Wilde Justiz

Er hat nein gesagt«, stieß Waverly bitter hervor, als sie in den Ratssaal zurückkehrte.

Der Rest des Rats nahm diese Neuigkeit mit grimmiger Resignation auf. Alia und Melissa lächelten Waverly traurig an, als sie sich in ihren Stuhl an dem großen ovalen Tisch fallen ließ.

»Ich hätte gehen sollen«, krächzte Arthur.

»Nein, es ist wichtig für uns, dass er dir vertraut, Arthur«, entgegnete Waverly und lächelte matt.

Sie wollte weinen, sie wollte schreien und um sich treten. Stattdessen strich sie mit den Fingern über den Gegenstand, den sie in ihrer Tasche verborgen hatte. Ich werde ihn benutzen, sagte sie sich. So oder so.

Alia sah gedankenverloren durch das Glaskuppeldach auf die unzähligen winzig kleinen Sterne der Milchstraße. Harvey und Melissa starrten auf ihre gefalteten Hände. Tobin Ames schienen die Neuigkeiten zu beunruhigen, und er kaute mit zur Seite gewandtem, nachdenklichem Gesicht auf einem Fingernagel. Sealy Arndt sah schlichtweg wütend aus.

»Du sagst uns also«, wagte Alia sich mit ihrer samtigen Stimme vor, »dass wir runtergehen und uns gewaltsam Zutritt verschaffen müssen.«

Harvey schüttelte den Kopf. »Diese Wachen sind Kieran treu ergeben. Sie werden auf keinen Fall gegen seinen Befehl handeln.«

»Dann könnte es handgreiflich werden«, sagte Waverly matt. Sie hatte genug Blut gesehen.

»Was ist mit dem Friedensrichter? Können wir uns an Bobby wenden?«, fragte Tobin. »Wenn wir das Recht auf unserer Seite haben, sollten wir es auch nutzen.«

»Können wir ihn dazurufen?«, fragte Arthur.

Melissa ging zum Interkom und bat Sarek in der Kommandozentrale, Bobby Martin auszurufen. Während sie warteten, erzählte Waverly ihnen, dass Kieran Philip befohlen hatte, sie zu beschatten.

»Er sollte dich ausspionieren?«, fragte Melissa und machte große Augen.

»Überrascht dich das wirklich?«, entgegnete Waverly.

»Kannst du es ihm vorwerfen?«, krächzte Arthur, woraufhin sich alle Augen auf ihn richteten. »Waverly, du hast Seth Ardvale in der Brig besucht. Was hast du denn erwartet, wie Kieran darauf reagiert?«

»Vernünftig. Ich war nur einmal dort!«

»Und du hast dich ganz offensichtlich auch in der Sternwarte mit Seth getroffen«, sagte Harvey, die Augenbrauen über den breiten Bauernjungenaugen gesenkt.

»Dann dulden wir es stillschweigend, dass unsere eigenen Crewmitglieder ausspioniert werden?«, fauchte Waverly zurück und fing dann an zu husten. Ihre Kehle fühlte sich noch immer kratzig und schwach an.

»Wir haben alle Angst«, warf Alia ein. »Und Angst bewirkt, dass Leute Schreckliches tun.«

»Dabei dürfen aber nicht die Menschenrechte anderer verletzt werden«, gab Waverly hartnäckig zurück.

»Idealerweise sollte das auch nicht so sein«, krächzte Arthur leise. »Aber an unserer Situation ist nichts ideal.«

Waverly fühlte sich gemaßregelt und zog sich eine Weile aus der Unterhaltung zurück, bis das Gespräch auf den Gefangenen und dessen Verhör kam.

»Wir sollten eine Liste mit Fragen an den Terroristen vorbereiten«, sagte Tobin gerade. »Wir können nicht einfach zu ihm gehen, ohne zu wissen, was wir fragen wollen.«

»Er stand mit der New Horizon in Kontakt«, ergriff Waverly nun erneut das Wort, und alle Blicke wandten sich ihr zu. »Er könnte etwas darüber wissen, was dort vor sich geht.«

»Ja«, sagte Alia. »Er könnte wissen, wo die Gefangenen untergebracht sind.«

»Und wer die Gefangenen sind«, warf Melissa Dickinson ein. »Vielleicht einige unserer Eltern …«

»Und wie sie bewacht werden«, ergänzte Harvey.

Arthur zog einen tragbaren Computer aus seiner Tasche und begann, Fragen einzutippen. Damit waren sie noch immer beschäftigt, als Bobby Martin den Raum betrat. Er wirkte erschöpft, das weißblonde Haar lag strohig über den hellblauen Augen, die einen scharfen Kontrast zum Olivton seiner Haut bildeten. Eines Tages würde er vielleicht noch besser als Seth Ardvale aussehen, dachte Waverly, während sie beobachtete, wie er sich einen Stuhl heranzog und sich setzte. Aber im Moment war er noch ein Junge. Seinem Geruch nach zu urteilen, hatte er gerade das Kartoffelfeld mit Schafsmist gedüngt.

»Ich wette, es geht um den Gefangenen«, sagte er und sah zu Arthur, den er für den Anführer des Zentralrats hielt. Waverly ärgerte das, aber sie ließ es sich nicht anmerken.

»Wir wollen zu ihm«, sagte sie mit fester Stimme, um sicherzugehen, dass er sie nicht ignorieren konnte. »Wir wollen ihn befragen.«

»Ich dachte, Kieran hätte sich der Sache angenommen«, sagte Bobby, während seine Augen von einem Gesicht zum nächsten sprangen.

»Wir glauben, wir könnten … effizienter sein«, entgegnete Sealy, verschränkte die knubbeligen Finger ineinander und stützte die Ellbogen auf den Tisch. »Wir könnten der Sache etwas schneller auf den Grund gehen.«

»Kieran will uns nicht zu ihm lassen«, warf Alia ein.

»Und gemäß den Inhaftierungsvorschriften haben wir das Recht …«, begann Waverly, doch Bobby schnitt ihr das Wort ab.

»Gib mir die Statuten«, sagte er und winkte Arthur, der sich zum Regal hinter ihm drehte und das Buch herauszog.

»Seite zweiundvierzig«, teilte Waverly Bobby mit, während dieser durch das Buch blätterte. Seine hellen Augen wanderten schnell über den Abschnitt, derweil er an seiner Unterlippe sog. Er schwieg, wie auch der ganze Raum schwieg, während er die Bedeutung der Worte verinnerlichte.

»Rein rechtlich kann er euch nicht davon abhalten, nach dem Gefangenen zu sehen«, sagte er endlich.

»Dann lasst uns hinuntergehen«, schlug Waverly vor. »Jetzt sofort, bevor Kieran einen Weg findet, uns aufzuhalten.«

Alia stand auf und sah sich im Raum um, als wollte sie die anderen auffordern, ihr zu folgen. Sealy ging zur Tür und bedeutete Alia vorzugehen, dann folgten Harvey und Melissa. Tobin und Arthur schienen am zögerlichsten zu sein, und sie taten Waverly aufrichtig leid. Beide standen Kieran sehr nahe, und sie wollten keinen Keil zwischen sich und ihn treiben. Aber wenn das geschähe, dachte sie, läge es an Kieran, nicht an ihnen.

Sie verließ den Raum als Letzte und musste rennen, um Bobby einzuholen, der seine schmutzigen Hände an seiner Hose abrieb.

»Ich sollte für so etwas ordentlicher aussehen«, sagte er verlegen.

»Erinnerst du dich an Friedensrichter Connor?«, fragte Waverly und lächelte, während sie an den schlanken Mann dachte, der immer und überall ein Stück Brot zu essen schien. Er war mehrere Jahre vor dem Angriff gestorben, und die gesamte Crew hatte ihm die letzte Ehre erwiesen. Waverly war traurig über seinen Tod, aber vielleicht war es gut gewesen, dass er den Angriff nicht miterleben musste. Er starb, als alle noch dachten, auf einer friedlichen Mission zu sein, als alle sich noch in Sicherheit wähnten. »Er hatte immer Dreck unter seinen Fingernägeln, und du setzt diese Tradition fort.«

»So wird’s wohl sein«, erwiderte Bobby skeptisch.

Die Aufzugfahrt nach unten war trostlos. Die drückende Luft war erfüllt von einem scharfen Moschusgeruch – einem Geruch, den Menschen ausdünsteten, wenn sie Angst hatten. Waverly dachte abwesend, dass sie eigentlich auch Angst haben müsste, aber sie hatte keine. Vielmehr war sie gespannt.

Als die Wachen vor der Brig den Zentralrat kommen sahen, streckten sie ihre Rücken durch und hielten ihre Gewehre quer vor der Brust. Also hatte Kieran schließlich doch noch den Gebrauch von Schusswaffen angeordnet, dachte Waverly.

»Der Zutritt zum Arrestbereich ist untersagt«, schnarrte Hiro Mazumoto mit unbeweglichem Blick.

Bobby Martin trat vor, zog etwas aus seiner Tasche und hielt ihm dann ein Abzeichen vor die Nase. Waverly fragte sich, woher er das hatte. »Ich bin der Friedensrichter, und ich befehle euch, zur Seite zu gehen.«

»Nicht ohne Befehl von Kieran Alden«, entgegnete Ali Jaffar, dessen haselnussbraune Augen nervös von einem Gesicht zum nächsten wanderten.

»Wenn ihr nicht zur Seite geht, werde ich euch beide unter Arrest stellen«, sagte Bobby.

»Laut Statuten müsst ihr uns den Zutritt gestatten«, krächzte Arthur mit rauher Stimme. Er zog das Gesetzesbuch hervor und schlug es für die Wachen auf, damit sie sich selbst von der Wahrheit seiner Worte überzeugen konnten.

Hiro nahm das Buch und las den Absatz, während Ali ihm über die Schulter sah. Keiner der beiden Jungen wusste, was er tun sollte.

»Wir sind der Zentralrat, und der Friedensrichter ist bei uns. Vor euch stehen also zwei Regierungsorgane dieses Schiffs«, sagte Waverly. »Kierans Wort hebelt uns nicht aus, er ist nicht unser Diktator.«

Hiro seufzte kopfschüttelnd. »Warum könnt ihr nicht einfach miteinander auskommen?«, murmelte er, trat dann aber zur Seite und ließ sie passieren.

In der Brig roch es nach ranzigem Schweiß. Der Gefangene lag auf seiner Pritsche, die Augen unter der Ellbogenbeuge vor dem hellen Licht geschützt. Während er schlief, stand sein Mund weit offen und offenbarte eine braune, schiefe Gebissruine. Er schnarchte und klang dabei wie ein Tier.

»Weckt ihn auf«, befahl Waverly den Wachen.

Hiro klopfte laut mit dem Lauf seiner Waffe gegen die eisernen Gitterstäbe der Zelle. »Hey. Du hast Besuch.«

Der Gefangene rieb sich den Schlaf aus den Augen, schmatzte mit seinen wulstigen Lippen und schien nur langsam wach zu werden, bis er Waverly sah, die ihn durch die Gitterstäbe hindurch beobachtete. Augenblicklich verhärtete sich sein Gesichtsausdruck, er setzte sich auf und starrte sie an. Mordlust glitzerte in seinen Augen.

»Fesselt ihn«, sagte sie leise.

Ali stellte sich vor der Zelle in Position und richtete die Waffe auf den Kopf des Gefangenen, während Hiro die Tür aufschloss und hineintrat. »Stell dich hin«, befahl Hiro dem Gefangenen, der sich fügte, ohne seine geröteten Augen von Waverlys Gesicht abzuwenden.

»Fessle jetzt seine Sprunggelenke an die Füße seiner Pritsche«, sagte Waverly.

Der Gesichtsausdruck des Gefangenen veränderte sich unmerklich; Waverly konnte sehen, dass er es mit der Angst zu tun bekam. Ali gab Hiro zwei Paar Handschellen von seinem Gürtel, die dieser an den Sprunggelenken des Gefangenen und den mit schweren Eisenbolzen am Boden festgeschraubten Füßen der Metallpritsche festmachte. Der Mann saß nun mit unnatürlich gespreizten Beinen und auf dem Rücken gefesselten Händen auf der Pritsche. Er war hilflos.

»Waverly«, flüsterte jemand. Als sie sich umdrehte, war sie überrascht, Seth in der Zelle hinter sich stehen zu sehen.

»Ich dachte, du wärst am anderen Ende«, sagte sie zu ihm. Sie wollte nicht, dass er das hier mit ansah.

»Was macht ihr da?« Er hing noch immer am Tropf, und seine Hautfarbe sah nicht gesund aus.

»Wir werden ihm ein paar Fragen stellen«, antwortete sie. Sie reckte das Kinn hoch, als würde sie ihn auffordern, ihr zu widersprechen.

Seth legte den Kopf schräg und sah sie prüfend an. »Ihr habt aber nicht das vor, was ich denke, das ihr vorhabt, oder?«

»Lass mich in Ruhe«, antwortete sie und wandte sich um. Sie wollte die Erste sein, die die Zelle des Terroristen betrat. Sie wollte diejenige sein, die ihm die Fragen stellte.

Sie ragte über dem grobschlächtigen Mann auf, nahe genug, um Zwiebeln in seinem Atem zu riechen. Sie konnte zwischen den kurzen Haaren Schweißperlen auf seiner Kopfhaut erkennen, und sie nahm seinen Geruch wahr, einen scharfen Gestank, der ihr in die Nasenlöcher drang und einen stechenden Schmerz zwischen den Augen verursachte. Sie stand vor dem sitzenden Mann, ließ ihn ihre Gegenwart spüren, ließ ihn sie hassen, bis sie eine Möglichkeit fand, ihn trotz ihrer Wut anzusprechen.

»Wir werden dir ein paar Fragen stellen«, sagte sie mit brüchiger Stimme, die sie kaum unter Kontrolle hatte. »Und du wirst sie beantworten.«

Er lachte höhnisch.

Sie zog einen Taser aus ihrer Tasche und hörte überraschtes Gemurmel vom Zentralrat. Alia sah sie fragend an, Melissa starrte ausdruckslos. Der Taser wurde normalerweise beim Vieh eingesetzt, wenn die Herde in Panik geriet und die Tiere Gefahr liefen, sich selbst zu verletzen. Er hatte genug Leistung, einen Ziegenbock außer Gefecht zu setzen, allerdings würde der Elektroschock nicht reichen, einen Menschen umzuhauen. Er würde aber Schmerzen verursachen – einen tiefen, körperlichen Nervenschmerz.

»Damit war ich nicht einverstanden«, sagte Bobby und machte einen Schritt auf sie zu.

»Ich will wissen, ob unsere Eltern auf der New Horizon noch am Leben sind«, sagte sie dem Terroristen, weil sie wusste, dass Bobby dies aufhalten würde, denn auch seine Eltern galten als vermisst.

Bobby zögerte und wartete auf eine Antwort des Mannes. Der Rest des Rats und selbst Kierans Wachen schienen den Atem anzuhalten.

»Ich weiß es nicht«, sagte der Gefangene.

Sie rammte das Ende des Tasers in seinen Nacken und hielt den Auslöser gedrückt. Der Mann schrie auf, und sein Körper schüttelte sich, dass die Ketten an seinen Handschellen rasselten. Als Waverly den Taser wegzog, sah sie eine V-förmige Verbrennung auf seiner Haut und konnte das angesengte Fleisch riechen.

»Waverly, nicht!«, schrie Seth heiser aus der gegenüberliegenden Zelle.

»Sind unsere Eltern noch am Leben?«, fragte sie und drückte den Taser erneut gegen den Gefangenen, diesmal jedoch ohne den Auslöser zu drücken. Noch nicht.

Instinktiv drehte er sich von dem Gerät weg, sagte aber leise: »Ich glaube schon.«

»Wo werden sie festgehalten?«, setzte sie nach.

Der Mann presste die Lippen aufeinander, die Augen stur auf den Boden gerichtet.

»Wo?«, schrie sie in sein Ohr und drückte erneut den Auslöser. Sie konnte das Summen des Stromflusses durch das Gerät und in den Körper des Mannes hinein spüren, der sich krampfartig schüttelte. Er schrie, und sein Gesicht verzerrte sich zu einer Maske aus Schmerz. Sie erinnerte sich daran, wie er ihre Luftröhre zugedrückt hatte, wie er ihr dabei in die Augen gesehen und geflüstert hatte: »Ich werde dich töten, wie du Shelby getötet hast, du kleine Hure.«

Sie erinnerte sich daran, wie sie akzeptiert hatte, dass dies ihr Tod und er ihr Mörder sein würde. Sie erinnerte sich an die Hoffnungslosigkeit, die er in ihr ausgelöst hatte. Daran, wie leicht sie aufgegeben hatte. Oh, wie sehr sie ihn hasste.

Dennoch nahm sie den Finger vom Auslöser, und seine Krämpfe hörten auf. Er stöhnte.

»Wo sind sie?«, fragte sie sanft.

»Ich habe nichts Neues gehört«, erwiderte er atemlos. »Sie sind vielleicht noch immer in der Atmosphärenkontrolle.«

»Mather ist zu vorsichtig. Ich bin mir ziemlich sicher, dass sie sie verlegt hat.«

»Ich weiß es nicht!«

Noch einmal ließ sie den Taser sprechen, und der Mann schrie erneut auf. Als sie den Auslöser losließ, heulte er: »Mach das bitte nicht noch einmal. Bitte nicht.«

»Dann sag mir, wo die Gefangenen sind!«

»Sie … sie sind in der Kläranlage! Die Türen sind mit Ketten gesichert! Ihr braucht Bolzenschneider, um sie dort rauszuholen!«

»Woher weißt du das?«

»Sie … sie wollte sie an einem dauerhafteren Ort unterbringen, also modifizierten sie die Kläranlage. Wahrscheinlich sind sie inzwischen damit fertig, das Ganze umzubauen.«

»Stimmt das auch?«, fragte Waverly warnend und hielt ihm den Taser vor die Augen.

»Ich schwöre es«, greinte er, während seine Augen von einem Ratsmitglied zum nächsten wanderten und um Mitleid flehten. »Es stimmt. Sie sind dort.«

Waverly sah zu Alia, die nickte. Sie schien ihm zu glauben.

»Wie werden sie bewacht?«, fragte Waverly und bewegte den Taser zwischen die Knochen am Nackenansatz des Gefangenen, direkt über seinem Rückgrat.

»Durch einen leichten Trupp, glaube ich«, sagte er mit tränenerstickter Stimme, »da ihr ja nicht mehr auf dem Schiff seid.«

»Und wie sieht die politische Situation auf dem Schiff aus?«, fragte sie.

»Ich war nicht mehr dort, seit ihr da wart, und weiß auch nicht mehr als ihr.«

»Du hast mit ihnen gesprochen.«

»Nein, das stimmt nicht.«

Sie rammte den Taser gegen sein Rückgrat und drückte den Auslöser. Als er diesmal schrie, ließ sie nicht nach. Er schüttelte sich, und Speichel rann aus seinem Mund, während sein Kopf vor und zurück flog. Als sie den Auslöser endlich losließ, sackte er in sich zusammen; die Schultern gekrümmt, der Kopf hing zwischen seinen Beinen.

»Wasser«, sagte sie.

Ali ging zum Waschbecken, füllte einen Plastikkrug mit Wasser und gab ihn ihr. Sie schüttete ihn über dem Kopf des Gefangenen aus, so dass er sofort aufwachte und sich grunzend schüttelte. Er klang wie ein Schwein.

»Du hattest Kontakt mit der New Horizon, richtig?«

Tränen rannen über sein Gesicht, und er nickte.

»Und was hast du dabei über die Situation dort erfahren?«

»Was willst du denn hören?«

»Die Wahrheit. Als wir das Schiff verließen, standen die Dinge nicht gut für Mather.«

»Sie hat immer noch alles unter Kontrolle«, sagte er mit fest geschlossenen Augen.

»Du verheimlichst doch etwas.« Dieses Mal hielt sie den Taser gegen seinen Unterleib und starrte ihm unverwandt in die jetzt wieder offenen Augen. Tränen liefen ihm übers Gesicht, während er ihre Miene zu deuten versuchte. Er zitterte. Sie spürte, wie sich seine Oberschenkelmuskeln unter dem Taser anspannten und wieder lockerten. »Sag mir alles, was du weißt.«

»Mather hat keine gute Beziehung zu den Kirchenältesten. Shelby hat mir das mal gesagt. Sie könnten sie jederzeit ihres Amtes entheben.«

»Ist das auch die Wahrheit?«

»Ja«, winselte er.

Trotzdem drückte sie auf den Auslöser. Er schrie auf und schrie dann weiter, doch sie hielt den Taser an Ort und Stelle und beobachtete, wie sich sein Gesicht vor Schmerzen verzerrte. Sie spürte das hilflose Zittern seiner Beine, das Rucken und die Krämpfe, die seinen Körper schüttelten. Er gab gurgelnde Laute von sich, Blasen bildeten sich in seinen Mundwinkeln, dennoch hielt sie den Taser fest, bis sie eine Hand auf ihrem Arm spürte, aufsah und Alias bestürzten Gesichtsausdruck registrierte.

»Er ist am Ende«, sagte Alia. Ihr Gesicht war leichenblass, und ihre Lippen zuckten, während sie Waverly von dem Gefangenen wegzog, der nun schluchzte.

Waverly ließ sich aus der Zelle führen. Erst als sie zu laufen versuchte, bemerkte sie, wie wackelig sie auf den Beinen war. Sie beobachtete, wie Ali dem Mann die Handschellen abnahm und ihn auf die Matratze drückte. Der Gefangene zuckte bei jeder Berührung und wimmerte bei jeder Bewegung wie ein kleines Kind. Als Ali ihn hinlegte, rollte er sich in eine Fötusstellung zusammen und zog die Hand an den Mund, als wollte er am Daumen nuckeln.

Die anderen Mitglieder des Zentralrats verließen schleppend die Brig. Den Blick starr nach unten gerichtet, gaben sie keine anderen Geräusche von sich als dann und wann ein verlegenes Hüsteln und das Scharren ihrer Schuhe auf dem schmutzigen Metallboden. Waverly sah zu, wie sie abzogen, und wandte sich dann an Seth, der sie mit weit aufgerissenen Augen anstarrte, als hätte er sie noch nie zuvor gesehen.

Sie öffnete den Mund, aber die Worte blieben ihr im Hals stecken, also wandte sie sich ab und setzte sich in Bewegung. Sie konnte ihre Gefühle nicht deuten, verstand nicht die Leere in ihrer Brust, das Gewicht, das an ihren Gliedern zerrte, und die graue Dunkelheit, die ihren Verstand zu vernebeln schien. So etwas hatte sie noch nie gespürt.

Als sie später in dieser Nacht wach in ihrem Bett lag, begriff sie, dass diese Gefühle tiefe, unwiderrufliche Scham waren.

Sie hatte einen Menschen gefoltert. Und Seth hatte alles mit angesehen.

Sternenfeuer: Vertraue Niemanden: Roman
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