Heldin
Waverly war in ihrer Kabine und kochte sich einen Tee, ehe sie sich auf den Weg zum Kornfeld machen wollte, um einen defekten Mähdrescher zu reparieren. Sie hatte sich niemals als Mechanikerin gesehen, hatte nie als eine solche arbeiten wollen, und so war jeder Tag eine neue Herausforderung für sie. Sie hatte sich für diese Aufgabe entschieden, weil sie eine der wenigen Tätigkeiten war, bei denen sie mit niemandem sprechen musste. Und davon abgesehen, riss sich auch kein anderer darum. Vom Umgang mit den ungewohnten Werkzeugen waren ihre Hände mit Schnitten und Kratzern übersät, und überdies nahm die Arbeit sie derart gefangen, dass sie kaum Zeit hatte, an etwas anderes zu denken – und noch weniger Zeit, um zurückzudenken.
Immer wenn sie ihre Augen schloss, erschienen jene Bilder, die sich ihr in die Netzhaut eingebrannt hatten: die Gemeinde der New Horizon, die sich, jeder Einzelne in Schwarz gekleidet, zu sanften Gitarrenklängen wiegte; das Labor, in dem sie sie operiert und ihr das Wertvollste genommen hatten, um ihre neue Generation von Aposteln zu erschaffen; die grauenvoll klaffende Wunde in ihrem Bein, wo sie eine Kugel von Anne Mathers Anhängern getroffen hatte. Wie sie ihre Mutter und die anderen Erwachsenen in jenem Gefängnis hatte zurücklassen müssen, in das Mather sie gesperrt hatte und in dem sie mit ihnen tun konnte, was auch immer ihr gefiel. Die Explosion roten Blutes, als sie den Mann erschoss, der zwischen ihr und der Freiheit gestanden hatte.
Jener Augenblick, als sie zur Mörderin geworden war.
»Ich denke nicht mehr über diese Dinge nach«, teilte sie dem leeren Raum mit und bedeckte ihre Augen mit der flachen Hand. Niemand sonst auf diesem Schiff wusste, was sie getan hatte. Sie hatte niemandem von diesem prägendsten Augenblick ihres jungen Lebens erzählt – dem Augenblick, in dem sie aufgehört hatte, Waverly Marshall zu sein, und zur Mörderin geworden war. Zu einer Fremden in ihrem eigenen Körper.
Als die Erschütterung einsetzte, war sie zunächst so weit entfernt, dass sie sie fast nicht wahrgenommen hätte – ein leichtes Beben der Bilderrahmen an der Wand, das kaum hörbare Grollen tief im Inneren des metallenen Riesen, der ihr Schiff war.
Sie setzte sich auf. Irgendetwas stimmte nicht.
Dann, so durchdringend, dass sie es in ihrer Brust fühlen konnte – eine Explosion.
Ihre Teetasse hüpfte auf dem Unterteller, und schwarzer Tee spritzte über den rauhen Holztisch.
Sie sprang aus ihrem Stuhl und rannte hinaus auf den Korridor, wo sie auf Dutzende von Kindern traf, die die Panik aus ihren Betten getrieben hatte. Viele von ihnen weinten und suchten Schutz bei ihren Puppen, die sie eng an sich drückten. Am Ende des Flurs, umringt von kleinen Jungen und Mädchen, stand Melissa Dickinson. Sie war ein zartes Mädchen, kaum größer als die Kinder, um die sie sich so liebevoll kümmerte.
»Melissa! Was ist hier los?« Waverly musste schreien, um sich Gehör zu verschaffen.
»Ich weiß es nicht!« Melissa, sonst die Ruhe selbst, wirkte besorgt, und die Blicke aus ihren haselnussbraunen Augen schossen wie Pfeile durch den Korridor. »Jungs, Mädchen, bleibt zusammen!«, rief sie, und wie von Zauberhand versammelten die Kinder sich, die Augen auf Melissa gerichtet.
Das Interkom des Schiffs knackte, und Kierans Stimme aus den Lautsprechern rief die gesamte Crew in den Zentralbunker.
Jedwede Unterhaltung verstummte; Stille senkte sich über die Kinder, die nun alarmiert Melissa fixierten.
»Alle zu den Aufzügen!«, rief sie und trieb die Kinder zum zentralen Aufzugsschacht. Melissa war nur zwölf Jahre alt, aber sie hatte es sich zur Aufgabe gemacht, sich um die Waisenkinder zu kümmern, die zu jung waren, um dabei zu helfen, das Schiff am Laufen zu halten. Jeden Tag erstattete sie pflichtbewusst dem Kinderhort Bericht, in dem sie und verschiedene andere Helfer mit den Kindern Spiele spielten, Unterrichtsstunden vorbereiteten und auch sonst alles taten, um den Kleinen ein Gefühl von Geborgenheit zu geben. Auch Melissas nächtliche Geschichten-Stunden waren auf dem Schiff berühmt geworden – jene Zeit, in der selbst die älteren Kinder kamen, um ihr zuzuhören, wenn sie ihnen Erzählungen wie Kenneth Grahams Der Wind in den Weiden oder Roald Dahls James und der Riesenpfirsich vorlas. Dann brachte sie alle Kinder in einigen Räumen am Ende des Gangs zu Bett und ließ alle Türen offen, so dass sie selbst nur ein Flüstern entfernt war. Es war nicht verwunderlich, dass alle kleinen Kinder sie liebten. Selbst Waverly fühlte sich wohl in ihrer Gegenwart.
»Kommen sie zurück?«, fragte Silas Berg, ein Sechsjähriger, der ein Händchen dafür hatte, die schlimmsten Befürchtungen aller Anwesenden auf den Punkt zu bringen.
»Nein, Silas«, entgegnete Melissa ruhig und strich ihm sanft mit den Fingerspitzen über die Wange. »Die New Horizon ist Millionen von Meilen entfernt. Und wir sind nicht mehr innerhalb des Nebels. Sie können uns nicht mehr auflauern und uns überrumpeln.«
»Ich habe Angst«, flüsterte Paulo Behm und schob seine kleinen braunen Finger in die Falten von Melissas Bademantel.
»Ich auch«, entgegnete sie und strich ihm über die Wange, diesmal mit der Rückseite ihrer Finger. »Aber wir werden alle zusammenbleiben, nicht wahr, Waverly?«
Waverly nickte und versuchte sich für die Kinder an einem beruhigenden Lächeln.
»Frag nicht sie«, fuhr da die kleine Marina Coelho mit durchdringender Piepsstimme dazwischen. »Sie ist es gewesen, die unsere Eltern zurückgelassen hat.«
»Wenn du es besser kannst, warum hast du es dann nicht getan?«, gab Melissa zurück. Ihre Worte waren bestimmt, aber ihr Tonfall sanft. »Warum wäre es an Waverly gewesen, unsere Eltern zu befreien?«
»Sie ist fünfzehn!«, kreischte Marina, als würde das alles erklären. »Sie ist das älteste Mädchen. Und deshalb wäre es ihre Aufgabe gewesen!«
»Sie hatte keine andere Wahl als zu tun, was sie getan hat«, sagte Melissa scharf und warf Waverly einen entschuldigenden Blick zu. »Sie und Sarah haben uns alle gerettet. Ich für meinen Teil jedenfalls finde, dass Waverly eine Heldin ist.«
»Ich nicht«, spie Silas mit aller Verachtung eines kleinen Jungen heraus. »Niemand außer dir denkt das!«
Melissa schüttelte verzweifelt den Kopf, als der Fahrstuhl sich öffnete und die zottelige Herde hineintrabte.
Auch Waverly stieg ein, das Gesicht auf die nun wieder geschlossenen Aufzugtüren gerichtet. Aber sie konnte die Blicke der anderen in ihrem Rücken spüren. Dann presste sich ein schmaler Körper gegen ihr Bein, und als Waverly hinabsah, entdeckte sie Serafina Mbewe. Das Mädchen sah sie aufmerksam an, ihre Wattebausch-Zöpfe schwebten wie zwei dunkle Wolken über ihrem zierlichen Gesicht. Serafina war vier Jahre alt, und sie war taub, konnte aber Worte von den Lippen ablesen. Waverly versuchte, sie anzulächeln, doch ihre Lippen zitterten, und schließlich wandte Serafina den Blick ab, offenbar noch verängstigter als zuvor.
Der Fahrstuhl öffnete sich und gab den Blick auf den Zentralbunker frei, in dem das Chaos herrschte. Am Rande des riesigen Raums waren Betten aufgestellt, die Notbeleuchtungskörper hingen von der Decke herab, und am Ende des Raums befand sich eine große Küche, wo die Gemeinschaftsmahlzeiten vorbereitet werden konnten. Kinder drängten sich in Gruppen entlang der Wände zusammen, saßen starr auf ihren Feldbetten oder unterhielten sich mit gedämpften Stimmen. Waverly versuchte die zornigen Blicke einer Gruppe von Mädchen zu ignorieren, die von Marjorie Wilkins angeführt wurde. Marjorie war noch fast ein Kind, zehn oder elf vielleicht und mit knubbeligen Knien, aber es war kaum zu übersehen, dass sie ein Auge auf Kieran geworfen hatte. Sie war eine seiner ausdrücklichen Unterstützerinnen und würde es, das wusste Waverly, mit jedem aufnehmen, der seinen Gottesdiensten nicht beiwohnte.
»Und was haben deine Freunde dieses Mal angestellt?«, blaffte sie, als Waverly an ihr vorbeiging.
Waverly wusste, dass sie das Mädchen hätte ignorieren sollen, aber sie konnte die Bemerkung nicht unkommentiert lassen. »Ich weiß nicht, wen du meinst.«
»Ich meine die Leute, bei denen du unsere Eltern zurückgelassen hast«, schnarrte Marjorie. »Sie müssen deine Freunde sein. Warum sonst hättest du unsere Familien bei ihnen zurücklassen sollen?«
»Wärst du lieber auf der New Horizon aufgewachsen? Wer weiß, vielleicht hätte ich dich ja auch lieber dort lassen sollen?«, entgegnete Waverly und versuchte, Marjorie mit einem kalten Blick zum Schweigen zu bringen, aber das Mädchen wirkte nicht im Geringsten beeindruckt.
»Jeder hier findet, dass du ein Feigling bist«, sagte Millicent, Marjories kleine Schwester. Beide Mädchen hatten ihren Vater bei dem Shuttle-Hangar-Massaker verloren, hofften jedoch, dass ihre Mutter noch auf der New Horizon, dem heimtückischen Schwesterschiff der Empyrean, überlebt haben könnte. Und diese beiden waren auch Waverlys schärfste Kritikerinnen und ließen keine Gelegenheit aus, ihren missglückten Befreiungsversuch zu thematisieren. Wann immer Waverly die geringschätzigen Blicke der Mädchen sah, fühlte sie sich schuldig. Weil sie sich noch mehr hätte anstrengen müssen. Es war unerheblich, dass Mathers Leute mit Gewehren auf sie geschossen hatten. Dass die Kugeln ihre Schulter getroffen hatten, zählte nicht. Sie hätte einfach noch etwas länger durchhalten und dieses verdammte Schloss öffnen müssen. Dann hätten die Eltern den Container verlassen und ihr helfen können, Anne Mather und ihre Leute zu überwältigen. Sie hätten das Shuttle zurück zur Empyrean lenken können, und alles wäre gut gewesen. Wenn Waverly nur ein paar Sekunden länger dortgeblieben wäre, oder vielleicht auch nur den Bruchteil einer Sekunde, statt zum Feigling zu werden und ihr Heil in der Flucht zu suchen. Und es wäre ihr ohnedies nie gelungen zu fliehen, wenn die Crew der New Horizon sich nicht im allerletzten Moment gegen Anne Mather gestellt und den Mädchen so zur Flucht verholfen hätte.
Aber hatte sie durch ihr Fortlaufen nicht zuletzt auch die Mädchen gerettet? Hatte sie Marjorie, deren Schwester und all die anderen kleineren Mädchen nicht davor bewahrt, den Rest ihres Lebens als Reproduktionssklaven auf der New Horizon zuzubringen? Sie hatten den Mädchen die Eizellen gestohlen und diese dann in Leihmütter verpflanzt, und so hätten die Mädchen hilflos zusehen müssen, wie ihre Kinder von Fremden großgezogen worden wären. Zumindest war es das, was sie Waverly, Sarah und all den anderen älteren Mädchen angetan hatten. Aber Marjorie etwas von alldem erzählen zu wollen schien ein unnützes Unterfangen zu sein. Sie wollte es nicht hören.
Jetzt konnten die Eltern sich nur noch selbst helfen. Tage und Wochen nach der Flucht der Mädchen hatte jeder und jede auf der Empyrean gewartet und gehofft, dass die Unruhe, die die Flucht der Mädchen verursacht hatte, letztendlich auch zur Freilassung ihrer Eltern führen würde. Doch als die Hoffnung nach und nach wankte und schließlich schwand, sprachen die Blicke, die die anderen Kinder Waverly zuwarfen, immer häufiger eine allzu deutliche Sprache: Sie hatte versagt. Manchmal wollte sie nicht einmal mehr ihre Kabine verlassen.
»Ich habe es versucht. Ich habe mein Bestes gegeben«, sagte Waverly zu Marjorie, aber sie hörte selbst, wie schwach ihre Stimme klang.
Marjories Oberlippe kräuselte sich vor Abscheu. »Aber dein Bestes war nicht genug, nicht wahr?«, sagte sie kalt.
»Nein«, bestätigte Waverly, und jetzt hielt sie jedem anklagenden Blick im Raum stand. »Nein. Es war nicht genug.«
Niemand entgegnete etwas, aber Waverly spürte, wie sie sie voller Verachtung anstarrten, als sie sich nun abwandte und entfernte.
Deshalb verstecke ich mich unter Traktoren und Mähdreschern, dachte sie bitter. Dort, wo mich niemand sehen kann. Wo niemand mich ansprechen kann. Wo ich einfach allein bin.
Nur die Teenager-Mädchen, denen – ebenso wie Waverly selbst – ihre Eizellen gestohlen worden waren, verstanden, weshalb sie hatte fortlaufen müssen. Alia Khadivi, Deborah Mombasa und Sarah Hodges saßen zusammen auf einem Stockbett am anderen Ende des Bunkers, und Waverly schob sich durch die Menge in ihre Richtung.
»Hat diese Hure Marjorie irgendetwas zu dir gesagt?«, fragte Sarah und schoss einen vernichtenden Blick in die Richtung der zwei Schwestern. Sarah war ein kompaktes Mädchen mit großer Ausdrucksstärke, und jedes ihrer Gefühle spiegelte sich stets eins zu eins und in unmissverständlicher Deutlichkeit auf ihrem sommersprossigen Gesicht wider.
»Ach, mach dir darüber keine Sorgen«, sagte Waverly. »Weißt du denn, was passiert ist?«
Sarah schüttelte den Kopf. »Jeder hier denkt, wir würden erneut angegriffen.«
»Aber die New Horizon ist neun Millionen Meilen vor uns«, warf Waverly ein.
»Ich weiß«, sagte Alia durch ihre geschürzten, tiefrosafarbenen Lippen. Ihr langes, dichtes Haar fiel ihr in ebenholzfarbenen Kaskaden über die Schulter. »Vielleicht ist Seth ausgebrochen.«
»Nein«, platzte es aus Waverly heraus. »Seth würde niemals irgendetwas tun, was das Schiff gefährden könnte.«
»Du solltest lieber hoffen, dass Seth das Problem ist«, sagte Deborah mit einem bitteren Lachen, und ihre Finger fuhren nervös durch ihre dichten schwarzen Locken. »Denn wenn es nichts mit Seth zu tun hat, dann hat es etwas mit der New Horizon zu tun.«
Waverly setzte sich an den Rand des Bettes, direkt neben Sarah. Am liebsten hätte sie nach der Hand ihrer Freundin gegriffen und ihre Finger mit ihren verschränkt, aber sie wollte sich nicht aufführen wie ein kleines, verängstigtes Mädchen.
»Ich wünschte, Kieran hätte nicht alle Waffen versteckt«, sagte Alia. Praktisch veranlagt, wie sie war, hatte Alia es sich zur Aufgabe gemacht, so viele Ernteschäden wie möglich auszugleichen, denn die Familiengärten waren in den letzten Monaten stark vernachlässigt worden. Sie und ihre Helfer brachten endlose Mengen an Körben voll frischer Früchte und frischem Gemüse zu den Wohnquartieren, und oft trafen sie einander in der Küche des Raumschiffs, wo sie riesige Mengen von Gemüsebrei für die jüngeren Kinder einkochten. Alia verbarg selten ihre Gefühle, aber nun wippten ihre Füße in den roten Seidenpantoffeln so stark auf und ab, dass sie das Bett, auf dem die Mädchen saßen, zum Schwingen brachte.
»Wenn sie wollen, dass ich dorthin zurückgehe, müssen sie mich schon durch eine der Luftschleusen hinausbefördern«, sagte Waverly und schob ihre eiskalten Hände unter die Oberschenkel.
»Sag so etwas nicht«, entgegnete Sarah wie aus der Pistole geschossen.
»Und warum nicht?«, fragte Waverly.
Für einige lange Augenblicke spürte sie Deborahs helle, forschende Augen auf sich gerichtet, ehe das Mädchen schließlich sagte: »Du hast uns von diesem Schiff heruntergebracht. Niemand hätte das besser machen können, als du es getan hast. Und das weißt du auch, oder?«
»Ich möchte nicht darüber sprechen.«
»Mach dir nichts aus Marjorie und all den anderen Idioten«, sagte Sarah. »Ignorier sie einfach.«
»Ich mache mir nichts daraus«, sagte sie kühl, aber sie wusste, dass Sarah ihr nicht glaubte.
In der Mitte des Raums hob nun ein Mädchen namens Megan Fuller die Hand und bat um jedermanns Aufmerksamkeit. Mit ihren rundlichen Wangen und dem zotteligen, dünnen braunen Haar war Megan nicht gerade eine klassische Schönheit, aber ihr Lächeln verlieh ihrem Gesicht immer wieder etwas Besonderes: »Kommt! Versammeln wir uns! Bildet einen Kreis!«
»O nein«, seufzte Waverly. »Werden sie je damit aufhören?«
»Die Leute fühlen sich danach besser«, gab Alia unerwartet gleichmütig zurück. »Das musst du zugeben.«
Eine erstaunlich große Menge von Kindern scharte sich um Megan. Die Leute senkten ihre Köpfe, als das Mädchen nun in einen Singsang verfiel und zu beten begann: »Lieber Gott, leite unseren Führer Kieran Alden. Was auch immer heute Nacht geschehen mag, bitte beschütze uns vor unseren Feinden bis zu jenem Tag, an dem wir wieder mit unseren Familien vereint sein werden, sei es in diesem oder im nächsten Leben …«
»Dass wir eines Tages unsere Eltern wiedersehen könnten, ist ein schöner Gedanke«, sagte Deborah abwesend. Kurz nach der Rückkehr auf die Empyrean hatte sie erfahren, dass ihre Eltern bei dem Shuttle-Hangar-Massaker gestorben waren. Sie hatte es tapfer aufgenommen, doch sie sprach kaum je von ihnen und schien die Gesellschaft jener kleinen Herde von Schafen und Ziegen, mit der sie von Feld zu Feld durch das Schiff zog und die sie Stunde um Stunde mit leeren Augen beobachtete, der der Menschen vorzuziehen.
»Manchmal spüre ich zu seltsamen Zeiten, dass meine Mutter zu mir spricht.«
»Auch ich habe zu meinem Vater gesprochen, nachdem er gestorben war«, sagte Waverly. »Damals, als ich noch klein war.« Ihre Augen wurden dunkel, als sie an jene traurigen, einsamen Nächte zurückdachte. »Ich tat es immer abends, an der Grenze zwischen Tag und Traum.«
»Vielleicht ist es dann doch nicht so falsch von Megan, zu beten«, sagte Alia.
Waverly sah zu Megan hinüber, die ihre Hände über ihrem Kopf ausgestreckt hatte, während sie laut betete. Sie wusste, dass das Mädchen eine große Unterstützerin Kierans war; wann immer er den Raum betrat, starrte sie ihn mit einem verklärten Ausdruck auf dem Gesicht an. Es machte Waverly ganz krank. »Sie klingt wie Anne Mather.«
»Weißt du, Waverly«, sagte Deborah mit einer Spur von Ungeduld in der Stimme, »nicht jeder gläubige Mensch ist so wie diese Frau.«
»Das habe ich auch nicht gesagt.«
»Das musst du auch nicht«, entgegnete Deborah, den Blick auf Waverlys Knie gerichtet. »Jeder hier weiß, dass das deine Einstellung zu den Gebeten ist.«
»Ich dachte bislang, dass du Kierans kleinen Kult ebenso wenig magst«, sagte Waverly, die sehr wohl merkte, dass sie in die Defensive geriet, sich aber nicht anders zu helfen wusste. »Und wie könntest du auch, nach all dem, was mit Anne Mather geschehen ist?«
Deborah zuckte trotzig mit den Schultern. Eine Strähne ihres Lockenhaars fiel ihr in die Augen, und sie schob sie mit einer ungehaltenen Geste hinters Ohr. »Megan ist nicht Anne Mather. Ebenso wenig wie Kieran. Unter allen Leuten auf diesem Schiff solltest ausgerechnet du das am besten wissen.«
Sarah und Alia lächelten Waverly aufmunternd zu, aber statt sich an der Diskussion zu beteiligen, senkten sie kurz darauf lieber die Blicke und studierten den Boden des Zentralbunkers.
Waverly öffnete ihren Mund, um zu protestieren, doch dann schloss sie ihn wieder. Ich überreagiere nicht, sagte sie zu sich selbst. Kieran ist gefährlich.
Aber Anne Mather war schlimmer. Und vielleicht hatte sie einen Weg gefunden, sich auf die Empyrean zu schleichen. Vielleicht betrat sie gerade in diesem Augenblick mit ihren Leuten das Schiff.
Waverly krümmte sich zusammen und verbarg ihre Stirn zwischen ihren Knien. Ich werde nicht dorthin zurückkehren, schwor sie sich. Eher sterbe ich.