedreht, als Seth ihm den Schraubenschlüssel mit aller Kraft entgegenschwang, die er noch aufbringen konnte. Der Schlüssel traf die Schläfe des Mannes, und er starrte Seth mit benommenen, wässrigen Augen an.
Der Schlüssel vibrierte in Seths Händen wie der Klöppel einer Glocke.
Der Mann brach in die Knie, die Augen noch immer geöffnet, aber ausdruckslos, eine Spur von Sabber lief über sein Kinn. Dann fiel er mit dem Gesicht voran zu Boden, wo er zuckend liegen blieb.
Seth erkannte erst jetzt, dass er erneut in die Knie gegangen war, auch wenn er nicht wusste, wann er den Schraubenschlüssel fallen gelassen hatte und zum Kom-System am Ende des Raums gekrochen war. Der Knopf war gut einen Meter über dem Boden angebracht – so weit entfernt, dass er nicht wusste, wie er ihn erreichen sollte. Obwohl er ihm unendlich schwer erschien, hob er seinen rechten Arm und fand schließlich mit seiner flachen, tastenden Hand den Notfallknopf. Der Bildschirm flackerte und erwachte zum Leben, und Seth sah Sarek Hassans schockiertes Gesicht, das ihn anstarrte.
»Hilfe«, krächzte Seth durch seine geschwollene Kehle.
Er hörte, wie Sarek irgendjemandem Befehle zurief. Hilfe war unterwegs.
Er wollte zu Waverly zurückkriechen, aber da gab es zu viele rote Flecken, und sie war so weit entfernt. Und so ließ er sich auf die Seite rollen, schloss die Augen und wartete darauf, dass sie kamen.