Gefangene

Seth lag auf dem Rücken, die Augen unter der Beuge seines Ellbogens verborgen. Seine Knochen schmerzten weniger, waren nicht mehr so müde, und er ging davon aus, dass Kieran die Beschleunigung gedrosselt hatte. Jeder Teil seines Körpers, angefangen bei den Muskeln bis hin zu den Gelenken und selbst seine Haut, spürte die Erleichterung. Wenn er jetzt nur noch einen Weg aus dieser Folterkammer herausfinden könnte. Sowenig er auch wog, er lag immer noch auf einer harten Metallpritsche. Und auch seine Ohren waren steter Folter ausgesetzt: Der Terrorist summte seit Stunden wieder und wieder eine alte Melodie, und das trieb Seth in den Wahnsinn.

»Hey!«, rief er mit brüchiger Stimme den Gang hinunter. »Könntest du vielleicht mal die Fresse halten?«

Das Summen stoppte einen halben Herzschlag lang, setzte dann aber wieder ein, nur diesmal eine Tonlage höher.

»Übst du für den Kirchenchor, oder was?«, rief er, so laut es sein geschwächter Körper erlaubte. »Ich sagte: Halt die Fresse!«

»Halt selbst die Fresse, du kleiner Freak«, schrie der Mann zurück, die ersten Worte, die er seit mehr als einem Tag gesprochen hatte.

»Der Cro-Magnon-Mensch erlangt die Fähigkeit zu sprechen«, rief Seth. Zu seiner Überraschung fing der Gorilla an zu lachen.

Seth wollte sich aufsetzen, um sich etwas zu trinken zu holen, aber mit all den Schläuchen in seinem Arm war das gar nicht so einfach. Außerdem war es eigentlich nicht nötig, etwas zu trinken. Als Tobin die Infusionsnadel in seinen Handrücken gestochen hatte, hatte er gesagt: »Dadurch bekommst du alle Flüssigkeiten und Nährstoffe, die du im Moment brauchst.«

»Warum kriege ich nicht einfach ein Brathähnchen zum Abendessen?«, hatte Seth schwach gefragt.

»Nicht durch den Hals, Seth. Es hat dich ziemlich übel erwischt. Vorerst nur Flüssigkeit.« Tobin hatte Seths Shirt hochgeschoben und sich die hässlichen Rippenprellungen genauer angesehen. Dann war er mit den Fingern durch Seths relativ langes blondes Haar gestrichen, bis er die kahle Stelle gefunden hatte, wo eine klaffende Wunde genäht worden war. »Scheint gut zu heilen.«

»Ich schätze, Waverly hat dir erzählt …«

»… dass du Prügel eingesteckt hast, ja. Wie fühlt sich die Infusion an?«

»Einfach nur köstlich.«

»Erst das und dann ein Brathähnchen mit Pommes, okay? Bleib einfach liegen und lass deinen Körper heilen.«

Aber still zu liegen war nie eine von Seth Ardvales herausragenden Fähigkeiten gewesen.

Seine Kehle fühlte sich schon viel besser an, aber er konnte immer noch nicht schreien, also schlug er das Essenstablett aus Metall gegen die Gitterstäbe seiner Zelle. Er hörte schwere Schritte, dann erschien Harvey Markem auf der anderen Seite des Gitters.

»Ja?«, fragte Harvey. Er war nun um einiges freundlicher als vorher. Seth vermutete, dass es daran lag, dass er den Terroristen geschnappt hatte; aus diesem Grund waren jetzt viele Leute freundlicher zu ihm. Niemandem gegenüber hatte er erwähnt, dass der Terrorist auch ihn geschnappt hatte.

»Wenn ich den Bastard schon die ganze Zeit hören muss«, sagte Seth, »kannst du mich auch gleich in eine Zelle bringen, von wo aus ich ihn sehen kann.«

»Wofür soll das gut sein? Sein Anblick ist nicht gerade eine Augenweide.«

Seth studierte Harveys offenes Gesicht und versuchte zu entscheiden, ob ihn die Wahrheit weiterbringen würde. Er entschied sich gegen eine Lüge, da er schlichtweg zu müde war, also zuckte er mit den Achseln und versuchte, bescheiden zu wirken. »Vielleicht redet er mit mir.«

»Warum sollte er?« Harvey verzog das Gesicht und sah trotz seiner eindrucksvollen Größe wie ein kleiner Junge aus.

»Ganovenehre? Geteiltes Leid und so?«

»Oh«, sagte Harvey. Auf seinen Mundwickeln kauend, dachte er eine Minute lang darüber nach und steckte dann den Schlüssel in das Schloss der Zelle. »Wenn jemand fragt, habe ich dich verlegt, um dich zu bestrafen.«

»Bestraft? Weswegen denn?«

»Weil du so verdammt gut aussiehst.« Harvey lehnte sich über Seth, legte ihm den Arm über eine Schulter und zog ihn in eine Sitzposition hoch. »Okay?«

»Ja«, sagte Seth und schloss die Finger um den Ständer seiner Infusion. »Ganz langsam, ja?«

Stöhnend zog Harvey an Seths Arm, bis er auf eigenen Füßen stand, und langsam schwankten die beiden aus der Zelle hinaus auf den Gang.

»Hat Kieran das Tempo gedrosselt?«, fragte Seth.

»Ja. Meinem Rücken geht es seitdem schon viel besser.«

Seth hatte seit Tagen nicht gestanden und erkannte nun, wie schwach er tatsächlich war. Er versuchte diesen Umstand vor Harvey zu verbergen und dankte dem Jungen innerlich, dass der so taktvoll war und seine Augen auf den Boden vor ihnen gerichtet hielt.

Harvey schien sich ein Herz zu fassen und fragte: »Dann warst du es also, der mich hoch zum Zentralbunker getragen hat, nachdem ich bewusstlos geschlagen worden bin?«

»Ja«, erwiderte Seth keuchend.

»Das war sehr nett von dir.«

»Glaub bloß nicht, dass ich darüber nicht zweimal habe nachdenken müssen«, krächzte Seth.

»Und warum hast du es dann getan?«

»Weil du mitleiderregend aussahst.«

»Tja, dann – danke.«

Seth fühlte sich peinlich berührt und schaute in die leeren Zellen, an denen sie vorbeikamen. Schließlich zog Harvey ihn in die Zelle gegenüber dem Gorilla und ließ ihn auf die Pritsche sinken. Er warf ihm einen entschuldigenden Blick zu, während er die Tür hinter sich verschloss, und ging dann fort, ohne den Gorilla eines Blicks zu würdigen.

Der Gefangene saß auf dem Boden seiner Zelle und lehnte mit dem Rücken an der Metallpritsche. Er hatte nicht aufgehört, seine heißgeliebte Melodie zu summen, während seine milchigen Augen die Decke fixierten. Sein sonderbarer, glasiger Blick weckte in Seth die Frage, ob der Mann psychisch vollständig gesund war, denn er meinte, diesen Ausdruck schon einmal gesehen zu haben, und zwar viele Male auf seinem eigenen Gesicht. Es war der Blick eines Menschen, der nichts zu verlieren hatte, der Blick eines Menschen, der stets spontan und impulsiv handelte, weil es zu schmerzhaft für ihn war, allzu lange über etwas nachzudenken.

»Hast du was dagegen, wenn ich mitsinge?«, fragte Seth den Mann.

Das Summen hörte augenblicklich auf, aber der Gorilla begann die Melodie schnell wieder von vorne.

Wie bringt man jemanden zum Reden? Seth war nicht gerade der geselligste Mensch; sein Leben lang war er eifersüchtig auf Leute gewesen, die sich ohne Weiteres öffnen und über sich selbst sprechen konnten. Andere schienen darauf immer mit Gesprächsbereitschaft zu reagieren.

»Du und deine Crewmitglieder wissen, wie man einen bleibenden ersten Eindruck hinterlässt«, sagte Seth und blickte den Mann von der Seite an. »Ein ausgezeichneter Angriff. Sehr effizient.«

Der Mann summte weiter und starrte auf seine Hände, die er kelchförmig zwischen seinen angewinkelten Knien hielt.

»Mein Dad ist gestorben wegen dem, was du und deine Freunde getan habt«, sagte Seth. »Und seitdem bin ich allein. Danke dafür. Ich habe viel über mich gelernt.«

Das Summen des Mannes schien ein wenig leiser geworden zu sein, und er saß sehr still, so als würde er zuhören.

»Meine Mom habe ich vor Jahren verloren«, sagte Seth und starrte an die Decke. Er wusste, dass er nicht weitersprechen würde, wenn er den anderen jetzt ansah. »Irgendein beschissener Unfall in der Luftschleuse, sagten sie. Da war ich vier Jahre alt. Ich erinnere mich fast gar nicht mehr an sie. Alles, was mir von ihr geblieben ist, sind ein paar Fotos.«

»Willst du Mitleid?«, brummte der Gorilla.

»Ich schlage nur die Zeit tot«, sagte Seth, während er versuchte, seine Aufregung zu verbergen. Der Kerl hatte gesprochen!

»Bin nicht interessiert.«

»Dann hör nicht zu«, blaffte Seth zurück.

Der Mann summte weiter.

Seth schaute wieder zur Decke, während er die Schwielen an seinen Händen befühlte. »Schon witzig, was einem so fehlt. Meine Mom machte die beste heiße Schokolade der Welt. Sie war herrlich cremig und hinterließ einen dicken Schnurrbart auf der Oberlippe. Ich habe immer einen Riesenakt daraus gemacht, ihn abzulecken, nur um sie zum Lachen zu bringen. Als sie tot war, versuchte mein Dad, diese Schokolade für mich zu machen, aber ich habe sie nie runterbekommen. Als ich älter wurde, habe ich sogar versucht, sie selbst zu machen, aber Mom muss etwas Besonderes hineingetan haben, irgendeine Zutat, die dem Ganzen dieses gewisse Etwas gegeben hat und die ich vermutlich nie herausfinden werde. Irgendein Gewürz oder zusätzliche Ziegenmilch oder vielleicht auch etwas ganz anderes. Ihre heiße Schokolade war einfach das Beste überhaupt. Heute rühre ich keine mehr an.«

Irgendwann während dieses Monologs hatte das Summen aufgehört.

»Sie lachte sehr viel«, sagte Seth. Er schloss die Augen und rief sich das Lachen seiner Mutter in Erinnerung: ein leises Glucksen, das nie lange anhielt, ihn aber immer glücklich gemacht hatte. Er hatte es geliebt, für sie den Clown zu spielen. Er war in seinem Schlafanzug herumgetanzt, hatte die Beine in die Luft geworfen und so lange Grimassen geschnitten, bis sie ihm einen Kuss gegeben hatte. »Nachdem Mom tot war, lachte niemand mehr bei uns. Mein Dad war wirklich … Hm, ich spreche nicht gern schlecht von Toten, aber er war so ein Arschloch, und er war der Meinung, dass Lachen ein Zeichen von Schwäche ist. Ich schätze, ich komme da nach ihm, denn auf diesem ganzen Schiff gibt es wohl niemanden, der mich je zum Lachen gebracht hätte.«

»Vielleicht bist du nur traurig«, sagte der Gorilla.

Seth war bestürzt von diesem offensichtlichen Mitgefühl, aber er fing sich schnell wieder. »Das bin ich wohl.«

»Ich wusste nicht, dass du Waise bist.«

»Ja«, sagte Seth. Seine Stimme schmerzte vom Reden, also hielt er den Atem an und wartete, dass der andere weitersprach.

Er wartete lange und war fast eingeschlafen, als der Mann schließlich sagte: »Ich bin auch Waise.« Er sprach diese Worte mit einer Stimme aus, die so tief war, dass sie aus der Mitte seiner breiten Brust zu kommen schien. »Meine Mom starb auf der Erde, bevor wir an Bord der New Horizon gingen. Sie wurde von einem Hund gebissen, und wir konnten keine Antibiotika für sie finden. Ist das zu glauben? Etwas so Simples wie Penizillin, und wir konnten es nicht auftreiben! Das hat mich fast in den Wahnsinn getrieben. Ich glaube, das war der Grund, warum mein Vater unbedingt auf das Schiff wollte – damit wir immer einen Arzt in der Nähe haben.«

»Was ist mit deinem Dad passiert?«, fragte Seth.

»Leberkrebs. Als ich zwölf war.«

»Scheiße.«

»Ich bin trotzdem irgendwie groß geworden. Es hat sich immer jemand um mich gekümmert.«

»Ja, du bist groß geworden«, sagte Seth mit vorgespielter Anerkennung. »Wie groß bist du genau?«

Der Mann gluckste. »Einsachtundachtzig.«

»Echt? Ich hätte mehr gedacht.«

»Wie groß bist du?«

»Etwa einsdreiundachtzig.«

»Du wächst noch etwas. Wenn du es nicht vorher irgendwie schaffst, über den Jordan zu gehen.«

»Interessanter Kommentar von jemandem, der mich töten wollte. Zweimal sogar.«

»Das war nichts Persönliches.«

»Es fühlte sich aber verdammt persönlich an.« Einen Moment lang vergaß Seth, was er vorhatte. Er wollte den Kerl schlicht anschreien und Messer auf ihn werfen. Viele Messer. Große Messer.

»Das tut mir leid«, sagte der Mann. Er verlagerte sein Gewicht, so dass die Pritsche, an der er lehnte, quietschte. Er streckte die Beine aus, bis die Sohlen seiner gewaltigen Schuhe die Gitterstäbe seiner Zelle berührten. »Ich wollte nur selbst am Leben bleiben.«

»Und du hast versucht, Waverly umzubringen.«

»Sie hat Shelby getötet.«

»Dein Hausschaf?«

»Meinen Bruder«, sagte der Mann. Seine Stimme klang nun verletzlich, fast jungenhaft. »Wir waren keine Blutsverwandten. Unsere Nachbarn nahmen mich zu sich, nachdem Dad gestorben war, und Shelby war ihr Sohn. Viele Kinder hätten ein neues Kind im eigenen Zuhause abgelehnt, aber Shelby nahm mich in den Arm und sagte: ›Ich wollte schon immer einen Bruder haben.‹ Das war gleich am ersten Tag. Ich glaube, ich tat ihm leid, da ich gerade meinen Dad verloren hatte und so, und er wollte helfen.«

»Klingt nach einem guten Menschen«, sagte Seth, als der Gorilla eine Pause machte.

»Er war ein großartiger Mensch«, erwiderte der Mann verteidigend. »Er hatte nur einen Narren an Pastorin Mather gefressen und tat alles, was sie ihm befahl.«

»Du denn nicht?«

»Sie hat mich nie sonderlich beachtet«, sagte der andere, aber Seth vermutete, dass er sich mehr Beachtung gewünscht hätte.

»Warum hat sie dich dann hergeschickt?«

Der Mann drehte den Kopf, um Seth direkt anzusehen, der sein Bestes gab, dem Blick standzuhalten. »Was hast du vor?«, fragte der Gorilla.

»Wie jetzt?«, fragte Seth unschuldig. »Hältst du mich für einen Spion oder so was?«

Die Augen des anderen verengten sich zu Schlitzen.

»Glaub doch, was du willst«, sagte Seth und wandte sich ab, um zu schlafen. Er starrte die dunkle Wand an der Rückseite seiner Zelle an, das Edelstahlwaschbecken und das verbeulte Schränkchen in der Ecke. Sein Schweigen war zwar nur vorgegeben, aber seine Augenlider waren schwer, und er entschloss sich, dass es besser war, den anderen Gefangenen nicht zu drängen. Also ließ er sich in den Schlaf gleiten.

Das schabende Geräusch von Metall auf Metall weckte ihn, und als er sich umdrehte, entdeckte er, dass Kieran Alden auf einem Stuhl gegenüber dem Saboteur saß. Der Mann sah Kieran unter schweren Lidern an. Da Seth selbst gern nach außen hin Stärke demonstrierte, war er sich sicher, dass sich hinter der zornigen Körperhaltung des Terroristen echte Angst verbarg. Vielleicht war es ja gut, dass er sich vor Kieran fürchtete.

»Brauchen Sie noch Medikamente oder ärztliche Behandlung?«, fragte Kieran.

Unfreiwillig entfuhr Seth ein verächtliches Schnauben. Ihm selbst hatte Kieran, seit er ihn hier in die Arrestzelle geworfen hatte, nicht mal einen Wattebausch angeboten. Kieran sah erst Seth ausdruckslos an, dann Harvey, der mit verschränkten Armen hinter ihm stand und die Situation beobachtete, um sicherzugehen, dass Kieran nichts geschah. Seth wusste, dass Harvey würde erklären müssen, warum er ihn verlegt hatte.

Seth sah Kieran prüfend an. Er erschien ihm kleiner als sonst, verletzlicher. Seine Haut hatte eine grünliche Färbung angenommen, und das Licht in der Zelle ließ ihn blinzeln. Er sah nicht gesund aus.

»Wie geht es Ihrem Kopf?«, fragte Kieran den Gefangenen, der auf eine Stelle oberhalb von Kierans Schulter starrte und seinen Besucher geflissentlich ignorierte. »Ich werde einen Sanitäter bitten, einige Schmerzmittel runterzubringen«, sagte er dann. »Und Sie müssen ihn auch Ihre Temperatur messen lassen. Wir müssen sichergehen, dass Sie keine Infektionen haben.«

»Was interessiert’s dich, ob ich krank bin?«, blaffte der Mann zurück. »Du solltest mich sterben lassen.«

»Wenn ich das täte, hätte ich keine Möglichkeit mehr, mit Ihnen zu reden.«

»Ich werde dir ganz sicher nichts sagen.«

»Ich weiß, wer Sie sind«, trumpfte Kieran auf. »Sie sind Jake Pauley. Mather hat es mir gesagt.«

Bei diesen Worten sah der Gefangene auf. Er hatte nicht gewusst, dass Kieran mit seinem Schiff in Kontakt stand.

Der Gorilla schien unsicher zu sein, wie er nun reagieren sollte. Er hatte ganz offensichtlich nicht erwartet, dass Mather etwas über ihn preisgeben würde.

»Ich habe versucht, Sie als Druckmittel zu benutzen«, fuhr Kieran fort, »um einen Austausch zu verhandeln. Unsere Eltern gegen Sie. Aber Mather sagte mir, dass es ihr egal sei, was ich mit Ihnen mache.«

Es war kaum wahrnehmbar, doch Seth konnte an den Augen des Gorillas erkennen, dass er innerlich vor Wut schäumte.

»Sie war besonders aufgebracht darüber, dass Sie ein Kind töteten und versucht haben, noch weitere umzubringen.«

Pauleys Blick flog über Kieran hinweg und landete dann kurz auf Seth, ehe er wieder ins Leere oberhalb von Kierans Schulter starrte.

»Ich habe nicht die geringste Ahnung, warum Sie ihr gegenüber loyal bleiben wollen«, sagte Kieran. »Sie ist ein skrupelloses Miststück.«

»Sie ist eine Frau Gottes«, erwiderte Pauley.

»Soviel ich weiß, ist es eine Sünde, Unschuldige umzubringen.«

»Sie hatte nicht damit gerechnet, dass die gesamte Crew da sein würde«, fing der Mann an, biss sich dann aber auf die Lippe.

»Im Shuttle-Hangar?«, fragte Kieran eine Spur zu eifrig. Er wartete, doch der Gefangene schwieg beharrlich. »Dann hatte sie also nicht vor, unsere Crew abzuschlachten?«

Der Mund des Mannes blieb verschlossen, seine Augen fixierten die Wand.

»Warum hat sie dann die Luftschleuse im Shuttle-Hangar geöffnet?«

Keine Antwort.

»Jake, wie lautet Ihre Mission?«, fragte Kieran ihn direkt.

»Keine Mission«, gab Jake Pauley zurück, dann verschloss er abermals den Mund und schüttelte den Kopf.

»Jake, ich muss es wissen. Ist meine Crew noch in Gefahr?«

Der Mann verweigerte abermals die Antwort und starrte nun wieder auf die Stelle oberhalb von Kierans Schulter.

»Was können Sie mir über den Aufenthaltsort der Geiseln an Bord der New Horizon sagen? Jake?« Kierans Stimme zitterte nun vor Ungeduld. »Das sind unsere Eltern. Wir müssen sie zurückholen!«

Jake saß einfach nur auf dem Boden und starrte vor sich hin.

Kieran stand auf, lehnte sich über ihn und deutete mit einem Finger auf sein Gesicht. »Wenn Sie glauben, ich könnte Sie bis in alle Ewigkeit beschützen, dann machen Sie sich etwas vor. Auf diesem Schiff sind zweihundertfünfzig Kinder, die am liebsten Informationen aus Ihnen herausprügeln würden, und ich werde sie nicht ewig davon abhalten können. Es sei denn, ich bekomme von Ihnen Informationen, die wir nutzen können.«

»Tut mir leid«, sagte der Gorilla und rollte seine Augen nach oben, um Kierans Blick zu erwidern. Kieran streckte sich, gab Harvey ein Zeichen, ihn aus der Zelle zu lassen, und entfernte sich dann. Einmal blickte er noch über die Schulter zurück, aber sein Blick galt nicht dem Gorilla, sondern Seth.

»Er mag dich nicht sonderlich«, sagte Seth kichernd zu Pauley.

»Dich aber auch nicht«, entgegnete dieser lachend.

»Hm, na ja, er glaubt, ich hätte versucht, ihn zu töten.«

»Und? Hast du?«

Seth legte das Kinn auf die Brust und atmete tief ein, um die hässlichen Bilder dieses Tages aus seinem Gedächtnis zu vertreiben. »Ich habe ihm gedroht, ihn durch eine Luftschleuse nach draußen zu befördern. Ich wollte ihm aber nur Angst machen, um ihn zur Besinnung zu bringen.«

»Das hättest du dir vielleicht etwas besser überlegen sollen.«

»Ja, vermutlich«, gab Seth mit schiefem Grinsen zurück. Er drehte sich auf die Seite und stützte den Kopf auf eine Hand. »Mather hat dich gar nicht geschickt, oder?«

Jakes Blick verlagerte sich zur Rückwand von Seths Zelle.

»Du bist aus eigenem Antrieb hergekommen, wie so ein wildgewordener Bürgerwehrtyp. Hast du es auf eine Beförderung oder so abgesehen?«

Der Mann stieß einen langen, tiefen Seufzer aus. »Ich habe es nicht bis zum Ende durchdacht. Ich sah, dass das Shuttle wegflog, und schnappte mir ein EMS. Alles, was ich wollte, war, Waverly Marshall zu töten. Ich habe nur auf den richtigen Moment gewartet.«

Seth schluckte. Bei der Erwähnung von Waverlys Namen fiel es ihm schwer, seine Abscheu vor diesem Mann weiterhin zu verbergen. »Sie kann ein echtes Miststück sein«, sagte er beiläufig. »Total hochnäsig.«

»Es sind jetzt Familien an Bord der New Horizon«, sagte Pauley abwesend, als würde er etwas vortragen, über das er oft nachgedacht hatte. »Die müssen beschützt werden.«

»Hast du Kinder?«

»Nein«, antwortete er bitter, »ich habe keine Kinder.«

»Aber du willst die Kinder anderer beschützen. Das finde ich gut.«

»Das ist das, was Shelby getan hätte.«

»Und du versuchst, ihn so zu ehren«, sagte Seth, als würde er den Gedanken des anderen beenden. Seine Kehle brannte inzwischen fürchterlich, er musste aufhören zu sprechen. »Das hätte ihm sicher gefallen.«

»Ich hoffe es«, erwiderte Jake mit stiller Traurigkeit.

»Aber wie passt das dann dazu, dass du mich und Max vergiften wolltest?«, fragte Seth, und als der Mann ihn ansah, hob Seth beschwichtigend die Hand. »Du kannst mir nicht vorwerfen, dass ich das wissen will.«

Der Mund des Gorillas wurde breiter, und er legte sein Kinn auf die Brust. »Ich war mir nicht sicher, ob ihr mich beim Reinkommen gesehen habt.«

»Ich habe die ganze Zeit über geschlafen. Und Max sagte, er hätte nichts gesehen.«

»Ich musste auf Nummer sicher gehen. Ich wollte euch zwei als Sündenböcke haben, aber hättet ihr melden können, dass ein blinder Passagier an Bord ist, hätte das meine Mission gefährdet.«

»Dann hast du also doch eine Mission«, stellte Seth wie nebensächlich fest. »Und du treibst Kieran nur so zum Spaß in den Wahnsinn. Gefällt mir.«

Der Mann lächelte, wobei er dreieckige Lücken zwischen seinen Zähnen offenbarte.

Er glaubt, wir wären Freunde, dachte Seth und ließ sich zum Schlafen zurück auf die Matratze sinken. Der dämliche Bastard weiß nicht, dass er bereits jetzt ein toter Mann ist.

Sternenfeuer: Vertraue Niemanden: Roman
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