Anhaltspunkte

Seth kauerte in einer Ecke eines Nadelbaumwäldchens hinter den Wacholderbüschen. Die Wärmelampen waren auf Frühling programmiert, aber es war noch immer kühl, etwa zehn Grad, und er zitterte. Im Augenblick war dies hier das bestmögliche Versteck. Zwei Stunden zuvor hatte er zwei von Kierans Wächtern die Farm betreten hören. Sie waren umhergegangen, hatten die nadelbehangenen Äste beiseitegeschoben und nach ihm gesucht. Er hatte ganz still dagelegen, hatte kaum geatmet, bis sie sich schließlich entfernt hatten und hinter einem Douglasfichtenwäldchen verschwunden waren. Seitdem hatte sich niemand mehr blicken lassen, und das hatte ihm etwas Zeit gegeben, um darüber nachzudenken, auf wessen Konto die Sache mit den Schubdüsen wirklich gehen konnte. Wer wollte, dass das Schiff vom Kurs abkam?

In Anbetracht der Tatsache, dass jeder Einzelne an Bord, selbst die Waisen, sich nichts sehnlicher wünschte, als die Gefangenen auf der New Horizon zu befreien, blieb nur noch eine weitere Möglichkeit, die zumindest irgendeinen Sinn ergab: Ein blinder Passagier der New Horizon war an Bord. Vielleicht sogar mehr als einer.

Seth rubbelte mit den Handflächen über seine Arme und genoss die Reibungswärme. Der erste Schritt, um den Saboteur zu finden, würde sein, herauszufinden, wie er es geschafft hatte, die Schubdüsen umzuprogrammieren. Das war nur von zwei Orten aus möglich: der Kommandozentrale oder dem radioaktiv verseuchten Maschinenraum.

Seth hätte sich der Kommandozentrale niemals auch nur auf anderthalb Kilometer nähern können, aber es war auch unwahrscheinlich, dass der Saboteur tatsächlich von dort aus agiert hatte – es sei denn, Sarek oder Arthur oder Kieran selbst hätten es getan. Unwahrscheinlich. Blieb also nur noch der Maschinenraum. Wenn Seth doch nur dorthin gelangen könnte. Die gesamte Sektion war abgeriegelt worden, um die Radioaktivität im Griff zu behalten. Was bedeutete, dass der einzige Weg in den Maschinenraum durch eine Außenluke führte. Das Hauptproblem daran war: Die Schotten des Maschinenraums waren dazu gedacht, Gas aufzunehmen und nicht Passagiere. Sie waren ja kaum groß genug, dass ein erwachsener Mensch sich durch die Öffnung pressen könnte. Aber in den Maschinenraum zu gelangen war nur die halbe Miete. Die gesamte Sektion war radioaktiv verseucht. Er wusste, dass die Ein-Mann-Shuttles mit Strahlenschilden und kleinen Sauerstofftanks ausgestattet waren. Wenn nur das Schott des Maschinenraums groß genug gewesen wäre, um ein EMS aufzunehmen! Seth lehnte sich zurück, verschränkte die Arme hinter dem Kopf und dachte nach.

Ein-Mann-Gefährte waren eine Art veredelter Raumanzüge. Aufgrund der äußeren Metallhülle, der Sauerstofftanks und des Raketenantriebs auf dem Rücken waren sie voluminös und etwas sperrig. Aber innerhalb des EMS diente eine Innenhülle als zweite Schutzschicht. Falls es möglich war, diese zweite Schicht von der äußeren, klobigeren abzutrennen, würde man nur mit dieser inneren Schutzschicht allein sicherlich durch das Schott des Maschinenraums passen.

Es war einen Versuch wert.

Seth stand auf, strich sich die Wacholdernadeln vom Körper und schlich zu dem verlassenen Korridor, den Laptop seines Vaters unter den Arm geklemmt. Als er sicher war, allein zu sein, sprintete er zum äußeren Treppenschacht, sieben Ebenen hinauf bis zum Steuerbord-Shuttle-Hangar, und schlüpfte durch die Tür.

Im Shuttle-Hangar war es gespenstisch still. Hier hatte der Großteil der Besatzung der Empyrean den Tod gefunden, und der Ort erschien Seth wie eine Grabstätte. Die Visiere der EMS, die entlang der Wände hingen, wirkten so unheimlich wie Totenmasken.

Er ging zu dem nächstgelegenen Ein-Mann, löste es mit Hilfe der entsprechenden automatischen Vorrichtung aus seiner Halterung und entfernte den Helm vom Rest des Anzugs. Dann schob er seine Hand zwischen den weichen Stoff und die harte äußere Hülle. Der Stoff hatte einen metallischen Schimmer und fühlte sich an wie flexibles Plastik, aber Seth wusste, dass er aus weiterentwickelten Karbonfasern bestand, die dem Gewebe eines Spinnennetzes nachempfunden waren. Es war der robusteste bekannte Stoff überhaupt, absolut luftdicht und mit dicken Bleifasern durchsetzt. Er würde ihn vor der Radioaktivität im Maschinenraum schützen, und wenn er sich erst einmal von den Lufttanks befreit hatte, blieb ihm innerhalb des Anzugs noch immer Sauerstoff genug für einige Minuten – genug, um sich umzusehen, aber nicht für viel mehr.

Er löste die Verbindungen, die die innere Hülle mit der äußeren verbanden, und zog sie durch die Halsöffnung heraus. Sie sah aus wie ein silberfarbener Arbeitsoverall. Seth schlüpfte hinein, und der bemerkenswerte Stoff dehnte sich und passte sich perfekt seiner hochgewachsenen Gestalt an. Dann setzte er den Helm auf die innere Hülle und lauschte dem automatischen Klick, mit dem er einrastete und den Anzug versiegelte. In seinen Ohren knackte es beruhigend, als die Druckdichtung einrastete. Er kletterte in die äußere Hülle des EMS, ließ jedoch die kleinen Verschlüsse zwischen der inneren und der äußeren Hülle geöffnet, so dass er, wenn es so weit war, leicht herausschlüpfen konnte.

»Diesmal haben die Ingenieure ihre Sache wirklich gut gemacht«, murmelte er.

Er ließ die Schubdüsen kommen, um das Gewicht des EMS zu verringern, öffnete die Sauerstoffventile der Tanks und ging mit schwerfälligen Schritten zu der kleineren Luftschleuse hinüber, die für die EMS gedacht war. Einmal in der Luftschleuse angekommen, fühlte er sich, als betrete er einen Sarg. Die schweren Metalltüren knallten hinter ihm ins Schloss, und als die Luftschleuse sich explosionsartig selbst neutralisierte, machte er in seinem Gefährt selbst einen kleinen Satz.

Dann spürte er, wie sich rund um die Hülle des EMS der Druckausgleich vollzog. Nun musste er nur noch das äußere Schott öffnen, und dann stünde nichts mehr zwischen ihm und dem Rest des Universums.

Er hatte es nie jemandem anvertraut, aber Weltraumspaziergänge machten ihm Angst. Nach dem Schaden, den Kieran an der Kuppel der Atmosphärenkontrolle verursacht hatte, hatte er mehrere dieser Außenmissionen absolvieren müssen, um die Sache wieder in Ordnung zu bringen. Dabei hatte er als eine Art Vorarbeiter agiert, der den anderen Jungen gezeigt hatte, wie sie die komplexen Werkzeuge nutzen und wo sie was reparieren sollten. Die ganze Zeit hindurch hatte er im Inneren seines Anzugs gezittert wie Espenlaub, kalter Schweiß war ihm aus jeder Pore getreten, und sein Herz war gerast vor Furcht. Das Gefühl der eigenen Winzigkeit im Angesicht der unendlichen, eiskalten Leere vor ihm ließ ihm die Galle die Kehle hochsteigen. Egal wohin er auch sah – dort gab es nichts zwischen ihm und der Ewigkeit.

Dieses Mal würde es schlimmer sein. Denn niemand wusste, dass er das Schiff verließ. Nur ein falscher Schritt, und er würde von der Empyrean forttrudeln. Und niemand würde kommen, um nach ihm zu sehen und ihm zu Hilfe zu eilen.

Er durfte sich nicht erlauben, weiter darüber nachzudenken.

»Ich habe keine Angst«, sagte er mit zitternder Stimme zu sich selbst, nahm einen tiefen Atemzug und öffnete das äußere Schott.

Und die Türen öffneten sich in die grauenvolle Schwärze des Alls. Die Sterne grenzten sich klar von dem schwarzen Hintergrund ab – winzige Punkte, so dicht gestreut, dass sie wie Gischt wirkten. Sie waren so unendlich weit entfernt. Seth schluckte die Galle hinunter, die ihm die Kehle hinaufstieß.

»Das ist nur der Himmel«, hatte sein Vater einst gesagt, als Seth ihm gestanden hatte, dass er sich fürchtete, ein EMS zu fliegen. »Wärst du auf einem Planeten, wäre es genau dasselbe. Keine Wände. Keine Fenster. Nur das Nichts über deinem Kopf.«

Seth hatte dazu nur genickt, weil er nichts Dummes hatte sagen wollen, aber tatsächlich verursachte ihm der Gedanke, auf der Oberfläche eines Planeten zu wandeln, ein schreckliches Gefühl von Höhenangst. Wenn er die Wahl hätte, sein ganzes Leben auf der Empyrean zu verbringen, würde er es vermutlich tun. Denn jetzt, am Rande des Schotts stehend und den Blick auf die Unendlichkeit gerichtet, hatte er fürchterliche Angst.

»Mach dir nicht in die Hose, Ardvale«, flüsterte er grimmig.

Und mit einem weiteren tiefen Atemzug tat er einen beherzten Schritt über den Rand der Plattform des Schotts hinaus.

Und dann fiel er! Nein – er fiel nicht, er blieb hinter seinem Heimatschiff zurück, die Nieten und Portale und die metallische Beschichtung der Empyrean zerflossen in einem beängstigenden Schleier aus Grau und Schwarz, als das Schiff ohne ihn weiterraste. Hilflos ruderte er mit den Armen – O Gott! O Gott! –, ehe ihm die Schubdüsen wieder einfielen. Er gab Gas und schrie, als das EMS nun mit einem Ruck auf die Empyrean zuschoss. Blitzschnell lenkte er das Gefährt wieder auf Abstand zu dem riesenhaften Schiff und schrammte nur rund einen Meter an einem Zusammenprall vorbei.

Seine Kehle war wie zugeschnürt. Einen Augenblick war er starr vor Entsetzen, aber er zwang sich, die Augen offen zu halten, schluckte erneut gegen die aufsteigende Galle an, während er mit Flughöhe, Fluglage und Kursausrichtung des Ein-Mann kämpfte, bis es ihm schließlich gelang, parallel zu dem großen Schiff zu fliegen.

Er donnerte auf die Schubdüsen-Steuerung, und schließlich gelang es ihm, das EMS im Tempo der Empyrean zu halten. Das Gefühl zu fallen schwand. Jetzt schwebte er nahe einem der Bullaugen. Ein Blick hindurch verriet ihm, dass er bis auf das Level des Regenwalds abgesunken war. Noch immer trennten ihn etliche Ebenen vom Maschinenraum am Fuß der Empyrean.

Seth nahm die Schubkraft zurück, nur ein wenig, so dass er langsam die graue Außenhülle des Raumschiffs entlangglitt. Aufmerksam beobachtete er die Hülle, konzentrierte sich auf die Nieten, die jede Walzblechplatte säumten, und dann auf die schmalen Schnittlinien zwischen den Abwasserkanälen und der Wasseraufbereitungsanlage. Er glitt über etwas hinweg, das eine endlose Reihe kleiner Bullaugen zu sein schien, und in jedem von ihnen suchte er nach den Umrissen eines menschlichen Gesichts, aber niemand schaute hinaus, als er vorbeischwebte. Er hätte glücklich sein sollen, dass niemand ihn sah, aber stattdessen fühlte er irrationalerweise Enttäuschung, und das machte ihm klar, wie allein er war.

Er schob den Gedanken fort und steuerte das EMS in Richtung Backbord. Er konnte die Unterseite der Empyrean spüren, die sich zu seinen Füßen ausdehnte wie ein Horizont. Er sah die Einstiegsluke in den Maschinenraum unter sich und griff nach der Steuerung der Schubdüsen, aber er tastete nur blind umher, und drückte stattdessen eine Schubdüse zur Einstellung der Fluglage.

Sein Körper rotierte wie verrückt, und einmal mehr fiel er, segelte in irrwitzigen Drehungen die Außenhülle entlang.

Hatte er geschrien?

Voller Panik riss er an der Notfall-Halteleine, und ein Seil schoss heraus, zielte in Richtung der Empyrean, ganz so, wie es vorgesehen war, aber er drehte sich noch immer, und die Kordel wickelte sich um seine Taille, verkürzte sich mit jeder Drehung. Als er zurückgerissen wurde, starrte er auf den gewaltigen Nebel, so dicht und still. Er hatte die Empyrean über vier Jahre hinweg eingehüllt, hatte das Schiff im Wesentlichen blind und taub gemacht und es der New Horizon so ermöglicht, ihnen hier für einen Überraschungsangriff aufzulauern. Nun wirkte das Nebelfeld so ruhig und erhaben, und er hielt den Atem an, als er die dünnen magentafarbenen Gasarme bestaunte, die sich aus dem Zentrum lösten, die Schatten aus bläulichem Grau, die sich immer wieder auffächerten, wo das Gas am dichtesten war.

Als sie in seinem Inneren gefangen waren, hatte Seth den Nebel gehasst, aber jetzt konnte er sehen, wie wunderschön er war.

Ich werde leben, sagte er zu sich selbst. Ich werde nicht hier draußen sterben.

Die gewaltigen Heckschubdüsen der Empyrean schoben sich in sein Sichtfeld, und Seth zwängte den Steuerhebel nach vorn, versuchte, das Heck zu erreichen, wusste, dass er von einem Ausstoß der Schubdüsen erwischt und auf der Stelle eingeäschert werden könnte. Er spürte bereits die Hitze auf seinem Gesicht, und ein dicker Schweißfilm bedeckte seine Haut. »Nein, bitte nicht«, wimmerte er.

Starr vor Entsetzen trieb er sein Fahrzeug, so schnell es ging, auf die Hülle zu, streckte die krallengleichen Greifarme seines Ein-Mann-Shuttles aus und betete stumm: »Komm schon, du Bastard, du Hurensohn. Lass mich leben.«

Er spürte, wie seine Greifarme das heiße Metall der Abluftstollen berührten, und aktivierte die magnetische Halterung, mit der man an der Außenhülle andockte.

Seth wusste nicht, wie lange er sich dort an der Außenhülle der Empyrean festklammerte, nach Atem rang und mit den Zähnen knirschte, während es ihm nur unter Aufbringung all seiner Willenskraft gelang, nicht vollkommen die Kontrolle über sich zu verlieren und in haltloses Schluchzen auszubrechen. Wieder und wieder warf sein Herz sich in wilden Schlägen gegen seinen Brustkorb.

»Du bist nicht tot«, sagte er immer wieder voller Zorn zu sich selbst. »Sei nicht so ein gottverdammter Feigling.«

Schweiß lief ihm in die Augen. Er überprüfte die Temperaturanzeige in seinem Helm; dort leuchtete ein rotes Warnsignal auf. Das Letzte, was er tun wollte, war, seinen Griff von der Hülle zu lösen, aber er musste es tun, weil er sonst vielleicht in Flammen aufgehen würde. Vorsichtig und bemüht, den richtigen Winkel zu treffen, drehte er den Arm, bis seine Schubdüsen wieder nach unten ausgerichtet waren. Dann aktivierte er die Schubdüsen, bis er die altbekannte Kraft unter den Sohlen seiner Füße spürte.

»Eins, zwei, drei«, flüsterte er, und die Halterung des Magnetarms löste sich.

So langsam wie irgend möglich steuerte er das EMS zurück zur Steuerbordseite, bis er die Einstiegsluke zum Maschinenraum wiederfand. Über der Lukensteuerung senkte er sich ab, befestigte seine Halteleine an dem Haken bei der Tür und drückte mit stark zitternden Händen auf den manuellen Auslösehebel der schmalen Einstiegsluke.

Eine Explosion aus Schmutz traf ihn mitten aufs Visier. Er rutschte von der Tür ab und wurde zurückgedrückt.

Ich bin tot, dachte er und fühlte sich wie losgelöst von sich selbst, aber als er den Mut fand, die Augen zu öffnen, sah er, dass seine Halteleine gehalten hatte und er nun über dem Einstieg zum Maschinenraum schwebte.

»Im Inneren des Maschinenraums hätte keine Luft sein dürfen«, sagte Seth laut. »Dad hat den Raum entlüftet, am Tag, als er …« Er konnte den Gedanken nicht beenden. Seine Stimme bebte, und er benötigte vier tiefe Atemzüge, um sich auf den nächsten, entsetzlichen Schritt vorzubereiten. »Du wirst das schnell hinter dich bringen«, sagte er zu sich selbst.

Er rief die Befehlsleiste auf, mit deren Hilfe er seinen Helm von der äußeren Hülle des EMS lösen konnte, aber seine Finger verharrten darüber.

»Ich werde hier nicht sterben«, sagte er zu sich selbst, dann wiederholte er es noch einmal, diesmal bestimmter: »Ich werde nicht sterben.«

Mit diesen Worten auf den Lippen löste er das Kommando aus, und die äußere Hülle löste sich mit einem Zischen.

Die absolute Kälte des Weltraums traf ihn wie ein Eimer flüssigen Stickstoffs, und er vergaß zu atmen. Sein Verstand fühlte sich an wie platt gewalzt. Ich kann das nicht tun, sagte er sich, aber irgendwie glitt er doch aus der Metallkammer, während er sich weiterhin mit einer schmerzenden Hand am Schiff festhielt. Er ließ die schützende Hülle außerhalb des Maschinenraums an ihrem Haken schwebend zurück, als er sich selbst durch die Luke zog und diese dann hinter sich schloss.

Im Inneren des Maschinenraums war es fast genauso kalt wie außerhalb. Seth machte vier gequälte, ruckelnde Schritte auf die Computerkontrollstationen zu und tippte – obwohl seine Hände so stark zitterten, dass er sie kaum kontrollieren konnte – das Kommandofeld zur Kompression an.

Luft strömte um ihn her in den Raum, umfing ihn mit Wärme. Er ließ sich in einen Stuhl sinken, rollte sich zu einem Ball zusammen, war doch hilflos gegen die fürchterlichen Krämpfe in seinen Muskeln und wartete darauf, dass seine Sinne wieder zueinanderfinden würden.

Aber er konnte nicht allzu lange warten. Schon jetzt war die Luft im Inneren seines Anzugs übersättigt und stickig. Er würde sich beeilen müssen.

Mit noch immer klappernden Zähnen sah er sich um. In gewisser Weise überraschte es ihn, dass die Lampen noch immer funktionierten und die Signalknöpfe noch immer blinkten – an und aus, an und aus. Alles schien einwandfrei zu funktionieren, aber selbst mit dem Luftaustausch blieb eine dünne Schicht radioaktiver Partikel auf jeder Oberfläche zurück. Diese Partikel einzuatmen würde seine zu erwartende Lebensspanne ohne Frage signifikant verkürzen. Eines Tages würde dieser Raum sorgfältigst mit spezieller Ausrüstung dekontaminiert werden müssen. Bis zu diesem Tag war er ein Niemandsland. Jedwede Wartung der Maschinen würde von außerhalb durchgeführt werden müssen; und Kieran tat gut daran, zu hoffen, dass eine solche Behandlung der Maschinen nicht eines Tages in einem kompletten Systemausfall enden würde. Frustriert schüttelte Seth den Kopf. Für einen cleveren Kerl verhielt Kieran sich ziemlich häufig wie ein Dummkopf.

Es war dieser Raum, in dem Seths Vater seine letzten Tage verbracht hatte. Er hatte hier inmitten all der Radioaktivität gearbeitet, ohne einen schützenden Sicherheitsanzug, hatte verzweifelt versucht, das Schiff nach der Sabotage durch die Angreifer der New Horizon zu retten. »Du warst ein Mistkerl«, murmelte Seth, »aber du hast einen Weg gefunden, als Held zu sterben.«

Einige von der Maschinenraumcrew hatten überlebt, weil Seth und Kieran sie von außen mit einem Shuttle herausgeholt hatten, aber sie lagen weggetreten auf der Krankenstation, und es war völlig unklar, ob sie jemals wieder gesund wurden.

Seths Atem war stickig und bereits recycelt, aber er unterdrückte ein Schaudern, ging zur hinteren Wand des Raums und warf einen Blick auf den Metallboden, der mit Flecken von getrocknetem Blut übersät war. In der Ecke nahe der Tür fand er Dutzende fortgeworfene Rationsbehälter. Es mussten weitere dieser Behälter gewesen sein, die ihm aufs Visier geschlagen waren, als er die Luke geöffnet hatte.

Seth beugte sich über den Müllhaufen und durchstöberte ihn mit der Spitze seines Schuhs. Einige der Behälter glänzten noch feucht.

Irgendjemand musste hier unten sein Lager aufgeschlagen haben. Aber wie, bei all der Radioaktivität?

Seth ging zum Werkzeugschrank, wo er einen Geigerzähler vermutete, nahm ihn heraus, las das Ergebnis ab und schnappte erstaunt nach Luft, als es ein Radioaktivitätsniveau im normalen Rahmen anzeigte. Er überprüfte das Ergebnis mehrfach, doch die Werte änderten sich nicht.

Wie war das möglich? Die Säuberungsarbeiten nach einem radioaktiven Zwischenfall waren mühsam und erforderten ein Höchstmaß an Sorgfalt und Fachkenntnis. Irgendjemand musste jedes noch so kleine Staubkorn von den Instrumenten, dem Fußboden, der Decke und allem anderen im Raum abgesaugt haben. Der gesamte Ort musste allumfassend gereinigt worden sein. Die Luftfilter hätten gewechselt und der Raum wieder an das Lüftungssystem angeschlossen werden müssen – die Liste der Aufgaben war endlos und die Arbeit selbst gefährlich. In keinem Fall hätte Kieran es riskiert, eine unerfahrene Crew hier herunterzuschicken, um aufzuräumen.

Und so blieb nur eine Möglichkeit übrig: Der Saboteur hatte all das getan.

Seth holte tief Luft, löste die Verschlüsse an seinem Helm und nahm ihn langsam ab. Vorsichtig holte er noch mal Luft. So weit, so gut. Die Luft war frisch und roch rein. Der Anzug hingegen lag klamm auf seiner Haut, was ihn frösteln ließ, und so zog er das gesamte Ding aus, faltete es, und legte es gemeinsam mit dem Helm in die Einstiegsluke.

Dann ging er erneut zu dem Müllhaufen in der Ecke und sah ihn durch. Einige der Nahrungsmittel sahen noch halbwegs frisch aus. Er fand auch einen Stapel noch ungegessener Rationen in der Ecke eines Schranks. Im Wartungsraum fand er Decken und am Boden eine improvisierte Schlafstelle, neben ihr Grav-Beutel mit Wasser – Behälter, aus denen Flüssigkeit auch bei Verlust der Schwerkraft nicht austreten konnte. Aus seiner Vermutung wurde Gewissheit: Jemand hatte hier sein Lager aufgeschlagen. Und dieser Jemand musste geflohen sein, als der Dekompressionsalarm losgegangen war.

Doch dann kam Seth ein erschreckender Gedanke. Was, wenn der Saboteur noch immer hier war? Wie lange hatte das Vakuum im Maschinenraum angedauert? Seth hatte die Kompression schnell wieder eingeleitet, so dass der Saboteur dem Vakuum vermutlich nur für zehn oder zwanzig Sekunden ausgesetzt gewesen war. War das genug Zeit, um jemanden zu töten? Vielleicht nicht. Wenn jemand hier gewesen war, könnte diese Person noch immer am Leben sein, und vielleicht sogar bei Bewusstsein.

Er stürmte zurück zum Werkzeugschrank, wählte den schwersten Schraubenschlüssel, den er finden konnte, und umschloss ihn fest mit seiner verschwitzten Hand, während er mit Blicken den Gang inspizierte, der zu den Reaktorräumen führte. Es gab einen Reaktor für die Backbord- und einen für die Steuerbordseite, und jeder von ihnen sendete Energie an die Schubdüsen und den Rest des Schiffs. Es war möglich, dass sich jemand in der Seitenverkleidung der Reaktoren versteckte, zwischen den Metallrohren oder unten zwischen den schlangengleichen Rohren des Kühlsystems. Seth holte zweimal tief Luft und öffnete die Tür zum Backbordreaktor.

Der Raum war dunkel, und er schaltete das Licht ein. Hier zu sein machte ihn klaustrophobisch, denn die riesige Halle war vollgestopft mit Hunderten von Plutonium-Brennstäben, tiefen Reservoirs voll Deuterium und endlosen Röhren, in denen die Kühlflüssigkeit zirkulierte. Die Turbinen machten ein nagendes, summendes Geräusch, das ihm in den Ohren kribbelte. Er kletterte auf eine große Metallkiste, die eines der Kontrollsysteme für die Kühlung enthalten musste, und sah sich in dem riesigen Raum um. Hier gab es eine Million Orte, an denen man sich verstecken konnte. So würde er den Saboteur niemals finden.

Plötzlich knackte es in seinen Ohren, und er hörte ein lautes Knarren von der Tür zum Reaktorraum, ganz so, als würde sie gegen ihre Dichtungen gedrückt. Er duckte sich und wartete, aber nichts sonst machte ein Geräusch oder bewegte sich.

Er ging zu der Tür und blickte durch den gläsernen Türspion. Der Maschinenraum sah genau so aus, wie er ihn verlassen hatte, aber als er nun versuchte, die Tür zu öffnen, fühlte es sich an, als würden fünfhundert Kilogramm Gewicht sie an ihrer Stelle halten.

Er war gefangen!

Er hämmerte an die Tür, schrie, als eine blinkende Nachricht auf dem Kom-Schirm rechts neben der Tür seine Aufmerksamkeit weckte. Komprimiere Hauptraum, stand dort.

Wie bitte?

Seth wählte »Ja« und hörte ein mächtiges Zischen. Mit einem Mal war der massive Druck gegen die Tür verschwunden.

Seth raste zurück in den Maschinenraum und blieb dann wie angewurzelt stehen.

Sein Helm war fort! Und mit ihm der silberne Innenanzug. Fortgenommen von der Einstiegsluke, in der er sie zurückgelassen hatte. Seth rannte zu der Luke und spähte hinaus, dorthin, wo er sein EMS befestigt hatte. Dieser Hurensohn hatte es gestohlen! Der Saboteur musste aus dem Steuerbordreaktor herausgeschlichen sein, während er selbst ihn im Backbordreaktor gesucht hatte.

Und so musste er auch die Dekompression überlebt haben. Er war in einem der Reaktorräume gewesen, hinter einer Drucktür.

Seth trat nach einem der Stühle vor dem Schaltpult, und er begann durch den Raum zu rollen. Dann packte er den Schraubenschlüssel fester und hämmerte ihn gegen die Metallwand, wieder und wieder, fluchend, und der Schweiß lief ihm in die Augen. Als sein Zorn verraucht war, stand er keuchend da, das Gesicht zu einer Grimasse verzogen. Er war so nahe daran gewesen, diesen Bastard zu schnappen!

Wer auch immer der Saboteur sein mochte, es war sicher, dass er noch mehr Schaden anrichten würde. Seth musste Kieran eine Warnung zukommen lassen.

Er kletterte hinauf zu der Überwachungskamera über dem Schaltpult, richtete sie auf die Ecke des Raums aus, in die er eine große Menge der leeren Rationsboxen gestapelt hatte. Schließlich fand er auch einen Notizblock und einen dicken schwarzen Stift und schrieb in Blockbuchstaben: SABOTEUR VON DER NEW HORIZON AN BORD; HAT HIER SEIN LAGER AUFGESCHLAGEN. RADIOAKTIVITÄT IM MASCHINENRAUM WIEDER AUF NORMALEM NIVEAU.

Er bezweifelte, dass Kieran ihm glauben würde, aber er musste es zumindest versuchen.

Er ging zu dem Notfallhebel an der Wand bei der Tür, brachte seine Füße in Startposition, zog den Hebel und rannte los. Das Alarmsignal bohrte sich in seine Ohren, und er wusste, dass es auf dem ganzen Schiff zu hören sein würde.

Alles, was ihm jetzt noch zu tun blieb, war, um sein Leben zu rennen.

Sternenfeuer: Vertraue Niemanden: Roman
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