Freilassung
Wir sind verletzt, wir dürften gar nicht hier unten sein«, keuchte Waverly, doch Harvey zog sie stumm weiter den Gang entlang. Sie knurrte. Selbst in ihren Ohren klangen die Worte wie eine Ausrede. Und doch wusste sie, dass es die Wahrheit war. Die Steroide, die Tobin in sie hineingepumpt hatte, hatten sie wieder auf die Beine gebracht, aber was war, wenn die Wirkung nachließ? Wenn ihre Kehle erneut anschwoll, würde sie ohne medizinische Hilfe ersticken. Was sie brauchte, war ein Bett und einen Arzt an ihrer Seite. Auch Seth, der eingekeilt zwischen seinen beiden Wächtern vor ihr ging, schwankte bedenklich, und sie fürchtete, dass er stolpern und fallen könnte, noch ehe sie die Brig erreichten. »Harvey, das ist mein voller Ernst. Wir wären fast gestorben, verdammt!«
»Ich weiß«, flüsterte Harvey durch den Mundwinkel. »Ich werde eine Zentralratsversammlung einberufen. Haltet durch.«
Er zog sie in den Gang, der an den Zellen des Arrestbereichs entlangführte. Waverly sah in die erste Zelle zu ihrer Linken und erkannte den Mann, der sie fast getötet hatte und der nun laut schnarchend auf seiner Pritsche lag.
»Ich will nicht in seiner Nähe sein«, keuchte sie schaudernd.
»Er wird nicht erfahren, dass du hier bist«, gab Harvey zurück.
Sie stolperte und wäre fast auf die Knie gefallen, hätte Harvey sie nicht mit überraschender Stärke aufgefangen und den Rest des Weges getragen. Er setzte sie in der Zelle am Ende des Gangs ab, gegenüber der Zelle, in die sie Seth gesperrt hatten.
Sie und Seth würden einander sehen und sich unterhalten können. Kieran würde das nicht gefallen, und das wussten wahrscheinlich auch Harvey und die anderen Wachen. War das ihre Art, Kierans Ungerechtigkeit zu begegnen?
Waverly hielt still, als Harvey einen Schlauch unter ihrer Nase befestigte und die Sauerstoffflasche aufdrehte. Im selben Moment fühlte sie sich eigenartig erfrischt.
»Alles in Ordnung bei dir?«, fragte eine Stimme, und als sie sich umdrehte, sah sie Seth, der ebenfalls an seine Sauerstoffflasche angeschlossen war und sie beobachtete. Das Weiße seiner Augen war rot von geplatzten Äderchen, und seine Haut wirkte fahl. War sie selbst auch so blass? Waren ihre Blutergüsse ebenso fürchterlich anzusehen wie seine?
»Alles in Ordnung, glaube ich«, krächzte sie, noch immer außer Atem von dem Weg aus der Krankenstation hinunter zur Brig. »Und bei dir?«
»Ich bin gerade fast von einem Gorilla erwürgt worden, aber sonst ist alles bestens. Ich fühle mich super.«
Waverly ertrug es nicht länger, Seths geschundenen Körper zu sehen, und starrte stattdessen an die Decke. Sie hatte Angst, die Augen zu schließen, hatte Angst zu sterben, wenn ihre Kehle im Schlaf erneut anschwoll und ihr die Luft zum Atmen nahm.
Es ist nur der Nachhall der Angst, versuchte sie sich selbst zu beruhigen. Es wird schon nichts passieren. Schlaf wird mir guttun.
Doch als sie die Augen schließlich schloss, sah sie immer wieder dieses animalische, wutverzerrte Gesicht vor sich. Spürte die Hände, die mit eisernem Griff ihre Kehle zudrückten. Jedes Detail seines Gesichts hatte sich ihr tief ins Gedächtnis eingebrannt: die Geheimratsecken, seine großen, fettigen Poren, sein fauliger Atem, der Schweiß, der in Strömen bis zu seiner Nasenspitze hinunterrann, wo er sich zu Tropfen formte und dann auf ihr Gesicht fiel, auf ihren Hals, ihr Haar. Ihre Rückenwirbel rieben unter dem Druck seiner Finger aneinander, und sie hatte das Knacken ihres Kehlkopfs hören können. Dort oben in der Sternwarte hatte sie vergessen, dass Seth in ihrer Nähe gewesen war, hatte vergessen, wo sie sich befand. Alles, was sie gewusst hatte, war, dass sie sterben würde, dass sie allein war mit ihrem Mörder. Sie hatte um sich getreten und versucht, sich aus seinem Griff zu winden, aber er war riesig und unfassbar stark gewesen.
Es war nicht das erste Mal, dass sie sich gefürchtet hatte, aber dieses Grauen im Angesicht des nahenden Todes war ihr neu gewesen. Es hatte sie ausgehöhlt, ihre Würde genommen und sie hilflos zurückgelassen: nichts weiter als luftleere Lungen und ein blutleeres Gehirn. Eine graue Wolke hatte sich in ihr Sichtfeld geschoben, und eine Stimme in ihrem Inneren hatte geschrien: Ich sterbe! Ich werde hier und jetzt sterben!
Als sie auf der Krankenstation aufgewacht war, hatte sie ihren Körper nicht mehr spüren können. Menschen hatten sich über sie gebeugt, hatten sie angesprochen, sie angeschrien, aber sie hatte ihnen nicht antworten können, war sich nicht einmal sicher gewesen, ob diese Menschen real waren, sich wirklich auf einer Existenzebene mit ihr befanden. Diese schreienden Menschen dort, das waren die Lebenden. Doch sie selbst war tot.
Schließlich musste sie es doch geschafft haben, ihren Kopf zu drehen, denn sie hatte Seth erblickt, der in einem Bett neben ihrem gelegen und sie angesehen hatte.
Ich bin zurückgekommen, hatte sie da gedacht. Ich bin wieder am Leben.
Und nach alldem hatte Kieran nichts Besseres zu tun gehabt, als sie so schnell wie möglich an diesen kalten, unwirtlichen und einsamen Ort zu verbannen.
Er muss mich abgrundtief hassen.
Waverly schüttelte den Kopf, zuckte beim Schmerz in ihrer Schädelbasis jedoch sofort zusammen. Sie spürte die Tränen, die ihr an den Seiten des Gesichts herunterliefen, entlang der Vertiefungen ihrer Schläfen und schließlich in ihr Haar. Sie hatte bereits gewusst, dass Kieran sie nicht mehr liebte. Es war seit einer Weile offensichtlich gewesen, und sie hatte es akzeptiert. Aber nun war er zu ihrem Feind geworden.
Ich wusste, dass das eines Tages geschehen würde, schalt sie sich selbst. Sie mochte den Schmerz nicht, den diese Erkenntnis bei ihr auslöste, und wünschte sich die Zeit herbei, in der sie den Verlust ihres alten Lebens nicht mehr betrauern und sich keine Sorgen mehr um die Zukunft würde machen müssen. Irgendwann, so dachte sie, würde sie abgehärtet sein und den Schmerz nicht mehr spüren. Sie fühlte, dass Teile von ihr zu zerbrechen drohten wie die Fasern eines Palmwedels, die Stück für Stück rissen. Was würde passieren, wenn sie diesem Drang gänzlich nachgab?
»Dann werde ich verrückt«, flüsterte sie und öffnete die Augen.
Sie hatte ihr Zeitgefühl verloren. Hatte sie geschlafen? Jemand hatte das Licht ausgeschaltet. Jetzt lag ihre Zelle im dämmrigen Halbdunkel und wurde nur von einer kleinen Glühbirne erleuchtet, die über ihrem Metallwaschbecken hing. Das einzige Geräusch war das Zischen ihrer Sauerstoffflasche.
»Nein, wirst du nicht«, erklang eine Stimme, und sie wandte sich Seth zu.
Er lag auf seiner Pritsche und sah sie durch das matte Licht hindurch an. Sein Atem ging stockend und schien seinen Bauch auszuhöhlen. Er lächelte schwach.
»Wir haben zu viel durchgemacht«, fuhr sie trotz der Schmerzen in ihrer Kehle fort, »und irgendwann werden wir daran zerbrechen.«
»Und dann?«
Sie schüttelte den Kopf, fuhr aber sogleich wieder zusammen, als der Schmerz in ihrer Kehle auf ihre Muskeln und Knochen überging. Instinktiv fuhr ihre Hand zu ihrem Hals. Wäre jemand in der Nähe gewesen, eine Wache oder ein Sanitäter etwa, hätte sie um ein Schmerzmittel gebeten, doch es war niemand da. »Dann«, flüsterte sie, »wird es vielleicht ein Segen sein, verrückt zu werden.«
»Vielleicht«, entgegnete er achselzuckend, »aber das wirst du nicht.«
»Woher willst du das wissen?«
»Weil du inzwischen schon längst verrückt geworden wärst.«
Sie schloss die Augen. Vielleicht hatte er recht. Aber manchmal wünschte sie sich, dass sie einfach aufgeben und all die Dinge vergessen könnte, für die sie sich zu kämpfen berufen fühlte. Sollte sich doch jemand anders darum kümmern.
»Waverly«, flüsterte Seth.
Sie drehte sich um, um ihn anzusehen.
»Im Wacholderhain in der Nadelbaum-Sektion ist ein Sack vergraben. Die Stelle ist mit einem Stechpalmenzweig mit vielen roten Beeren markiert. Man erkennt ihn schnell, wenn man danach sucht.«
Sie runzelte die Stirn. »Wovon redest du da?«
»Wenn etwas Schlimmes passiert, wirst du brauchen, was in dem Sack ist.«
»Was ist denn in dem Sack?«
Er schüttelte den Kopf. Weil er es nicht sagen wollte, wusste sie, worum es ging.
»Dazu wird es nicht kommen«, sagte sie leise.
Er zog eine Augenbraue hoch, und sie kam sich sofort töricht vor, etwas so Naives, Kindisches gesagt zu haben.
In diesem Augenblick flammte das Licht im Gang auf, und Waverly hörte, dass sich Schritte näherten. Sie war überrascht, als plötzlich Tobin Ames vor ihrer Zelle stand. Er schwankte leicht und wirkte erschöpft. Dann hielt er fragend eine Spritze hoch. »Hätte die Lady gern noch etwas Entzündungshemmer?«
»Ja«, antwortete sie.
Er zog einen Schlüssel von einem Haken an seinem Gürtel und schloss ihre Zelle auf. Als er die Schwelle überschritt, ging auch hier das Licht flackernd an, und Waverly musste wegen der plötzlichen Helligkeit blinzeln. Tobin rieb ihre Schulter mit Alkohol ein und stach die Nadel tief in den Muskel.
»Das kannst du gut«, flüsterte sie.
Er reagierte nicht auf das Kompliment und gab ihr stattdessen einige Pillen und einen Becher Wasser zum Hinunterspülen. »Gegen die Schmerzen«, erklärte er.
Sie versuchte, in seinem Gesicht zu lesen. »Wie ist es mit dem kleinen Philip gelaufen?«
»Du kannst dir nicht vorstellen, wie viel Blut da war«, sagte Tobin tonlos. »Aber jetzt ist in seinem Kopf wieder ausreichend Platz für sein Gehirn.«
»Wird er wieder gesund?«, fragte Seth von der anderen Seite des Gangs.
Tobin schüttelte den Kopf. »Victoria Hand meint, dass er vielleicht überleben, aber sicher nie wieder der Alte sein wird.«
Waverlys Kehle entrang sich ein Schluchzen, und einmal mehr an diesem Tag rannen ihr Tränen übers Gesicht.
»Hey.« Sie spürte einen Daumen an ihrem Kinn und sah Tobin an. »Weine später, ja? Traurig zu sein ist im Moment nicht gut für dich.«
Sie nickte und atmete tief durch ihre geschundene Kehle ein.
Tobin verließ ihre Zelle, verschloss die Tür hinter sich und ging hinüber zu Seth.
»Wirst du dich von mir behandeln lassen, ohne Probleme zu machen?«
»Hast du etwa Angst vor mir?«
»Du könntest mich zwischen deinen Händen zerbröseln wie trockenes Laub«, sagte Tobin frei heraus.
»Momentan sicher nicht«, entgegnete Seth und streckte ihm einen seiner schlaffen Arme entgegen.
»Am Ende des Gangs stehen vier Wachen, an denen würdest du nicht vorbeikommen, nur damit du’s weißt«, sagte Tobin, steckte dann seinen Schlüssel in das Schloss und betrat Seths Zelle. Er gab ihm seine Pillen, die er trocken hinunterschluckte. Als Tobin ihm die Spritze setzte, zuckte Seth zusammen.
»Weichei«, sagte Waverly.
»Es kann nicht jeder über die übermenschlichen Kräfte eines Fünfzig-Kilo-Mädchens verfügen«, erwiderte Seth.
»Ihr zwei seid echt schräg.« Tobin gähnte wie ein zähnefletschendes Monster.
»Du solltest schlafen gehen«, riet Waverly ihm.
Tobin nickte und schlurfte aus Seths Zelle. Er ging ein paar Schritte den Gang entlang, blieb dann aber stehen und drehte sich um. »Und nur fürs Protokoll: Dass Kieran euch hier einsperren ließ, nachdem ihr den Terroristen geschnappt habt, ist in meinen Augen komplett daneben«, sagte er und legte dabei seinen klobigen Kopf etwas schräg. »Obwohl du, Seth, ein ziemliches Arschloch warst, als du das Sagen hattest.«
»Vielen Dank für deine Unterstützung«, erwiderte Seth höflich.
»Aber wenn du’s nun mal warst«, beharrte Tobin und reckte sein Kinn vor.
»Ja, ich weiß«, antwortete Seth gereizt.
»Wenn du es mir gegenüber zugeben kannst, dann kannst du es allen gegenüber zugeben. Stell dich öffentlich hinter Kieran, dann hat das alles hier ein Ende.«
»Und du meinst, das würde reichen?«, fragte Seth skeptisch.
»Es wäre zumindest einen Versuch wert«, entgegnete Tobin schulterzuckend. Dann machte er sich gähnend auf den Rückweg. Er verschwand schneller in den Schatten des Gangs, als es Waverly lieb war. In ihrer Zelle gab es sonst nur kaltes Metall und harte Kanten, nichts Weiches oder Warmes.
»Vielleicht hat er ja recht«, sagte Waverly. »Vielleicht will Kieran sich nur sicher sein, dass du nicht wieder eine Meuterei anzettelst.«
»Ach ja? Und wie willst du dich rehabilitieren?«
»Vielleicht sollte ich mich auch einfach entschuldigen«, erwiderte sie versonnen.
»Dann glaubst du, dass es falsch war, mir zu helfen?«
Sie drehte sich zu ihm um und sah einen verletzten Ausdruck in seinen geröteten Augen. Sie dachte, dass auch sie gemerkt hatte, dass er ein anderer geworden war. Seine Augen wurden weicher, seine Wangen sanken ein, und er biss sich auf die Unterlippe. Wäre es nicht Seth Ardvale gewesen, den sie da anschaute, hätte sie schwören können, dass es das Gesicht von jemandem war, der kurz davorstand, in Tränen auszubrechen.
Sie sahen sich über den Gang hinweg an, bis das Licht flackernd wieder erlosch. Da sie nun ihre Injektion bekommen hatte und sie nicht länger fürchtete, im Schlaf zu ersticken, ließ sie die Müdigkeit zu, die durch ihre Glieder strömte. Ihre Augenlider wurden schwerer, und sie gab sich dem Schlaf hin.
Als sie erwachte, sah sie in das olivfarbene Gesicht von Alia Khadivi, die sie durch die Stäbe der Zelle hindurch mit warmherzigem Blick betrachtete. »Geht es dir gut?«
»Mir tut alles weh«, krächzte Waverly. Ihre Kehle war trocken vom Schlaf und fühlte sich wund und blutig an. »Ich brauche Wasser.«
»Wache!«, rief Alia durch den Gang, woraufhin Hiro mit reglosem Gesichtsausdruck erschien. Als Alia auf das Schloss der Zelle deutete, steckte er gefügig den Schlüssel hinein und öffnete die Tür.
Alia ging zum Waschbecken, das an der Wand befestigt war, füllte einen Plastikbecher mit Wasser, ging vor Waverly in die Knie, hob ganz sanft ihren Kopf an und hielt den Becherrand an ihre Lippen. Das Wasser war kalt, schmeckte süß und sauber, und Waverly schluckte es gierig hinunter.
»Mehr«, krächzte sie.
Alia brachte Waverly geduldig mehrere Becher Wasser, bis ihr Durst gestillt war. Dann setzte sie sich auf den Rand der Pritsche und nahm Waverlys Hand. Ihre trockene Handfläche fühlte sich vertraut an und spendete Trost.
»Ich habe die Anordnung vom Friedensrichter, dich freizulassen. Doktor Tobin wartet draußen mit einem Rollstuhl, um dich zurück auf die Krankenstation zu bringen.«
Waverly lächelte ihre Freundin an. »Wie hast du das gemacht?«
»Ganz einfach.« Ihre rubinroten Lippen zogen sich an den Mundwinkeln leicht nach oben. »Seth ist nie für ein Verbrechen verurteilt worden, und als du ihm geholfen hast, konnte er daher technisch gesehen nicht als Flüchtiger angesehen werden.«
»Dann darf Seth auch raus?«
Sie hörte ihn in seiner Zelle kichern, konnte ihn aber nicht sehen, da Alia im Weg stand.
»Nein, denn Kieran hat eine formelle Anklage gegen ihn eingereicht.«
»Und die lautet wie?«, fragte Seth mit rauher Stimme. Er hatte sich auf einen Ellbogen gestützt, aber sein Kopf zitterte, und Waverly war bewusst, wie viel Kraft es ihn kostete.
Alia zögerte, drehte sich dann aber doch zu ihm um, so dass Waverly einen Blick auf ihn erhaschen konnte. Er wirkte noch immer fahl, und das Weiße seiner Augen war zu einer Art rosafarbenem Pudding erstarrt. Er leckte sich über die trockenen Lippen, und es war nicht zu übersehen, dass es ihm schlechter ging als in der vergangenen Nacht.
»Kieran wirft dir versuchten Mord vor«, erklärte Alia ihm.
»Klingt vernünftig«, erwiderte er und glitt zurück auf seine Pritsche.
»Seth muss medizinisch versorgt werden«, sagte Waverly.
»Das sehe ich. Ich werde den Richter bitten, Seth in die Obhut der Krankenstation zu übergeben.« Sie wandte sich wieder ihm zu. »Wie lange hältst du noch durch?«
»Ich brauche Wasser«, sagte Seth. Er versuchte, von seiner Pritsche aufzustehen, war aber zu schwach und fiel wieder zurück.
»Hiro! Ich muss kurz zu Seth Ardvale rein«, sagte Alia. Wieder tauchte Hiro auf, ließ sie aus Waverlys Zelle, führte sie zu Seths Zelle und öffnete die Tür. Er stand über Seth, eine Hand an seinem Schlagstock, die andere auf einer Dose Tränengas, die an seinem Gürtel befestigt war. Diese Vorsichtsmaßnahmen waren allerdings gar nicht nötig, denn als Alia einen Becher Wasser an Seths Lippen hielt, hatte er kaum genug Kraft, seinen Kopf zum Trinken vom Kissen zu heben.
Plötzlich hallte eine wütende Stimme durch den Gang: »Es ist nutzlos, mich festzuhalten!«
»Er ist wach«, sagte Waverly ängstlich.
»Er ist ein sehr furchteinflößender Mann.« Alia schauderte. »Die Art, wie er mich ansah, als ich an ihm vorbeiging … Ich glaube, er hat mich von der New Horizon wiedererkannt.«
»Erinnerst du dich an ihn?«
»Nein.« Alia schüttelte den Kopf.
»Wann können wir ihn befragen?«
Alias Miene trübte sich. »Kieran will exklusives Besuchsrecht haben.«
»Er beruft sich auf sein Vorrecht als Captain, um den Terroristen zu verhören?«
»Und er schließt den Rat aus.«
»Nein«, sagte Waverly. Erfrischt durch das Wasser, das das Blut in ihren Adern gelöst zu haben schien, konnte sie sich aufsetzen, wenngleich ihr noch etwas schwindelig war. »Der Zentralrat sollte dabei sein.«
»Wir müssten an seinen Wachen vorbei«, sagte Alia mit Blick zu Hiro, der nun demonstrativ die Wand anstarrte, um ihnen zu signalisieren, dass er sich taub stellte.
»Wir organisieren uns eigene Wachen«, meinte Waverly.
»Willst du einen Krieg mit Kieran Alden anzetteln?«, fragte Alia und zog eine tiefschwarze Augenbraue hoch.
»Er ist derjenige, der den Krieg angezettelt hat.«
Waverly hörte Schritte im Gang, und Tobin Ames erschien mit einem Rollstuhl. »Bereit für deine Fahrt?«
Tobin registrierte Seths ungesunde Gesichtsfarbe und seinen schweren Atem und schüttelte den Kopf. »Er sollte unter Beobachtung sein.«
»Wie geht’s Philip?«, flüsterte Seth kehlig.
»Er lebt«, antwortete Tobin grimmig. »Wenn ich wüsste, wie man ein Elektroenzephalogramm bedient, könnte ich dir auch sagen, wie es seinem Gehirn geht. Aber das kann ich nicht, und daher warten wir ab.« Sein Blick wanderte zu Hiro, der noch immer die Wand anstarrte. »Lass mich rein, damit ich mich um meinen Patienten kümmern kann.«
Doktor Tobin, wie wahr, dachte Waverly. Er hatte seine Rolle zwar nicht mit Leichtigkeit übernommen, aber doch mit der grimmigen Entschlossenheit, schnell zu lernen und gut zu arbeiten.
Tobin leuchtete Seth in die Augen und in den Hals und nahm dann eine Spritze aus seiner Tasche. »Ich hatte mir schon gedacht, dass du vielleicht etwas mehr hiervon haben willst.«
Seth ließ die Spritze völlig apathisch über sich ergehen. Er lag auf der Pritsche, und das Einzige, was sich an seinem Körper bewegte, war sein sich hebender und senkender Brustkorb.
»Seth, ich komme noch mal wieder und werde dich dann an einen Tropf hängen«, sagte Tobin. »Du brauchst Flüssigkeit und Glukose, um wieder zu Kräften zu kommen, okay?«
»Du bist der Arzt.«
»Ich wünschte, ich wäre es.« Tobin sah zu Hiro, der Seths Zellentür für ihn öffnete, wieder verschloss und ihn dann endlich in Waverlys Zelle ließ. Tobin half ihr, sich aufzusetzen, und hob sie dann mit den Händen unter ihren Achseln in den Rollstuhl.
»Ich werde dich hier rausbringen«, sagte Waverly zu Seth, während Tobin sie fortschob.
»Okay«, antwortete Seth, doch der hoffnungslose Ausdruck in seinen Augen strafte seine Zuversicht Lügen.
Waverly lehnte sich nach links und klammerte sich an die Armlehne des Rollstuhls, während Tobin sie langsam weiter auf die Zelle ihres Beinahe-Mörders zuschob. Ihr Atem ging stockend, und sie konnte spüren, wie kleine Schweißperlen durch die dünnen Härchen ihres Haaransatzes rannen. Sie konnte ihre eigene Angst riechen, die sich wie eine Wolke um sie legte.
Sitz gerade, lass ihn dich nicht so sehen. Waverly richtete sich auf, schob die Hände unter ihre Oberschenkel, und als sie an der Zelle des Terroristen vorbeikam, zwang sie sich hineinzusehen.
Er saß steif da, seine Handgelenke waren gefesselt, und die Fäuste lagen wie Steine auf seinen Knien. Er hatte einen Buckel, sein Kopf saß tief zwischen den massigen Schultern, und er starrte aus tiefliegenden Augen unter schweren Brauen auf den Gang hinaus. Wenn er ausatmete, wölbten sich seine Lippen nach außen und wurden dann wieder nach innen gesogen, wie bei einem bizarren Bellen, und seine Wangen zitterten zornerfüllt, als er sie erkannte. Seine schwarzen Augen folgten ihrem Weg an seiner Zelle vorbei voll von tiefsitzendem, stetigem Hass. Er sah aus wie ein Mann, der die Zivilisation nie kennengelernt hatte.
»Stopp«, sagte sie zu Tobin. Ihre Angst war blanker Wut gewichen. »Dreh mich zu ihm.«
Tobin tat wortlos wie ihm geheißen.
»Ich werde dir eine Höllenangst einjagen«, zischte sie. Ihre Stimme war zwar noch immer rauh, aber ihr Tonfall war hasserfüllt und eiskalt. Die Augen in dem fleischigen Gesicht schienen an ihr vorbeizuschauen und die Luft hinter ihrem Kopf zu fixieren. »Ich werde dir so weh tun, dass du mir alles sagen wirst, nur damit es aufhört. Und ich werde jeden Augenblick genießen.«
Für eine halbe Sekunde oder weniger trafen sich ihre Augen, dann ging sein Blick wieder ins Leere. Aber sie wusste, dass er sie gehört hatte. Sie hatte ihm etwas zum Nachdenken gegeben, und wenn sie zurückkam, würde er ihr nie wieder so kühl die Stirn bieten.