Die Dissidentin

Waverly stand aufrecht, als Arthur am nächsten Tag kam, um sie und Sarah aus der Arrestzelle herauszulassen. Er wirkte beschämt, als er die Metallriegel mit einem Knall beiseiteschob und die Zellentür öffnete.

»Es steht euch frei zu gehen«, murmelte er, seine Augen starr auf den Boden gerichtet.

Sarah ging an ihm vorbei, ohne ihn auch nur eines Blicks zu würdigen, doch Waverly hielt inne und schaute ihn an.

»Weißt du, was er mit ihr getan hat, als ich ihn hier unten fand?«, sagte sie, die Stimme triefend vor Abscheu. »Er hat sie bedroht!«

»Ich habe davon gehört«, sagte Arthur ruhig.

»Er ist außer Kontrolle!«, rief Waverly.

Arthur gebot ihr Einhalt. »Er hat sie nicht verletzt.«

»Das rechtfertigt aber nicht …«, begann sie, war jedoch zu zornig, um ihren Satz zu beenden.

Arthur presste die Lippen aufeinander und warf Matt Allbright einen nervösen Blick zu. Matt stand in dem Gang außerhalb der Zelle, die Hände hinter dem Rücken verschränkt, und es war offensichtlich, dass er ihnen genau zuhörte. Arthur winkte Waverly, ihm aus der Zelle heraus zu folgen, und gemeinsam gingen sie an Matt vorbei, den Korridor hinunter und auf die Aufzüge zu.

Außerhalb von Matts Hörweite griff Arthur nach ihrem Arm und flüsterte ihr leise ins Ohr: »Ich stimme dir zu. Kieran war neben der Spur – aber Sarah ebenso.«

»Sie hat sich wie eine Idiotin verhalten«, bestätigte Waverly. »Aber wir können Leute nicht einfach bedrohen! Oder sie ohne eine Verhandlung in eine Zelle werfen!«

»Auch hier stimme ich dir zu.« Arthur sprach durch den Mundwinkel. »Hast du Kierans Durchsage gestern gehört?«

»Ich hatte gar keine andere Wahl. Er hat sie in unsere Zelle hineingebrüllt.«

»Dann weißt du, dass er dich und Sarah im Grunde als Helfershelfer des Terroristen dargestellt hat.«

Seine Tonlage war neutral, und Waverly war sich nicht sicher, ob er ihr drohen oder sie warnen wollte. »Wir können nicht zulassen, dass das so weitergeht, Arthur.«

»Wir tun alle unser Bestes«, sagte er. Er klang erschöpft, drückte den Knopf des Aufzugs und fuhr sich mit der Zunge über die schweißbedeckte Oberlippe. »Ich weiß, dass du wütend auf Kieran bist. Das geht mir ebenso. Aber wir müssen vorsichtig sein.«

»Vorsichtig wie in ›Zettle bitte keine Meuterei an‹?«, fragte Waverly, als die Türen sich öffneten und beide aus dem Fahrstuhl traten. Aus den Augenwinkeln bemerkte sie Arthurs Blick, als sie den Code zur Ebene mit den Wohnquartieren eingab. War er geschickt worden, um zu überprüfen, wohin sie ging? »Kieran hat zu viele Geheimnisse. Ein Zentralrat würde hier Abhilfe schaffen.«

»Und möchtest du Teil dieses Zentralrats sein?«, fragte Arthur mit ausdruckslosem Gesicht.

»Nein. Aber ich werde es sein.«

Arthur legte den Kopf schräg und sah sie an. »Du weißt, was seine Unterstützer über dich sagen werden, oder?«

»Dass ich Terroristen unterstütze?«

»Genau.« Sein Gesicht verdüsterte sich. »Und dass du es warst, die ihre Eltern hätte retten sollen, und dass du versagt hast.«

Waverly fühlte sich, als hätte er sie in den Magen geboxt, aber vielleicht hatte er trotzdem recht. Vielleicht würde sie nicht einmal zur Wahl aufgestellt werden.

»Schau«, sagte Arthur und sah sie mit seinen durch die Brillengläser vergrößerten blauen Augen bittend an, »es ist ja nicht so, dass ich nicht auch schon über eine Wahl nachgedacht hätte.«

Die Fahrstuhltüren öffneten sich, aber Waverly blieb stehen und schaute ihn traurig an. Nach ihrer Unterhaltung im Shuttle hatte sie geglaubt, einen Verbündeten gefunden zu haben, jemanden, der ihr ebenbürtig war. Jetzt aber wusste sie, was sie von ihm zu halten hatte.

»Leb wohl, Arthur«, sagte sie, als sie den Fahrstuhl verließ.

Arthur schien noch etwas sagen zu wollen, aber dann nickte er nur, und die Türen schlossen sich zwischen ihnen.

Tief in Gedanken versunken ging sie den Korridor hinab. Als sie die Tür zu ihrem Wohnquartier erreichte, gab sie blind ihren Schlüsselcode ein und ging direkt ins Wohnzimmer.

Sofort fiel ihr auf, dass irgendetwas nicht in Ordnung war. In dem dunklen Raum hing ein erdiger Geruch, der nicht hierhergehörte. Jemand war hier.

Sie griff nach dem Kricketschläger, den sie neben der Tür postiert hatte, und schaltete vorsichtig das Licht an. Dann blinzelte sie, unfähig zu glauben, was ihre Augen ihr zeigten: Ein Mann lag auf ihrer Couch. Ein Mann, dessen Gesicht eine Ansammlung blutiger Striemen und geschwollener Hautpartien war und der sich jetzt auf seinem Ellbogen aufrichtete. Sie suchte nach einem Schrei in ihrem Inneren, war aber wie gelähmt.

Der Mann auf ihrer Couch öffnete den Mund und sagte: »Wenn du willst, gehe ich wieder.«

»Seth«, flüsterte sie und ließ den Schläger sinken. »Seth, o mein Gott.«

»Ich brauchte einen sicheren Ort.«

Sie schloss die Tür hinter sich und rannte zu ihm, kniete auf dem Boden nieder, legte ihre Hand auf seine geschwollene Stirn. Ein schluderig angebrachter, blutgetränkter Verband bedeckte die Oberseite seines Kopfes. »Was ist mit dir passiert?«

»Ich glaube, ich habe unseren blinden Passagier getroffen«, nuschelte er. Seine Unterlippe war aufgesprungen und angeschwollen wie ein purpurfarbener Ballon. »Netter Kerl.«

Seth erzählte ihr, dass er in dem Labor aufgewacht und hierhergekommen war, um sie um Hilfe zu bitten. An den Angriff selbst konnte er sich nicht mehr gut erinnern. Sie konnte sehen, dass allein schon das Reden eine Qual für ihn war und dass er große Schmerzen litt.

»Du gehörst auf die Krankenstation.«

»Nein, bitte.« Er griff nach ihrer Hand, schloss seine Finger um ihre und drückte sie. »Ich kann nicht wieder zurück in die Brig.«

Sein Gesicht war derart angeschwollen, dass er kaum mehr wiederzuerkennen war, aber als Waverly mit ihren Fingern über seine Wange strich, fühlte seine Haut sich kühl an.

»Ich glaube nicht, dass du Fieber hast. Keine Infektion, immerhin.«

»Hast du irgendwelche Schmerzmittel?«

»Ich glaube schon«, sagte sie und ging ins Badezimmer, um nachzusehen. Sie fand eine Flasche eines starken Medikaments, das ihre Mutter immer genommen hatte, wenn sie Migräne hatte, und es durchfuhr sie wie ein Schlag. Was, wenn ihre Mutter einen Migräneanfall auf der New Horizon bekäme? Sie drängte die Tränen zurück und ging wieder in das Wohnzimmer.

»Hier«, sagte sie und reichte Seth drei Pillen, die er auf einmal hinunterschluckte. »Dein Gesicht sieht übrigens aus wie ein Hamburger.«

»Nicht jeder von uns kann eine Schönheitskönigin sein«, entgegnete er, ohne zu zögern. Trotz seiner Verletzungen schien er froh zu sein, sie zu sehen.

Sie unterdrückte ein Lächeln und ging in die Küche, wo sie eine kleine Schale mit Seifenwasser füllte. Dann setzte sie sich neben ihn auf den niedrigeren Couchtisch, einen feuchten Waschlappen in der Hand, und begann, das Blut von seinem Gesicht zu streichen. Darunter war seine Gesichtsfarbe grau, und er wirkte abgehärmt.

»Wie bist du aus der Zelle herausgekommen?«

»Der blinde Passagier hat mich rausgelassen, da bin ich mir ziemlich sicher.«

»Was?« Waverly war so überrascht, dass sie den Waschlappen fallen ließ, der auf seiner Brust landete. »Aber wieso?«

»Ich glaube, ich war sein Lockvogel.«

»Kieran dachte, ich hätte dich rausgelassen.«

»Und das war Auslöser für euren Streit?«

Sie zuckte mit den Achseln. »Wir haben uns vor einiger Zeit getrennt.«

»Das tut mir leid«, sagte er aufrichtig. »Wenn es irgendeinen anderen Ort gegeben hätte, an den ich hätte gehen können …«

Sie versuchte seinen Gesichtsausdruck zu deuten, hielt Ausschau nach irgendeinem Hinweis, dass er glücklich darüber war, dass sie und Kieran sich getrennt hatten. Sie fand keinen. Sein Gesicht war eine einzige Grimasse des Schmerzes. »Kannst du dich weit genug aufsetzen, um dich auszuziehen?«

»Zeit für den Waschlappen?« Er brachte ein Grinsen zustande.

»Du hast Glück. Ich befördere dich nicht mit dem Müll zur Tür hinaus«, sagte sie, hielt den Waschlappen aber weiterhin in der Hand und wartete.

Er setzte sich auf, stöhnte, schälte sich aus seinem blutverkrusteten Shirt. Sie schnappte nach Luft. Seine Brust war übersät mit scheußlichen blauen Flecken und Schürfwunden. »Was um alles in der Welt hat er bloß mit dir getan?«

»Er hat mich mit seinen Bärenkräften umarmt«, sagte er mit einem Ächzen.

Schnell und effizient führte Waverly den seifengetränkten Waschlappen über seine Schultern, den Rücken hinab, über den Unterleib und die Rippen entlang, wobei sie bei einem schlimmen Bluterguss an seiner Seite besondere Vorsicht walten ließ. Sie wusste, dass er sie dabei beobachtete, aber sie sah ihn nicht an. Sie konnte es nicht. Zu sehr war sie sich ihres schnellen Atems bewusst. Es war vollkommen selbstverständlich, ihm zu helfen, und dennoch fühlte sie sich unbeholfen dabei. Auch sein Atem ging schneller, und sie beobachtete, wie sein Brustkorb sich hob und senkte. Sein Geruch war herb, aber angenehm, wie Osterluzei, und sie ertappte sich dabei, wie sie ihn tief einatmete, während sie seinen Körper säuberte.

»Und jetzt zu der unteren Hälfte«, sagte er und sah sie dabei direkt an.

Sie reichte ihm lediglich den Waschlappen. »Ich werde mal nachsehen, ob ich irgendetwas finde, das dir passt.«

Sie ging in das Zimmer ihrer Mutter, schaltete das Licht ein und schrie dann entsetzt auf, als sie das blutige Laken sah. »Was hast du getan?«

»Es tut mir leid«, sagte Seth. Er klang beschämt. »Ich wusste nicht, in welchem Raum ich war. Ich wechselte auf die Couch, als ich es bemerkte.«

»Das ist das Bett meiner Mutter.«

Mit zitternder Oberlippe ging Waverly an dem verschmutzten Bett vorbei zum Wandschrank, wo sie eine Trainingshose ihrer Mutter und ein altes Shirt ihres Vaters fand, das Regina aufbewahrt hatte. Sie ging ins Wohnzimmer zurück und gab die Sachen Seth. Mit zitternden Beinen richtete er sich auf, um sich anzuziehen, aber dann brach er mit einem Wimmern erneut auf dem Sofa zusammen.

»Du bist wirklich schwer verletzt«, murmelte sie.

»Das ist mir bewusst.«

Sie widerstand dem Impuls, ihm das Haar aus den Augen zu streichen, und setzte sich stattdessen in den Sessel, die Hände in ihrem Schoß gefaltet. »Wie sah der Terrorist aus?«

»Alles, was ich gesehen habe, war das Blut in meinen Augen.« Er lehnte sich zurück, den Blick an die Decke gerichtet. »Ich erwachte im Chemielabor. Vermutlich bin ich dorthin gegangen, um zu duschen.«

»Aber was sollte er im Chemielabor zu schaffen haben?«

Seth setzte sich mit einem Ruck auf, blinzelte und fiel erneut auf der Couch in sich zusammen. »Ich fasse es nicht, dass ich das vergessen habe«, keuchte er atemlos.

»Was vergessen?«

Er sah sie an. Ihre Blicke trafen sich, und ein langer Moment verging. Dann erzählte er ihr von seinem Verdacht und was er dort gefunden hatte. Von der Sprengstoffküche.

»Besser, du berichtest Kieran davon«, sagte er schließlich resigniert.

»Okay«, meinte sie, bleich im Gesicht. »Und was sage ich ihm?«

»Du bist eine kluge Frau«, sagte er. Er hatte die Augen geschlossen. »Erfind eine Lüge.«


Waverly verließ ihr Apartment und ging den Korridor hinab, während sie stumm einstudierte, was sie sagen würde. Als sie den Flur in Richtung der Kommandozentrale erreichte, passierte sie eine Gruppe von neun- bis zwölfjährigen Mädchen, angeführt von Marjorie Wilkins. Als sie an ihnen vorüberging, zog Marjorie einen Armreif aus einem kleinen Korb, dessen Henkel sie sich über den Arm gehängt hatte. »Möchtest du einen unserer Armreifen tragen und so zeigen, dass du Kieran unterstützt?«, sagte sie. Sie lächelte nicht dabei. Die anderen Mädchen wandten sich zu Waverly um, um zu sehen, wie sie reagieren würde.

Waverly spürte die Herausforderung hinter Marjories Worten und ärgerte sich darüber. »Nein, danke.«

»Weil du eine Kollaborateurin bist? Eine Verräterin?«, schoss eines der Mädchen zurück. Seine Lippen waren schmal und rot und zerteilten das Gesicht wie eine Schnittwunde.

»Kollaborateurin für wen?«, fragte Waverly, die Arme vor der Brust verschränkt.

»Seth Ardvale«, sagte Marjorie mit bedeutungsvollem Blick. »Jeder weiß, dass du ihm hilfst.«

Waverly fühlte sich, als würde sie den Boden unter den Füßen verlieren, aber es gelang ihr, eine ausdruckslose Miene zu bewahren. Sie kann es unter gar keinen Umständen wissen, sagte sie sich. »Das ist doch lächerlich.«

»Aber jeder weiß, dass du Seth hinter Kierans Rücken in der Arrestzelle besucht hast.«

»Das geht niemanden außer mich etwas an«, sagte Waverly. Sie versuchte, sich an den Mädchen vorbeizuschieben, aber eine von Marjories Freundinnen – eine kleine, unbedeutende Person namens Melanie – schnitt ihr den Weg ab. Mit einem schiefen Grinsen richtete sie ihren Blick bedeutungsvoll zu der Wand rechts von Waverly.

Sie sah ihren eigenen Namen, der dort auf die Wand geschrieben war. Neben dem Namen war ein Pfeil aufgemalt, der auf ein Bild deutete. Und auch wenn Waverly wusste, dass sie den Mädchen diese Genugtuung nicht gönnen sollte, schaute sie es sich an.

Das Bild zeigte ein Strichmännchen mit langem, wehendem Haar, das vor einem anderen Strichmännchen mit einer großen Erektion auf dem Boden kniete. Die Bildunterschrift lautete Verräter plus Verräterin gleich wahre Liebe.

»Wer hat das gemalt?«, verlangte sie zu wissen.

Marjorie zuckte nur mit den Schultern. »Es war schon hier, als wir kamen.«

Waverlys Blick wanderte von Mädchen zu Mädchen. Sie erwiderten ihren Blick mit einem unverschämten Grinsen. Waverly fühlte sich wie aus Glas. Sie sind noch Kinder, beschwor sie sich selbst. Aber wie viele Mitglieder der Crew würden dasselbe wie diese Mädchen denken?

Sie bahnte sich einen Weg durch die Gruppe und ging weiter zur Kommandozentrale, wo sie auf den Summer drückte. Die Tür öffnete sich nahezu augenblicklich, und sie schaute sich zu Marjorie um, die deutlich sichtbar neidisch war, dass Waverly einfach so in die Kommandozentrale vorgelassen wurde.

Im Inneren der Zentrale erhob sich Kieran sofort aus seinem Kapitänsstuhl und sah sie an, als warte er auf eine überraschende Bewegung ihrerseits. Arthur erstarrte sichtlich.

»Ich werde nicht viel eurer Zeit in Anspruch nehmen«, wandte sie sich kühl an Kieran.

Er deutete auf einen der Stühle. »Nimm Platz.«

Waverly setzte sich. »Ich war gestern im Chemielabor, und dort habe ich etwas gesehen, das dort nicht hinzugehören schien. Seitdem lässt mich der Gedanke nicht mehr los, also dachte ich, du solltest davon wissen.«

»Okay …«, entgegnete Kieran gedehnt. Er faltete seine Hände und wartete darauf, dass sie fortfuhr.

Ihr fiel auf, dass sie nicht die geringste Idee hatte, was genau Seth eigentlich gesehen hatte. »Ich glaube, es ist besser, wenn ich es dir einfach zeige.«

Kieran betrachtete sie eine Weile abschätzend, dann erhob er sich. »Dann los.«

»Vielleicht sollten wir einige der Wachen mitnehmen«, sagte sie mit zitternder Stimme.

»Wir kommen schon klar«, meinte er.

Am liebsten hätte sie auf Geleitschutz bestanden, aber sie wusste, dass das befremdlich wirken würde.

Es fühlte sich seltsam an, mit Kieran den Korridor entlangzugehen – Seite an Seite, ganz so wie früher. Er drückte den Fahrstuhlknopf und warf ihr immer wieder von der Seite Blicke zu. Sie gab vor, es nicht zu bemerken, und versuchte ihre Angst nicht zu zeigen.

Die Ebene mit den Laboratorien lag im Dunkeln, und Kieran ging zu einer der Steuerkonsolen und schaltete die Lichter ein. Dann trotteten sie gemeinsam den Korridor hinunter. Waverly versuchte, so leise wie möglich zu atmen. Als sie die Tür zu dem Labor erreichten, öffnete Kieran sie selbstsicher und ging hinein.

Das Labor war makellos sauber wie immer. Jede Oberfläche glänzender, rostfreier Edelstahl. Das Waschbecken war fleckenlos und trocken, als wäre es seit Wochen nicht genutzt worden. Alle Mülleimer waren leer. Verzweifelt sah Waverly sich in dem Raum um, auf der Suche nach irgendeinem Anzeichen für das, wovon Seth erzählt hatte. Einer Bombenwerkstatt. Aber da war nichts.

»Was genau hast du gesehen?«, fragte Kieran. Er sah sie aufmerksam an, seine Stimme war ruhig.

»Ich … es sah aus wie ein naturwissenschaftliches Experiment«, stammelte Waverly. »Bechergläser und Reagenzgläser …«

Kieran ließ seinen Blick durch das makellose Labor wandern. »Wo genau?«

»Auf dem Tisch.« Sie konnte spüren, wie sie rot wurde, und gab vor, nicht zu bemerken, dass Kieran sie aufmerksam studierte.

»Wo genau auf dem Tisch?«

Sie deutete wahllos auf einen Platz nahe dem Waschbecken, und Kieran ging zu der Stelle hinüber. »Wann hast du das gesehen?«

»Ich weiß nicht. Gestern Morgen«, sagte sie und hätte sich am liebsten selbst in den Hintern getreten. Wie dumm konnte man sein? Jede ihrer Lügen war offensichtlicher als die vorherige.

Er kam zurück und stellte sich am Eingang neben sie, seinen Blick auf sie gerichtet. »Stehst du in Kontakt mit Seth Ardvale?«

Die Kehle wurde ihr eng, und sie starrte ihn an, ihre Gedanken rasten. »Ganz ehrlich, Kieran?«, sagte sie und täuschte Ärger vor, um ihre Angst zu verbergen. »Darum also geht es dir?«

»Am heutigen Morgen haben wir eine Videoaufnahme von Seth gefunden. Sie zeigt ihn, wie er am gestrigen Tag diesen Raum verließ. Er sah ziemlich zusammengeschlagen aus. Als wir hier herunterkamen, sah es in dem Labor bereits genauso aus wie jetzt. Wie sonst solltest du davon wissen können, wenn nicht durch ihn?«

»Nun, ich habe Seth nicht gesehen«, sagte sie und starrte ihn trotzig an, damit er erst gar nicht auf die Idee kam, ihr zu widersprechen. Sie studierte sein Gesicht auf der Suche nach irgendwelchen Anzeichen, dass er wusste, dass Seth sich in ihrem Apartment aufgehalten hatte, aber als er schließlich die Augen niederschlug, erkannte sie, dass seine Aussagen nichts als Vermutungen waren.

»Alles, was ich tun muss, um herauszufinden, ob du lügst, ist, die Videoaufzeichnungen zu überprüfen.«

Sie verfluchte sich selbst dafür, nicht daran gedacht zu haben, aber jetzt war es nicht mehr zu ändern. Das Beste, das ihr jetzt noch zu tun einfiel, war, das Thema zu wechseln. »Warum tust du so, als würde Seth gemeinsame Sache mit dem Terroristen machen?«

Kierans Lippen wurden schmal. »Im Augenblick klingt das für mich nach der logischsten Erklärung.«

»Seth würde niemals mit jemandem von der New Horizon zusammenarbeiten, und das weißt du auch.«

»Er ist zu allem in der Lage, Waverly«, sagte Kieran ruhig, und seine Stimme klang herablassend. Aber er log. An der Art, wie er schuldbewusst zu Boden sah, konnte sie sehen, dass er selbst nicht glaubte, was er sagte.

»Er ist kein Verräter«, spuckte sie ihm entgegen.

»Er hat seinen Captain angegriffen«, sagte er mit erhobener Stimme.

»Du bist nicht Captain!«, schrie sie so laut, dass die Metallwände um sie herum vibrierten. »Du bist niemals zum Captain gewählt worden!«

»Du hast zugesagt, mich zu unterstützen!«, rief er und deutete mit dem Finger auf sie. »Jetzt verhältst du dich nur noch verantwortungslos. Wenn Zwietracht zwischen den Anführern dieses Schiffs herrscht, ist das schlecht für die Moral.«

»Ohne eine Wahl gibt es keine Anführer, Kieran!«

Kierans Lippen bebten, wie sie es immer taten, wenn er nervös war. »Es gab seit Ewigkeiten keine Wahlen mehr auf diesem Schiff«, hauchte er. »Und mit einem Terroristen an Bord, der frei herumläuft –«

»Du benutzt den Terroristen, um deine politischen Ziele durchzusetzen, Kieran. Und das ist nur noch … nur noch …« Sie spürte, wie ihr die Tränen in die Augen schossen, und blinzelte sie zornig fort. »Ich meine, wie kannst du nur sagen, dass Sarah und ich –«

»Sie hat ihnen dabei geholfen, sich zu verbergen! Indem sie sich mir widersetzt hat, hat sie Seth und dem Terroristen Zeit gegeben, um –«

»Sie wusste doch überhaupt nichts von einem Terroristen!«

»Sie wusste von Seth. Jeder wusste davon.«

»Und du hast ihn als Lockvogel benutzt.« Zornig durchschnitt ihre Hand die Luft zwischen ihnen. »Du hast die gesamte Crew gegen ihn aufgebracht.«

»Die Crew gegen einen gemeinsamen Feind zu vereinen ist ein Weg, die Crew zu beschützen. Wenn auf deinen Schultern eines Tages einmal eine ähnliche Verantwortung lasten sollte, wirst du sehen, dass –«

»Genau darum geht es, Kieran. Du bist der Einzige hier, der denkt, dass du die Verantwortung trägst.«

»Willst du es versuchen? Sehen, wie leicht es ist?«

»Genau das habe ich vor.«

Dann wandte sie sich ab und ließ ihn allein zurück, das Gesicht leer, die Schultern eingefallen.

Als sie den Korridor zu den Fahrstühlen hinunterging, sah sie nicht den schmalen Jungen, der sie durch das Glas der Tür zum Treppenhaus hindurch beobachtete. Sie sah nicht, wie er in den Korridor schlüpfte, als sie zu den Fahrstühlen weiterging, und so wusste sie auch nicht, dass er ihr bis zu ihrem Apartment folgte und sein schmaler Schatten in dem Augenblick, als sie die Tür zu ihrem Quartier schloss, in dem gegenüberliegenden Apartment verschwand.

Sternenfeuer: Vertraue Niemanden: Roman
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