Blind
Kieran versuchte seine Augen von dem Licht, das durch Mathers Sichtfenster brandete, zu schützen, aber es machte nahezu keinen Unterschied. Als er sich im Raum umsah, schien dieser mit beweglichen Schatten angefüllt zu sein – wie in Platos Höhlengleichnis, das er einmal im Philosophieunterricht gelesen hatte. Seine Augen stachen und liefen. Ich bin blind, dachte er seltsam distanziert. Etwas, das ungefähr die Gestalt seiner Mutter hatte, näherte sich dem Fenster.
»Mom, schau weg!«, kreischte er, als ein weiteres Blitzen und dann ein drittes erschien und den Raum mit heißem weißem Licht versengte. Er bedeckte sein Gesicht mit den Händen.
Mather rief zu ihren Wachen hinaus: »Donald! Merin! Was passiert da?«
»Ich weiß es nicht, Pastorin«, tönte die Stimme einer Frau aus dem Korridor.
Kieran hörte zuerst, dass Mather in ihrem Schreibtisch nach etwas wühlte, und dann das Summen eines Interkoms. »Kommando, Bericht!«, rief Mather.
»Es ist die Empyrean.« Die Stimme des Mannes am anderen Ende wirkte verzweifelt. »Es hat Explosionen gegeben!«
»O mein Gott! Das werden sie uns nie vergeben!« Mathers Contenance war vollständig verschwunden und wich hektischem Kreischen. »Ist es ihr Antrieb? Bringt uns sofort auf Abstand!«
»Es ist nicht der Antrieb! Ich glaube, dass sich die Explosionen entlang der Steuerbordhülle um den Shuttle-Hangar und die Laborbereiche ereignet haben!«
»Ruft sie!«, schrie Mather.
Kieran blinzelte. Er konnte nur ihre Silhouette ausmachen, aber er stürzte sich auf sie. Durch reines Glück fanden seine Hände ihren Hals. Er spürte das zähe Fleisch unter seinen Fingern und drückte zu. Ihre Fingernägel krallten sich in seine Hände, und er konnte fühlen, wie ihm das Blut an den Handgelenken herunterlief, aber er hielt sich fest, bis ihn ein eiserner Griff von ihr fortriss und ihn auf den Boden warf.
»Nein!«, schrie Mather. Kieran blickte auf und sah, wie zwei Schattenfiguren um etwas rangen, das wie eine Pistole aussah. »Erschieß ihn nicht, Donald. Er hat einen Panikanfall!«
»Er wollte Sie erwürgen!«
»Verschnür ihn und leg ihn auf meinen Diwan.«
Kieran spürte, wie ihm die Hände hinter dem Rücken zusammengebunden wurden. Dann hoben ihn vier starke Arme hoch und setzten ihn auf einem festen kleinen Möbelstück ab. Er fühlte sanfte Finger auf seinem Gesicht – seine Mutter.
»Warum hast du Pastorin Mather derart angegriffen?«, fragte sie ihn.
Blinzelnd gelang es ihm, kurz die Augen zu öffnen und die Umrisse seiner Mutter auszumachen, die sich über ihn beugte. »Mom? Kannst du etwas erkennen?«
»Nicht sehr gut.«
»Was hast du durch das Fenster gesehen?«
»Ich habe gesehen, dass die New Horizon explodiert ist.«
»Die New Horizon? Mom, dies hier ist die New Horizon.«
»Nein, mein Engel, wir sind hier auf der Empyrean«, sagte sie mit einschmeichelnder Stimme.
»Nein, Mom. Wir sind hier auf der New Horizon. Die Empyrean ist –«
Seine Stimme brach ihm weg. Die Realität hatte ihn endlich eingeholt, und es fühlte sich an, als würden die Sitzkissen unter ihm plötzlich einige Meter absacken. Eine Minute lang konnte er nichts tun, außer sich auf seinen Atem zu konzentrieren. Ein schlammiger Überzug aus öligem Schweiß bedeckte seine Haut, und eine seltsame Hitze breitete sich auf seinem Gesicht aus und verbrannte seine Ohren. Kurz hatte er das Gefühl, die Besinnung zu verlieren. Also biss er sich so lange auf die Lippe, bis er sich wieder gefangen hatte und den eisenähnlichen Geschmack von Blut auf der Zunge schmeckte. Sobald er glaubte, wieder sprechen zu können, öffnete er den Mund. Was auch immer er hatte sagen wollen, entschwand. Er hörte sich selbst schreien, fassungslos, unmenschlich, voller Schmerz: »Du Schlampe! Du irre Schlampe! Du hast sie alle umgebracht!«
Jemand schlug ihm ins Gesicht, und er konnte die schattenhafte Gestalt eines Wächters ausmachen, der über ihm stand.
Seine Mutter sagte nichts. Sie tat auch nichts.
»Lass ihn in Ruhe, Donald!«, sagte Mather. »Der Junge ist traumatisiert.«
Er spürte eine Hand auf seinem Knie und hörte Pastorin Mathers Stimme direkt vor sich: »Kieran, ich schwöre dir, dass ich keine Ahnung hatte, was Jacob plante.«
Sein Körper wurde von einer formlosen Wut übernommen. Ohne auch nur zu zögern, warf er sich dem Klang von Mathers Stimme entgegen und rammte seine Stirn in sie hinein. Der Aufprall betäubte seinen Kopf und verrenkte die Knochen in seinem Nacken. Der Raum füllte sich mit den panischen Stimmen der Wachen: »Pastorin! Pastorin Mather!«
»Kieran«, hörte er die entsetzte Stimme seiner Mutter, »mein Gott, was hast du nur getan?«
Er hörte Mather auf dem Boden stöhnen und versuchte, nach ihr zu treten. Der Umriss eines Wächters tauchte über ihm auf, und eine kräftige Faust sauste auf seinen Kopf herab. Funkelndes Licht explodierte hinter seinen Augen, und der Raum wurde stockdunkel.
»Halt dich zurück, Donald«, befahl Pastorin Mather mit atemloser Stimme. »Es geht mir gut.«
»Es geht Ihnen nicht gut!«
»Er hat mir nur einen kleinen Schlag in die Magengrube versetzt.«
»Er ist gefährlich.«
»Verlasse bitte den Raum, Donald.«
»Aber warum verhätscheln Sie ihn?«, fragte der Mann und klang ernsthaft perplex.
»Er ist die letzte Hoffnung, die wir noch haben, du Idiot«, schnarrte sie.
»Pastorin Mather!« Eine Stimme drang aus dem Interkom. »Ich habe hier die Kommandozentrale der Empyrean für Sie.«
Er hörte Mathers atemlose Stimme. »Was ist da drüben los? Geht es euch gut?«
»Ich möchte mit Kieran sprechen! Wo ist Kieran!« Sarek klang hysterisch.
Kieran setzte sich auf. »Lassen Sie mich mit ihm sprechen.«
Er hörte Mathers Schritte und spürte ihre Anwesenheit, als sie sich zu ihm herunterbeugte und vor ihm niederkniete.
»Ich werde dir jetzt ein Headset aufsetzen, okay?«
»Okay«, zischte er mit zusammengebissenen Zähnen.
»Wirst du mich wieder angreifen?«
»Nein«, sagte er, obwohl er nicht sicher war, sich auch wirklich unter Kontrolle halten zu können.
Er ertrug das Gefühl ihrer Fingerspitzen, die sanft über sein Ohr strichen. Sie passte den Ohrstecker sanft und sorgfältig ein. Es war abstoßend, von ihr berührt zu werden; er hätte es vorgezogen, von ihr geschlagen zu werden. Sobald sie fertig war, versuchte er sie anzuspucken, aber er merkte, dass er lediglich sein eigenes Knie bespuckt hatte.
»Kieran?« Sareks Stimme klang verzweifelt.
»Was passiert?«
»Druckabfall auf der ganzen Steuerbordseite!«
Kieran nickte, während er versuchte nachzudenken, aber sein Geist war wie betäubt.
»Kieran? Was soll ich tun?«, kreischte Sarek.
»Ich weiß es nicht«, sagte er, obschon er wusste, dass er seinem Freund dabei das Gefühl gab, ihn im Stich zu lassen.
»Du musst versuchen, sie von dem Schiff herunterzubekommen.« Von der Richtung, aus der ihre Stimme kam, schloss er darauf, dass Mather unmittelbar vor ihm saß. »Das ganze Schiff könnte den Druck verlieren.«
Kieran zitterte wie ein Blatt im Wind. »Hast du bereits alle Schotten geschlossen, die du schließen kannst?«, fragte er Sarek.
»Ich habe die geschlossen, bei denen ich mir ziemlich sicher bin, dass ich damit niemanden ausschließe.«
»Er muss umgehend alle Schotten schließen«, mischte Mather sich ein. »Er darf nicht länger warten.«
»Ich vertraue auf gar nichts, was Sie sagen!«, fuhr er sie an. »Sarek, versuche den genauen Aufenthaltsort von jedem festzustellen, der sich in diesem Teil des Schiffs aufhalten könnte.«
»Um Gottes willen, Kieran!«, schrie sie. »Du wirst sie alle opfern, um ein oder zwei zu retten. Schließ die Schotten!«
Kieran spürte, wie das Headset von ihm weggezogen wurde, und streckte den Arm aus, um es wiederzuerlangen, bis er die Stimme seiner Mutter hörte: »Sarek? Hier ist Lena Alden, Kierans Mutter. Erkennst du meine Stimme wieder?«
»Ja«, antwortete Sarek zögerlich.
»Du musst umgehend alle Schotten auf der Steuerbordseite schließen, oder du wirst jeden einzelnen Menschen auf dem Schiff töten. Schließe sie jetzt.«
»Okay.« Er klang noch immer unsicher.
»Danach kann er nach eingeschlossenen Überlebenden suchen«, ergänzte Mather mit sanfter Stimme.
»Halt den Mund.« Kieran versuchte aufzustehen, spürte aber plötzlich ein zusätzliches Gewicht auf sich lasten. Eine der Wachen drückte ihn herunter, so dass er sich nicht bewegen konnte. »Sie haben kein Recht, hier die Anweisungen zu geben.«
»Das ist mir klar«, sagte Mather.
»Hast du die Schotten geschlossen?«, fragte Lena Sarek.
»Ja.« Er klang, als ob er weinte.
»Okay. Jetzt überprüfe Abteilung für Abteilung mit dem Vidsystem und suche nach Überlebenden«, sagte Lena. »Ruf alle in den Zentralbunker, okay?«
»Gut, Lena«, lobte Mather.
»Warum haben Sie das getan?« Kieran brach in sich zusammen. Es war genug. »Warum morden Sie immer weiter?«, flüsterte er.
Aber niemand im Raum antwortete ihm.