Der Zentralrat
Am Tag nach dem Angriff wirkte das Schiff gespenstisch leer, als Waverly den Korridor zur Kommandozentrale hinunterging. Die Crew war zu Tode verängstigt, und die meisten von ihnen hatten sich in ihren Apartments versteckt, wobei viele sich dabei vor ihren Pflichten drückten. Ihre Kehle war noch immer wund, und ihre Augen brannten von dem giftigen Gas, aber ansonsten waren sie im Gegensatz zu manch anderen unversehrt. Einige der Crew, Kieran und Arthur eingeschlossen, waren von dem Angriff stark in Mitleidenschaft gezogen worden und erhielten nun eine Sauerstoffbehandlung in der Krankenstation. Darüber hinaus gab es bislang nur wenige öffentliche Verlautbarungen.
Waverly ging um die Ecke und sah, dass nun mehr Graffiti als zuvor die Wände außerhalb der Kommandozentrale verunzierten. Da gab es ein Bild des Zentralrats, alle sieben Mitglieder waren abgebildet, und direkt vor ihnen lag eine Person auf Händen und Knien, von der Waverly nur annehmen konnte, dass sie sie selbst darstellte. Sie sah aus, als wäre sie bereit für jede Art unzüchtiger Dienstleistung.
Ihre erste Amtshandlung als Mitglied des Zentralrats würde sein, diesen gottverdammten Flur zu reinigen.
Sie atmete tief durch, schloss ihre Hand zur Faust und klopfte an die Tür der Kommandozentrale. Sie hörte das Surren einer Videokamera und sah zu der leeren schwarzen Linse, die nun auf sie ausgerichtet war. Sarek Hassans Stimme knackte durch das Interkom: »Was gibt’s, Waverly?«
»Ich möchte die Kom-Anlage nutzen, um ein Treffen des Zentralrats einzuberufen.« Das war eine Ausrede. Es gab andere Orte, von denen aus sie eine solche Durchsage hätte machen können, aber sie wollte einfach wissen, was vor sich ging.
Eine kurze Pause folgte, dann ging die Tür zur Kommandozentrale auf, die ohne Kieran im Stuhl des Captains und Arthur am Platz Nummer zwei nahe der Sichtfenster dunkel und verlassen aussah. Von der üblichen Kommandocrew war nur Sarek übrig geblieben. Wie immer saß er an seinem Platz an der Hauptkommunikation. Hinter ihm stand Matt Allbright, Kierans Chef-Scherge, und betrachtete über Sareks Schulter hinweg den Komschirm.
»Von wem stammt dieses Graffiti?«, fragte Waverly und versuchte dabei, möglichst gleichgültig zu klingen.
»Wer auch immer es war, trägt eine schwarze Haube über seinem Gesicht«, antwortete Sarek, der selbst verärgert über die Schmiererei zu sein schien. »Aber wie dem auch sei, das ist das geringste unserer Probleme.«
»Welche Station soll ich für die Durchsage nutzen?«, fragte Waverly.
Sarek deutete mit einem Nicken hinüber zum Stuhl des Captains. Sie ließ sich darin nieder, setzte das Headset auf und schaltete die Anlage an. »Achtung, Zentralratsmitglieder, hier spricht Waverly Marshall. Ich berufe ein Treffen ein. Bitte meldet euch in fünf Minuten im Ratssaal.«
Sie blieb sitzen und spähte über den Mittelgang hinweg auf den Bildschirm, der Sarek und Matt so sehr gefangen nahm. Er zeigte ein Bild des Korridors außerhalb der Aula. Sie hielten offenbar nach Videoaufzeichnungen Ausschau, auf denen vielleicht der Terrorist zu sehen war, der für den Gasangriff verantwortlich war.
»Haben die Kameras irgendetwas einfangen können?«, fragte sie.
Sareks Kopf fuhr zu ihr herum, und zuerst wirkte er verärgert, beruhigte sich aber wieder, als er sah, dass sie mit ernster Anteilnahme auf den Bildschirm sah. »Nicht ein einziges Bild auf irgendeiner Kamera hat ihn jemals eingefangen.«
»Er muss sie irgendwie außer Kraft setzen«, sagte sie.
Sarek schaute zu Matt, der keine Miene verzog, und sagte dann widerwillig: »Genau das tut er.« Er ließ die Bilder im Schnelldurchlauf weiterlaufen, bis er zu einer Stelle kam, an der der Bildschirm komplett weiß wurde. Diese Einstellung dauerte mehrere Minuten lang an. »Wir glauben, dass er mit einem Laser in die Linsen der Kameras leuchtet, wenn er sie passiert. Wir haben diesen weißen Bildschirm vorher schon mehrfach gesehen, ehe wir verstanden, um was es sich handelt.«
»Also habt ihr nirgends ein Bild von ihm, nicht ein einziges?«
»Nichts, mit dem wir arbeiten können«, sagte Sarek finster. »Alles, was wir wissen, ist, dass er groß ist.«
Er switchte durch die Bilder, und der schattenhafte Umriss einer grobschlächtigen Gestalt in einer Kapuzenjacke erschien im Standbild, den Arm emporgereckt und mit einem Gegenstand in der Hand, den sie auf die Kamera gerichtet hielt. Die Kapuze warf einen Schatten über das Gesicht und machte die Züge unkenntlich.
Waverly schüttelte den Kopf, auch wenn sie wusste, dass es im Grunde nichts zu bedeuten hatte, ob sie ein Bild seines Gesichts hatten oder nicht. Jeder Fremde an Bord des Schiffs würde offensichtlich der Terrorist sein, und jedes Mitglied der Crew würde ihn auf Anhieb erkennen. Warum also gab er sich die Mühe, sich vor ihnen zu verbergen? »Wie geht es Kieran?«
»In ein, zwei Tagen wird er wieder okay sein. Ebenso wie Arthur.«
»Hat schon irgendjemand herausbekommen, was für eine Art von Gas das war?«
Sarek schüttelte den Kopf. »Nichts, was wir in unseren Lagern hätten. Er muss es in den Laboratorien selbst hergestellt haben. Wir glauben, dass es etwas Ähnliches wie das Zeug gewesen ist, das auf der Erde während der Trinkwasserkriege eingesetzt wurde, um große Menschenmassen in den Griff zu bekommen. Es bringt dich nicht um, aber es setzt dich außer Gefecht.«
»Aber warum hat er das getan?«, sagte Matt mit seinem dunklen Bariton. »Warum hat er uns nicht einfach den Rest gegeben?«
»Das war ein Warnschuss«, sagte Waverly. »Er versucht uns einzuschüchtern. Wenn er es das nächste Mal versucht, werden die Auswirkungen schlimmer sein.«
Matt und Sarek sahen einander an.
»Was ist los?«, fragte sie. »Jungs?«
Matt starrte stur auf den Bildschirm. Sarek wich Waverlys Blick aus.
»Es gibt jetzt einen Zentralrat«, teilte sie ihnen mit, »und ich bin ein Mitglied dieses Rats. Wenn ihr Informationen vor mir zurückhaltet, kann ich euch den Friedensrichter auf den Hals hetzen, weil ihr eine öffentliche Ermittlung behindert.«
Sarek hielt eine Hand hoch. »Okay. Es gab da eine Nachricht.« Sarek hob die Brauen und sah Matt an, der einen Schlüssel von einer Kette um seinen Hals löste und zu einem Schrank hinter dem Kapitänssitz ging. Aus diesem holte er einen roten Metallbehälter, wie er von Landarbeitern fürs Wassertrinken benutzt wurde. Der Behälter war in eine durchsichtige Plastiktüte eingeschlagen.
»Das hier haben wir am Lichtpult an der Rückwand der Aula gefunden.«
Waverly nahm den Behälter entgegen. An ihm war eine Nachricht befestigt, die in dicken schwarzen Lettern geschrieben war:
DIE ANGRIFFE WERDEN AN HÄRTE ZUNEHMEN UND ERST AUFHÖREN, WENN IHR EIN FRIEDENSABKOMMEN MIT DER NEW HORIZON UNTERZEICHNET HABT.
»Ein Friedensabkommen?«, fragte sie. »Wie können wir ein Friedensabkommen unterzeichnen, wenn sie noch nicht einmal auf unsere Kontaktversuche reagieren?«
Sareks Miene verfinsterte sich, aber er schwieg. Waverly beschloss, zunächst nicht darauf einzugehen. Jetzt war nicht die Zeit, um ihn unter Druck zu setzen.
Waverly gab den Beutel zurück an Matt, der ihn entgegennahm. Die Nachricht entsprach jener Art von verdrehter Logik, die Anne Mather eigen war. Vielleicht hatte die Frau selbst diese Worte diktiert.
»Ich möchte alles darüber wissen, was ihr tut, um diesen Bastard zu finden«, wandte Waverly sich erneut an Matt. »Komm mit mir.«
»Jetzt sofort?«
»Und du wirst einen Bericht schreiben«, fuhr sie Sarek an. Sie wusste, dass sie gerade klang, als wollte sie sich zum Chef aufspielen, aber das war ihr egal. »Wenn Matt zurückkommt, Sarek, dann möchte ich, dass auch du uns alles erzählst, was du weißt.«
Sarek musterte sie skeptisch, aber sie starrte ihn nieder, und schließlich nickte er knapp.
Sie verließ die Kommandobrücke und ging den langen Flur zum Ratssaal hinunter, wo der Rest des Zentralrats sie bereits erwartete. Der Ratssaal war ein kugelförmiger Raum – einer der wenigen auf dem gesamten Schiff, die einen nahezu vollständigen Panoramablick auf den sternenübersäten Himmel boten. Und daher war es auch einer der wenigen Orte, von denen aus der Nebel, den sie erst vor kurzer Zeit verlassen hatten, noch immer sichtbar war. Er war riesig, rosafarben, und aus seinem Inneren schienen Tentakel nach den Sternen greifen zu wollen. Er erinnerte sie vage an eine Riesenkrake. Sie schauderte und wandte sich ab.
Alia Khadivi saß an einem der Tische und drehte an dem riesigen Türkisring, den sie am Finger trug, ihre unglaublich großen dunklen Augen funkelten im Lampenlicht. Tobin Ames hatte die Hände hinter dem Nacken verschränkt und musterte Matt vorsichtig durch die Strähnen seines überlangen Ponys. Melissa Dickinson, Sealy Arndt und Harvey Markem besetzten die Stühle an der anderen Seite des Tischs. Die beiden hochgewachsenen Jungen ließen die schmale Melissa an ihrer Seite wie einen Zwerg aussehen, aber das Mädchen schien sich dieses Effekts nicht bewusst zu sein und lächelte Waverly, die auf dem noch verbliebenen Stuhl am Kopfende des Tischs Platz nahm, schüchtern an.
»Danke, dass ihr gekommen seid«, begrüßte Waverly die Anwesenden. »Leider geht es Arthur Dietrich noch nicht gut genug, um hier zu sein, aber ich bringe ihn später auf den neuesten Stand. Matt Allbright ist heute hier, um uns einen Überblick darüber zu geben, was bislang bei Recherchen über und der Suche nach dem Terroristen herausgekommen ist. Matt?« Waverly wirbelte in ihrem Stuhl herum und sah ihn an.
Zunächst starrte Matt schweigend auf die Mitte des Tischs und schien keinen Ton herauszubringen, doch dann räusperte er sich.
»Tatsache ist, dass wir nur wenige Spuren haben. Es gibt kein klares Videobild des Terroristen, deshalb wissen wir nichts darüber, wo er sich aufhält, wie er sich versorgt und ob er in Kontakt mit der New Horizon steht oder nicht.«
»Also dann«, sagte Waverly. »Aber ihr habt die weißen Bildschirme, die er zurücklässt. So könnt ihr seinen Bewegungen durch das Schiff folgen.«
»Vielleicht«, sagte Matt, »aber es ist nicht leicht, nach weißen Bildschirmen Ausschau zu halten, die nur für eine Sekunde oder zwei anhalten. Wir müssten tagelang Videos im Schnelldurchlauf durchforsten und würden vermutlich dennoch viele der Einstellungen verpassen. Stattdessen konzentrieren wir uns darauf, herauszufinden, ob er mit Anne Mather in Kontakt steht.«
»Überwacht ihr externe Übertragungen?«, fragte Waverly.
»Es gibt Wege, Übertragungssignale so zu verschlüsseln, dass sie wie Hintergrundstrahlung wirken. Bislang haben wir nichts dergleichen gefunden, aber wir müssen davon ausgehen, dass sein technisches Wissen das unsrige übersteigt.«
»Habt ihr das Schiff selbst bereits durchsucht?«
»An jedem einzelnen Tag waren Patrouillen unterwegs, in Zweiergruppen.«
»Und habt ihr in unregelmäßigen Abständen die Zeiten und Routen der Patrouillen variiert?«, hakte Waverly nach.
Matt sah sie verblüfft an.
»Wenn ihr ihn schnappen wollt, müssen eure Schritte unvorhersehbar sein«, sagte sie, überrascht, dass Kieran nicht selbst daran gedacht hatte. »Auch sollten die Patrouillen nicht miteinander sprechen oder irgendwelche anderen Geräusche machen. Wenn er euch kommen hört, ist es ihm ein Leichtes, sich zu verstecken.«
Matt nickte, aber es war nicht zu übersehen, dass es ihn beunruhigte, derart vorgeführt zu werden. Er musterte Waverly misstrauisch, und da erst verstand sie, dass er Kierans Einstellung ihr gegenüber teilte.
Alia lehnte sich vor und hob einen Finger. »Habt ihr irgendwelche Lagerstätten ausfindig machen können, an denen er sich aufhalten könnte?«
»Außer im Maschinenraum und vielleicht im Chemielabor haben wir bislang nicht eine einzige Spur von ihm finden können. Wir glauben, dass er nun vorsichtiger geworden ist und sich niemals zweimal hintereinander am gleichen Ort aufhält.« Matt verstummte, trat verlegen von einem Fuß auf den anderen und zögerte. Der Rat wartete stumm und ließ ihm Zeit. Offenbar folgte ein jeder von ihnen demselben Instinkt, wie Waverly es bereits getan hatte – Matt nicht zu bedrängen, nicht zu viel nachzufragen, weil er sonst vielleicht ganz verstummen könnte. »Tatsächlich haben wir einige Stellen gefunden, aber sie alle wirken eher wie Orte, an denen Seth Ardvale gelagert hat.«
»Und wo war das?«, setzte Sealy energisch nach.
»Bei den Nadelbäumen und im Regenwald.«
»Und woher wisst ihr, dass diese Lagerstätten zu Seth und nicht zum Terroristen gehören?«, ergriff nun Melissa Dickinson das Wort, die bereits der Klang ihrer eigenen Stimme in Verlegenheit zu bringen schien.
»Weil wir Videos von Seth finden und zurückverfolgen konnten, auf denen er zu diesen Orten geht und sie wieder verlässt.«
»Und warum habt ihr ihn euch dann noch nicht geschnappt?«, verlangte Sealy zu wissen. Seit dem Faustkampf, den er mit Seth in der Arrestzelle ausgetragen hatte, hatte Sealy ihn auf dem Kieker.
»Es gibt so viel Videomaterial, das wir durchgehen müssen«, entgegnete Matt. »Das Überwachungssystem ist nicht dazu gemacht, flüchtige Personen einzufangen. Tatsächlich dient es Nachforschungen bei Unfällen oder Verbrechen, die zu einem bestimmten Zeitpunkt an einem bestimmten Ort stattfinden. Es gibt Kameras überall auf dem Schiff, die die Aktivitäten eines jeden Crewmitglieds festhalten. Wir müssten uns durch all dieses Material hindurchwühlen, um Videos von Seth zu finden.«
»Ihr solltet euch auf den Terroristen konzentrieren«, sagte Waverly vielleicht einen Tick zu schnell. Sie ignorierte die erstaunten Blicke, die sie trafen. »Wie viele Leute patrouillieren auf dem Schiff?«
»Mit sechs Doppelpatrouillen sind wir in der Lage, wirklich das gesamte Schiff abzudecken.«
»Das sind nicht genug Leute.« Waverly warf ihre Hände in die Höhe. »Ihr braucht mehr Kommando-Offiziere.«
Matt senkte sein Kinn, antwortete jedoch nicht, was Waverly als taktische Zustimmung wertete.
»Matt, ich möchte, dass du neue Kommando-Offiziere rekrutierst. Verdopple deine Leute. Und wenn diese Suchtrupps ausschwärmen, sollten sie immer aus einem erfahrenen und einem unerfahrenen …«, da hatte sie eine Eingebung, »… Mädchen bestehen. Nimm welche von den älteren Mädchen. Es gibt keinen Grund dafür, dass Kommando-Offiziere alle Jungen sind.«
Es war nicht zu übersehen, dass Matt diese Vorstellung nicht gefiel, aber er hielt den Mund.
»Das ist eine gute Idee. Ich werde dir helfen«, sagte Alia und lächelte Matt an.
»Ich auch«, piepste Melissa Dickinson, dieses Mal ohne zu zögern.
»Matt, gibt es noch irgendetwas, das du zu deinem Bericht hinzufügen möchtest?«, fragte Waverly. Sie hatte den Eindruck, ihn zu sehr herumgestoßen zu haben, und versuchte es nun wiedergutzumachen, indem sie einen sanfteren Tonfall anschlug. »Wir wissen alles zu schätzen, was du uns sagen kannst.«
Matts Kieferknochen mahlten eine Zeitlang, aber schließlich rückte er mit der Sprache heraus: »Kieran ist ein guter Anführer. Er hat seine Sache großartig gemacht.«
»Dankeschön, Matt«, sagte Waverly mit einem Lächeln. »Kannst du jetzt Sarek herüberschicken, bitte?«
Nachdem Matt den Raum verlassen hatte, betrachtete Waverly die Mitglieder des Zentralrats. Der kurze Blick, den sie von Melissa auffing, strafte die äußerlich zur Schau gestellte Gelassenheit des Mädchens Lügen. Es schien, als schlüge ein feuriges Herz in ihrem spindeldürren Körper, als wirke sie nur äußerlich sanft. Harvey Markem kaute an seiner Nagelhaut herum, den Blick auf die Mitte des Tischs gerichtet. Ein ganzes Heer orangefarbener Sommersprossen prangte auf seiner Nase, und obschon die Arbeit auf den Feldern seinen Körper muskulös und sehnig gemacht hatte, lag in seinem Gesicht die Sanftheit eines kleinen Jungen. Neben Harvey wirkte Alia mit ihrem dicken schwarzen Haar und der olivfarbenen Haut wie eine maurische Prinzessin. Waverly war froh darüber, Alias ruhige Stärke im Zentralrat zu wissen. Sealy starrte mit düsterem Blick aus dem Fenster, das drahtige, hellbraune Haar ein einziges Durcheinander kleiner Locken. Waverly wunderte sich, dass er überhaupt in den Rat gewählt worden war, denn schließlich war er einer von Seths engsten Gefolgsleuten gewesen. Sie hoffte, dass dies bedeutete, dass es unter der Crew noch immer eine unterschwellige Sympathie für Seth gab.
Jeder von ihnen setzte sich in seinem Stuhl auf, als Sarek schließlich den Raum betrat. Er wirkte muffig und abgespannt, wartete gar nicht erst, bis ihm irgendwelche Fragen gestellt wurden, sondern ging einfach zu einem leeren Stuhl, ließ sich daraufplumpsen und begann seine Rede.
»Schaut, ich arbeite jetzt schon seit Monaten mit Kieran in der Kommandozentrale zusammen, und er ist der Einzige, der diese Crew zusammenhalten konnte.« Er sah alle Anwesenden an, einen nach dem anderen, aber als er schließlich fortfuhr, heftete er seinen Blick auf Waverly. »Ich weiß, dass einige von euch Zweifel wegen seiner Religiosität haben, aber ich glaube, dass, nachdem so viele Kinder ihre Eltern verloren haben, die Crew etwas in dieser Art gebraucht hat. Andernfalls wären sie schlicht in ihrer Verzweiflung untergegangen.«
Waverly sah ihn nachdenklich an. Sie erkannte, wie intelligent er war, und sie war fast selbst schon ein wenig überzeugt. Es kam aus ihrem Inneren, als sie sagte: »Vielleicht hast du damit recht, Sarek.«
Er sah sie erstaunt an, dann legte sich seine Stirn in nervöse Falten. Er wirkte, als fechte er einen inneren Kampf aus. Vielleicht wollte er offen zum Zentralrat sprechen, aber seine Loyalität zu Kieran hielt ihn zurück. Sie musste sanft mit ihm sein.
»Gibt es irgendetwas, das du uns erzählen möchtest?«, fragte sie behutsam.
Unsicher schüttelte er den Kopf.
Sie beobachtete ihn, dann wagte sie einen Schuss ins Blaue. »Irgendwelche Neuigkeiten von der New Horizon?«
Sein Blick schoss in ihre Richtung, und er schien den Atem anzuhalten.
»Sarek, du musst uns alles sagen, was du weißt«, beschwor sie ihn.
Der Rest des Zentralrats betrachtete ihn stumm und wartete darauf, dass er sprechen würde.
»Vor etwa zwei Wochen …«, setzte er an, doch dann verstummte er wieder, die Augen auf seine Hände gerichtet, die er auf dem Tisch vor sich zu Fäusten geballt hatte. Schließlich holte er tief Luft und sagte: »Anne Mather rief das Schiff, und Kieran führte eine private Unterhaltung mit ihr.«
Als Alia Anne Mathers Namen hörte, schnappte sie nach Luft. Melissa Dickinson erbleichte. Waverly wischte sich ihre feuchten Hände an ihrer Baumwollhose ab.
»Weißt du, worüber sie gesprochen haben?«, fragte sie ruhig.
»Sie wollte ein Friedensabkommen«, sagte Sarek und wirkte beschämt. »Sie wollte, dass Kieran sich irgendwelche Videos ansieht, die irgendetwas mit Captain Jones zu tun haben sollen, und danach würde sie darüber diskutieren, ob sie die Geiseln freilassen könnte. Ich meine … unsere Eltern.«
Ein stiller Schmerz senkte sich über den Raum.
»Und hat Kieran …«, begann Waverly und holte tief Luft, um ihre zitternde Stimme wieder in den Griff zu bekommen. »Hat Kieran sich Mathers Wünschen gefügt?«
»Ich weiß es nicht«, sagte Sarek. »Er hat seitdem nicht mehr mit ihr gesprochen.«
»Und da bist du dir sicher?«
»Ich habe volle Zugriffsrechte auf die Kom-Zentralstation. Es gibt keine Übermittlungen, von denen ich nichts weiß.«
»Und seit dem Angriff in der Aula?«, wollte Alia wissen. Sie schien genauso wütend zu sein, wie Waverly sich fühlte. Allein die Erwähnung von Mathers Namen schien alles zurückzubringen: die strengen puritanischen Sitten, Mathers codierte Sprache, betäubt zu werden, ihrer Eizellen beraubt zu werden. Diese Grausamkeit ließ Wunden zurück, die niemals heilten. »Haben wir noch irgendetwas anderes von Anne Mather gehört?«
»Nein«, sagte Sarek, »aber … ich wäre nicht erstaunt, wenn sich das schon sehr bald ändern würde.«
Die Versammlung nahm diese Vermutung in Grabesstille entgegen.
»Es scheint, als hätte Mather uns eine Chance gegeben«, wagte Alia sich vor. »Wir haben die New Horizon seit Monaten verfolgt und dabei keine Fortschritte gemacht. Vielleicht können wir an sie herankommen, wenn wir so tun, als wären wir bereit, ihr Spiel mitzuspielen.«
Der Rest der Versammlung sah sie an.
»Ich denke, das ist es, was Kieran zu entscheiden versuchte«, sagte Sarek.
»Und zwar ganz allein«, entgegnete Waverly bitter und bereute ihren Einwurf sofort wieder. Sarek musterte sie misstrauisch. Wenn sie wollte, dass er kooperierte, musste sie Kommentare wie diese in Zukunft für sich behalten.
»Hast du diese Videos?«, wollte Sealy wissen. Seine grauen Augen waren auf Sarek gerichtet. Es war offensichtlich, dass er weniger dazu bereit war, Sarek das Geheimnis, an dem dieser Anteil gehabt hatte, zu verzeihen als die anderen Mitglieder des Rats. Seinen geharnischten Tonfall zu hören machte Waverly bewusst, dass auch sie selbst zornig war. Sie hätte wissen müssen, dass Mather Kieran kontaktiert hatte. Die ganze Crew hätte es wissen müssen.
»Ich habe eine Kopie von Mathers Kontaktaufnahme gespeichert«, sagte Sarek.
»Dann sehen wir sie uns an«, sagte Harvey Markem. Es war das erste Mal, dass er das Wort ergriff. Weil Harvey einer von Seths Aufsehern in der Arrestzelle gewesen war, war sich Waverly nicht sicher gewesen, wem seine Loyalität galt – Kieran oder dem Zentralrat. Nun schien klar zu sein, dass auch er bereit war, gegen Kieran in den Ring zu treten. »Kannst du das Video für uns besorgen, damit wir es uns ansehen können?«, fragte er Sarek.
Das erste Mal seit sehr langer Zeit fühlte Waverly so etwas wie Hoffnung. Der Zentralrat war genau das, was sie all die Zeit über gebraucht hatten.
»Ich bin nicht sicher, ob ich das tun kann«, gab Sarek zurück.
»Wie bitte?«, piepste Melissa Dickinson. »Wenn du auch nur das kleinste Fitzelchen hast, das uns unsere Eltern näher bringen könnte, musst du es herausrücken!«
»Kieran behielt es für sich, und er hatte dafür seine Gründe«, sagte Sarek. »Ich habe schon jetzt viel mehr gesagt, als er gewollt hätte. Ich werde ihm das nicht antun.«
Ein Aufschrei ging durch den Raum, aber Waverly hob die Hand.
»Hey! Hey! Wartet!« Die Protestschreie verstummten, und die anderen Mitglieder des Zentralrats sahen sie an. »Sarek hat recht. Kieran ist der gewählte Captain, und wir sollten seine Autorität respektieren.«
Alle Zweifel, die Sarek ihr entgegengebracht haben mochte, schienen mit einem Mal aus seinem Gesicht getilgt zu sein, und er lächelte sogar ein wenig, als er sie ansah. Sie hatte sein Vertrauen gewonnen, zumindest für den Moment.
»Kieran sollte es bald wieder bessergehen, so dass wir sein Einverständnis einholen können.«
»Ich möchte nicht mit dieser Frau verhandeln«, sagte Alia, und ihre samtweiche Stimme klang plötzlich kalt und entschlossen.
»Wir werden ihr nichts von dem geben, was sie möchte«, entgegnete Waverly voller Inbrunst. »Aber wir können sie glauben machen, dass wir willens sind, nach ihren Regeln zu spielen.«
Das schien aller Aufmerksamkeit zu wecken, und es wurde noch ein wenig stiller im Raum, so dass Waverlys nächste Worte umso mehr Gewicht erhielten.
»Wir werden uns verhalten, als wenn wir mit ihr zusammenarbeiten wollten«, sagte Waverly hart. »Und dann werden wir sie töten.«