Schaden

Als er im Arrestbereich eintraf, um den Terroristen ein weiteres Mal zu verhören, war Kieran noch immer wütend wegen seiner Auseinandersetzung mit Waverly am Tag zuvor. Er ging an Hiro und Ali vorbei, die beide loyale Wachen waren. Heute erschienen sie ihm verschlossen und beunruhigt. Als er Jakes Zelle erreichte und einen Blick durch die Gitterstäbe warf, sah er einen Mann, der zusammengekauert auf dem Boden und zitternd auf der Seite lag, dessen Hände zwischen die Knie geklemmt waren, während er unruhig schlief.

»Jake?«, sagte Kieran.

Der Mann rührte sich nicht.

»Ali!«, rief Kieran. Ali kam den Gang herunter und seufzte dabei schwer. Er war kaum in der Lage, Kieran in die Augen zu sehen.

»Wie lange ist er schon so?«

»Seit etwa vierundzwanzig Stunden.«

»Warum habt ihr mich nicht gerufen?«

Der Junge stand vor Kieran und öffnete den Mund, um etwas zu sagen, schaffte es dann aber doch nicht.

»Kieran«, flüsterte jemand hinter ihm. Er drehte sich um und sah Seth Ardvale an den Gitterstäben seiner Zelle lehnen. Seth blickte ihm verzweifelt und flehentlich in die Augen. »Ich muss mit dir reden.«

Kieran wandte ihm den Rücken zu.

»Ist er krank?«, fragte er. Der Mann war schweißgebadet, und obwohl seine Augen geschlossen waren, konnte man sehen, wie die gewölbte Hornhaut unter den Lidern zitterte, als befände er sich mitten in einem aufwühlenden Traum.

»Nein«, sagte Ali widerstrebend, »der Zentralrat war hier.«

Kieran wirbelte herum und funkelte Ali an, der sofort zurückwich.

»Was ist passiert?«, knurrte Kieran.

Ali zögerte.

»Kieran«, flüsterte Seth. »Bitte, ich muss mit dir reden.«

Kieran packte Alis Arm und zog den Jungen zur Station der Wachen, wo Hiro stand, den Blick starr auf den leeren Gang gerichtet. »Ich will sofort wissen, was hier los war.«

Die Wachen sahen einander nervös an.

»Waverly Marshall brachte Bobby Martin hierher«, sagte Ali schließlich zögernd, »und sie sagten, es wäre illegal, sie nicht durchzulassen.«

»Warum habt ihr mich nicht gerufen?«

»Wir wollten ja, aber …« Ali sah Hiro an, der das Gespräch mit besorgtem Blick verfolgte.

»Waverly fing an, ihn nach unseren Eltern zu fragen«, sagte Hiro. »Ich vergaß, dich zu rufen, ich wollte wissen, was er sagt.«

»Was hat sie mit ihm gemacht?«, fragte Kieran mit einem flauen Gefühl im Magen.

»Sie hat einen Schafstaser bei ihm eingesetzt«, sagte Ali voller Scham.

»Warum habt ihr mich nicht gerufen?« Seine Stimme zitterte vor Wut, und beide Jungen sahen aus, als fürchteten sie sich vor ihm.

»Wir hatten Angst«, sagte Hiro. »Wir wussten, dass du ausflippen würdest.«

»Ihr habt gehofft, ich würde es nicht rauskriegen.«

Beide sahen Kieran an, als würden sie damit rechnen, mit einem Lineal auf die Finger geschlagen zu werden. Es sind Kinder, dachte Kieran. Es sind kleine Jungs, die Angst davor haben, Ärger zu bekommen.

Er schloss die Augen und seufzte. Wie sollte er ein Schiff führen, wenn seine Wachen sich wie Achtjährige aufführten?

»Gib mir dein Walkie-Talkie«, fauchte er. Hiro gab es ihm, und er sprach hinein. »Sarek, schick mir zwei frische Wachen in die Brig.«

»Gönnst du uns eine Pause?«, fragte Hiro hoffnungsvoll.

Kieran lachte, als er erst die Schlüssel von Alis und dann von Hiros Gürtel riss. Er nahm beiden die Waffen ab und schloss sie in den Metallschrank hinter dem Schreibtisch der Wachen. »Ich enthebe euch eurer Pflichten, ihr arbeitet wieder auf der Farm.«

Hiro senkte den Blick und schien zu akzeptieren, dass er eine Strafe verdiente. Ali aber funkelte Kieran an.

»Wärst du nicht so ein Idiot, hätten die Leute auch nicht so eine Angst, dir die Wahrheit zu sagen«, schnappte er.

Kieran ignorierte ihn und ging zurück in den Arrestbereich. Der Terrorist hatte keinen Muskel bewegt.

»Kieran, bitte«, flüsterte Seth und streckte die Hand durch die Stäbe. »Ich weiß ein paar Sachen, die du wissen musst.«

»Dann schieß los«, sagte Kieran, ohne ihn anzusehen.

»Nicht hier«, erwiderte Seth, die Augen auf den Gefangenen gerichtet.

»Jake?«, rief Kieran laut durch die Stäbe. »Ich bin’s, Kieran.«

Der Mann bewegte sich nicht. Leise schlüpfte Kieran in die Zelle, blieb aber in der Nähe der Tür, falls der Gefangene zu fliehen versuchte. »Jake«, flüsterte er.

Die Augen des Mannes öffneten sich schlagartig, und er keuchte, als würde er sich zum ersten Mal im Arrestbereich wiederfinden.

»Jake, es tut mir leid. Ich wusste nicht, dass sie Ihnen das antun würden.«

Die Augen des Gefangenen rollten in seinem Schädel, bis sie Kieran fanden und ihn fixierten.

»Sie müssen mir glauben. Waverly hatte keine Erlaubnis dafür. Es tut mir aufrichtig leid.«

»Nein, tut es nicht«, sagte Pauley und klang weinerlich.

»Ich glaube nicht an Folter und habe Ihnen kein Haar gekrümmt.«

»Guter Cop, böser Cop. So heißt es doch, oder?«

»Was?«

»Einer ist dein Feind, einer dein Freund.« Er sprach, als hätte er sich die Worte selbst wieder und wieder vorgesprochen, um sich vorzubereiten. »So machen sie das.«

»Waverly ist nicht meine Freundin«, verteidigte sich Kieran. Seine ganze Arbeit und die Versuche, eine Brücke zu diesem Mann zu bauen, waren zerschlagen. »Wir arbeiten nicht zusammen.«

Jake sah ihn mit ausdruckslosem Blick an.

»Ich werde Sie ärztlich versorgen lassen, ja?«, sagte Kieran.

Jake schloss die Augen und schirmte sie mit der Hand vor dem Licht ab.

Kieran trat aus der Zelle und verschloss die Tür hinter sich.

»Kieran, bitte«, sagte Seth. »Ich muss für ein paar Minuten hier raus. Nur um zu reden.«

»Fahr zur Hölle«, herrschte Kieran ihn an und verschwand.

Sobald er den neuen Wachen den Befehl erteilt hatte, ein medizinisches Team nach dem Gefangenen sehen zu lassen, ging Kieran zum Ratssaal. Erst als er Arthur mit den anderen am Tisch sitzen sah, wurde ihm klar, dass auch sein zuverlässiger Freund ihm nicht gesagt hatte, was mit dem Gefangenen passiert war, und als Arthur wiederum Kieran in der Tür stehen sah, wurde sein Gesicht mit einem Mal leichenblass, und er richtete den Blick auf seinen Schoß. Bald bemerkte auch der Rest ihn, und das Gespräch wurde zunächst zu einem Murmeln und endete schließlich in unangenehmem Schweigen.

»Hallo«, sagte Waverly zu ihm. Sie war die Einzige, die ihn herausfordernd ansah.

»Wie ich hörte, habt ihr die Brig aufgesucht«, sagte Kieran.

»Wir hatten das Recht dazu«, entgegnete Waverly und reckte das Kinn vor.

»Und Folter? Habt ihr auch das Recht dazu?«

Ihr Gesichtsausdruck veränderte sich; er konnte sehen, dass sie das Wort nicht mochte.

»Ich habe ihm keine bleibenden Schäden zugefügt.«

»Vielleicht nicht seinem Körper.«

»Ich habe getan, was getan werden musste.«

»Wir wenden auf diesem Schiff keine Folter an, hast du mir mal gesagt«, gab Kieran mit beunruhigend leiser Stimme zurück. »Du bist eine Heuchlerin.«

Waverly sah auf ihre Hände, die in ihrem Schoß miteinander rangen.

Schließlich meldete Arthur sich zu Wort. »Willst du gar nicht wissen, was wir herausgefunden haben?«

Kieran starrte seinen Freund an und war von seinem Betrug übermannt. Er hätte es nie für möglich gehalten, dass Arthur sich mit Waverly gegen ihn verbünden könnte.

»Kieran«, sagte Arthur, »Mathers Situation könnte politisch wackelig sein. Sie und die Kirchenältesten kommen nicht sonderlich gut miteinander aus.«

Kieran wollte den Wert dieser Information leugnen, aber das schaffte er nicht. Sie könnte sich als nützlich erweisen.

»Außerdem«, ergänzte Waverly, »werden unsere Eltern in der Kläranlage festgehalten.«

»Und?«

»Das ist kein schlechter Ort für einen Kampf«, sagte sie.

Kieran sah auf den Tisch und bemerkte, dass der Rat sich Pläne der New Horizon ansah.

»Wir werden nicht gegen sie kämpfen«, sagte er leise.

Im Raum war es totenstill, während sie ihn alle ansahen, bis Alia Khadivi schließlich sagte: »Du willst doch nicht vorschlagen, dass wir mit Anne Mather verhandeln sollen?«

»Es ist der einzige Weg«, sagte er. Sein Blick traf den von Arthur, doch der schaffte es nicht, ihm standzuhalten, und schaute stattdessen auf die Pläne vor sich.

»Sie wird dich austricksen, Kieran«, warnte Waverly ihn.

»Das glaubt sie auch«, sagte er.

»Sie wird uns nie geben, was wir haben wollen«, sagte jemand aus der Ecke. Kieran drehte sich um und sah, dass Sarah Hodges ihn anstarrte. Ihre roten Haare waren mit einem schludrigen Pferdeschwanz aus dem Gesicht gebunden. Zusammengesunken saß sie in ihrem Stuhl und starrte Kieran an, wie sie früher vielleicht ihren Physiklehrer angestarrt hatte. Sie gehörte nicht mal zum Zentralrat! Warum war sie in dieses lächerliche Treffen eingeweiht und er nicht?

»Ihr könnt einen Kampf gegen Mathers Crew nicht gewinnen«, sagte Kieran.

»Mit guter Planung können wir vielleicht …«, begann Waverly.

Er fiel ihr ins Wort. »Du sagtest schon, dass sie durchtrieben ist. Glaubst du wirklich, du könntest sie in einem Krieg besiegen?«

»Sie wird nicht damit rechnen …«, sagte Alia, aber Kieran fiel auch ihr ins Wort.

»Bei dem ursprünglichen Angriff hatte ich einen Platz in der ersten Reihe, und ich sage euch, Anne Mather ist taktisch versiert. Wir werden nie einen Kampf auf ihrem Territorium und gegen ihre Crew gewinnen. Nicht ohne dass ein Haufen Kinder dabei getötet wird. Seid ihr darauf vorbereitet?«

Seine Stimme dröhnte und wurde von den Glaseinsätzen in der Dachkuppel noch verstärkt. Die Sterne über ihnen sahen kalt aus und waren weit weg.

»Vielleicht hast du recht«, meinte Arthur schließlich. Er stand auf und legte eine Hand auf den Tisch. »Aber wir glauben, es besteht eine sehr gute Chance, dass Mather plant, dieses Schiff zu übernehmen, wenn wir uns treffen. Sie giert nach Macht, und wir wissen, dass sie auf New Earth eine Theokratie etablieren will, so wie sie es auf ihrem Schiff schon geschafft hat. Könntest du unter ihrer Herrschaft leben? Ich glaube, ich könnte es nicht.«

Kieran starrte Arthur bestürzt an. Dass er ihm öffentlich und vor seinen politischen Feinden die Stirn bot, war unverzeihlich.

Der Rat schien die Spannung zwischen den beiden Jungen zu spüren. Es entstand eine unangenehme Pause, während die Blicke der Ratsmitglieder von einem Gesicht zum nächsten wanderten, bis schließlich auch Waverly aufstand.

»Diplomatie könnte ein guter Plan A sein, Kieran, aber wir müssen uns auf das Schlimmste vorbereiten. Und genau das werden wir jetzt tun«, sagte sie leise und stellte Augenkontakt zu jedem Ratsmitglied her. Alle schwiegen, selbst Sarah.

»Dann ist das Plan B? Ihr sagt, ihr werdet erst angreifen, wenn meine Diplomatie scheitert?«

Waverly blickte in jedes Gesicht am Tisch. Zögernd nickten alle Ratsmitglieder.

»Gut, schmiedet eure kleinen Pläne«, sagte er in den Raum hinein, aber sein Zorn war direkt auf Arthur gerichtet. »Aber ich muss gut und lange nachdenken, bevor ich euch Zugang zu den Waffen gebe.«

»In Ordnung«, sagte Waverly geheimnisvoll lächelnd.

Das alarmierte ihn, aber er versuchte, es sich nicht anmerken zu lassen. Er wirbelte auf den Hacken herum, um zur Kommandozentrale zurückzukehren, bevor sie noch etwas sagen konnten.

Als er dort eintraf, sah Sarek von seiner Kom-Konsole auf. Er wirkte aufgeregt. »Kieran, wir haben gerade eine riesige Vid-Datei von der New Horizon erhalten.«

»Schick sie in mein Büro«, sagte Kieran und rannte den Gang entlang. Mit zitternden Fingern tippte er den Code zu seinem Büro ein, flitzte zu seinem Schreibtisch und aktivierte die Datei.

Dutzende von Vorschaubildern füllten seinen Bildschirm – Gesichter, die er seit Monaten nicht mehr gesehen hatte –, und eine gewaltige Welle der Traurigkeit durchflutete ihn, erfüllte ihn mit Sehnsucht. Als er sie gezählt hatte, kam er auf sechsundvierzig Überlebende.

Nur sechsundvierzig? Von über dreihundertfünfzig Crewmitgliedern? Eine Zeitlang war er paralysiert von dem ungeheuren Ausmaß dieser Erkenntnis; sein Herz hämmerte ihm in der Brust, während die Kraft aus dem Rest seines Körpers zu weichen schien. Er hatte zwar gewusst, dass ihre Verluste gigantisch waren, aber … es fiel ihm schwer zu begreifen, dass über dreihundert Menschen, die er sein gesamtes Leben lang gekannt hatte, binnen weniger Minuten ausgelöscht worden waren. Er rief sich die schrecklichen Momente im Steuerbord-Shuttle-Hangar wieder in Erinnerung, seine Hilflosigkeit, als er versuchte, die Leute zu überzeugen, den Shuttle-Hangar nicht zu stürmen, dass dies eine Falle war … und dann das Grauen, als die Tore der Luftschleuse sich öffneten und fast alle ins Vakuum des Alls und in den Tod hinausgesogen wurden, wo sie bis in alle Ewigkeit in der Kälte rotieren würden. Niemals würden sie aufhören, sich zu drehen, zu tanzen, würden nicht verwesen, würden einfach tot sein, und ihre Augen …

Hör auf damit, Kieran.

Er atmete ein paarmal tief ein, bis das alte Gefühl des Schocks und Verlusts abflaute, und zwang sich, jedes Vorschaubild genauer anzusehen. Jetzt, da der so lang ersehnte Augenblick endlich gekommen war, wurde ihm klar, dass er sich davor fürchtete, die Wahrheit zu erfahren. Wenn das Gesicht seiner Mutter nicht unter den Überlebenden war …

Regina Marshall, Harvard Stapleton, Kalik Hassan, Gunther Dietrich – die Gesichter von Eltern seiner Freunde tauchten auf, und bei jedem war er erleichtert. Dennoch scrollte er mit stetig schwächer schlagendem Herzen durch die Bilder und spürte, wie heiße Tränen unter seinen Augenlidern brannten. Sie war nicht dabei. Das Gesicht seiner Mutter war nicht unter den Überlebenden. Auch nicht das seines Vaters. Aber das hatte er erwartet.

Am unteren Bildschirmrand war ein Vorschaubild von Mathers Gesicht, das er nun anklickte.

»Das sind alle Überlebenden von der Empyrean auf unserem Schiff, Kieran, bis auf einen«, sagte sie mit gespieltem Bedauern. »Ich halte das Video deiner Mutter zurück, bis ihr uns an den Koordinaten trefft, die ich dir jetzt übermitteln werde.«

Der Bildschirm wurde schwarz.

Seine Mutter war am Leben. Sie lebte! Aber schnell erkannte er die andere Seite der Botschaft: Sein Vater lebte nicht mehr.

Er hatte schon lange vermutet, dass sein Vater den ersten Angriff nicht überlebt hatte. Aber es sicher zu wissen … ließ ihn innerlich erfrieren.

Er konnte sich jetzt nicht mit seinen Gefühlen auseinandersetzen. Er wollte weinen. Er wusste, er sollte weinen oder schreien. Aber stattdessen spielte er die Videos der Gefangenen eines nach dem anderen ab und hielt Ausschau nach Zeichen von Nötigung. Alle Gefangenen sahen gut ernährt und trotz der eingefallenen Gesichter sauber aus, und alle sprachen direkt in die Kamera, sagten ihren Kindern, wie sehr sie sie liebten, dass sie sich keine Sorgen machen sollten und bald bei ihnen sein würden.

Harvard Stapletons Video war besonders eindringlich. Der Mann war um Jahre gealtert, hatte tiefe Furchen unter seinen blutunterlaufenen Augen. Auch seine Stimme hatte sich verändert, war heiserer, schwächer und trauriger geworden. Kieran empfand tiefes Mitleid mit ihm. Harvard hatte dieses Video für eine Tochter und eine Frau aufgenommen, die schon seit Monaten tot waren.

»Du bist stark, Samantha«, sagte Harvard tapfer. »Ich sorge mich nicht um dich. Ich weiß, dass du es geschafft hast und dass es dir gutgeht. Aber ich weiß, dass deine Mutter und du euch um mich sorgt. Mir geht es gut. Es war hart, aber sie geben uns zu essen und versorgen uns medizinisch. Rein körperlich geht es mir gut. Das Schlimmste ist, dass ich dich und deine Mom vermisse. Ich kann es kaum erwarten, eure Gesichter wiederzusehen.«

Kieran vergrub sein Gesicht in den Händen und weinte um die zerstörten Familien, um die jungen Seelen, die durch das, was passiert war, so tiefe Narben davongetragen hatten. Und er weinte um die Zukunft. Er hatte seinen Ängsten, was als Nächstes passieren würde, noch nie freien Lauf gelassen, aber nun konnte er sie nicht mehr zurückhalten. Wie sollte er das durchhalten? Wie sollte er sie zurückholen? Und selbst wenn er es schaffte, wie sollten sie jemals auf New Earth Seite an Seite mit jenen Menschen leben, die so viele Leben zerstört hatten?

Gegen Ende der Videos hatte sein Verstand sich wieder auf bekanntes Territorium begeben. Er musste Dinge angehen und Aufgaben erledigen und durfte nicht zulassen, dass sein Kummer ihm bei dem Job, den er hier zu tun hatte, in die Quere kam. Er leitete die Videodateien an Sarek weiter und gab ihm Anweisungen, die Familien der Gefangenen zu kontaktieren, damit sie sie ansehen konnten. »Aber sag ihnen nicht, dass das alle Gefangenen sind.«

»Das sind alle?«, fragte Sarek ungläubig.

Kieran sah die weit aufgerissenen Augen des Jüngeren auf seinem Monitor. »Ja.«

Sarek schüttelte mit offenem Mund den Kopf.

»Ruf die New Horizon«, sagte Kieran. Sarek rührte sich nicht. »Sarek?«

»Okay.«

Erst als das Kom nicht mehr blinkte, realisierte Kieran, dass Sarek gerade erfahren hatte, dass seine Mutter tot war. Und dass er, Kieran, nicht ein Wort des Beileids geäußert hatte.

Ich werde es wiedergutmachen, dachte er, aber er hatte das Gefühl, die Chance für immer vertan zu haben, Sarek zu sagen, wie leid es ihm tat, und auch erhört zu werden. Ich werde knallhart. Ich bin nicht mehr der gleiche Mensch.

Sein Kom-Link piepste, und er erblickte ein weiteres Mal das verhasste Gesicht von Anne Mather. Sie erfasste seinen düsteren Gesichtsausdruck und hob eine Augenbraue. »Davor hatte ich Angst. Dass diese Videos Dämonen wecken.«

Kieran ignorierte ihre Worte. »Ich habe mir die Koordinaten angesehen, die Sie mir geschickt haben, und sie kommen mir akzeptabel vor. Wir setzen heute Nacht Kurs auf den Treffpunkt und sollten in wenigen Tagen dort ankommen.«

»Sobald ich eure Kursänderung bestätigt habe, sende ich dir die letzte Datei.« Sie bewegte sich, um die Verbindung zu trennen, aber Kieran ging schnell dazwischen.

»Ich habe über Ihre Bedingungen eines Abkommens nachgedacht.«

Bei diesen Worten flimmerten ihre Augen.

»Ich kann nicht zustimmen, dass Sie immun gegen strafrechtliche Anklagen sein sollen«, sagte er.

Sie lehnte sich in ihrem Sitz zurück, die Augen zu Schlitzen verengt. »Meine Leute werden sehr enttäuscht sein.«

»Oh, das glaube ich nicht.« Er spuckte jedes Wort aus wie eine bittere Saat.

Ihr Gesichtsausdruck ließ keine Regung erkennen, doch ihre Wangen wurden bleich.

»Wissen Sie, Pastorin Mather«, sagte er mit leiser Boshaftigkeit, »ich glaube, in Ihrer Crew gibt es viele Leute, denen nicht gefällt, was Sie der Empyrean angetan haben.«

»Sie verstehen, dass ich getan habe, was ich tun musste.«

»Sie verstehen, dass Sie zweihundert Kinder zu Waisen gemacht haben?«, fragte Kieran. »Dann wäre Ihre gesamte Crew moralisch so verkommen, wie Sie es sind. Und das halte ich für unwahrscheinlich.«

Ausnahmsweise schien sie nicht zu wissen, was sie entgegnen sollte; ihr Mund stand offen, und sie starrte auf den Bildschirm, die Augen zwei wässrige Kugeln.

»Sie müssen sich jetzt entscheiden, wie heuchlerisch Sie sein wollen. Werden Sie das gesamte Friedensabkommen aufgrund der einen Bedingung, dass Anne Mather über dem Gesetz stehen soll, aufs Spiel setzen?«

»Ich …«

»Wie wird das auf Ihre Crew wirken?«

»Halt, warte kurz.«

»Was glauben Sie, wie das in den Geschichtsbüchern aussehen wird?«

Sie schwieg. Ihr Gesicht war erstarrt, als sie ihn erneut ansah. Ich habe sie überrascht, erkannte er. Sie ist es nicht gewohnt, überrascht zu werden.

»Gut, Mr. Alden«, sagte sie und hatte ihre kühle Fassung bereits zurückgewonnen. »Sie haben sich Gehör verschafft.«

»Wir werden bei null anfangen. Ich werde meine Bedingungen für einen Frieden übermitteln. Und wir werden erst darüber diskutieren, wie mit Ihren Kriegsverbrechen umgegangen wird, wenn jedes einzelne Crewmitglied der Empyrean sicher auf mein Schiff zurückgekehrt ist. Habe ich mich klar ausgedrückt?«

Er registrierte ihr verblüfftes Gesicht. Noch ehe sie antworten konnte, unterbrach er die Verbindung.

Sternenfeuer: Vertraue Niemanden: Roman
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