Der Hirte

Ich danke euch allen, dass ihr gekommen seid«, begrüßte Kieran seine Gemeinde. Dies war der erste Gottesdienst, seit er die Regel erlassen hatte, dass die Teilnahme verpflichtend war, und er war mit dem Ergebnis zufrieden. Nahezu die gesamte Crew war gekommen. Arthur war in der hinteren Reihe und schrieb still Namen nieder, um herauszufinden, wer nicht erschienen war, obschon er oder sie sich mit dieser Verweigerung den Pflichten entzog. Kieran studierte die Gesichter in der Menge und versuchte abzuschätzen, wie viele von ihnen er erst noch für sich würde gewinnen müssen. Nahezu alle älteren Mädchen starrten ihn voller Verachtung an, offensichtlich erzürnt über Sarahs und Waverlys Inhaftierung. Sie mussten von einer der Wachen davon erfahren haben. Selbst einige der Jungen musterten Kieran misstrauisch, aber er hatte noch immer Verbündete. Und die ersten Reihen waren mit seinen engsten Anhängern gefüllt, jenen Kindern, die ihm zur Seite stehen würden, ganz gleich, was geschah. Er hoffte, die Anzahl seiner Unterstützer im Rahmen seiner Rede zu erhöhen. Es mochte sein, dass sein Leben davon abhing.

Er schob die Erinnerungen an den Schauprozess, den Seth einst angeordnet hatte, beiseite. Er war damals nur halb bei Bewusstsein gewesen, ausgehungert, schwach und krank, und er hatte falschen Anschuldigungen gegen sich selbst gelauscht, vorgebracht von Jungen, die er einst seine Freunde genannt hatte. Er erinnerte sich an die Kälte, die er in den Augen einiger dieser Jungen gesehen hatte, die Art und Weise, wie sie sich in ihren Stühlen vorgelehnt hatten, als Seth das Wort Hinrichtung erwähnt hatte. Für sie war er nichts als ein Haufen Fleisch gewesen, ein Stück Dreck, das jederzeit aus einer Luftschleuse geworfen werden konnte. Dieses eine Mal hatte Seth die Crew überzeugt, und genau das konnte wieder geschehen, falls es Kieran nicht gelang, die Unterstützung für seine Person zu festigen – und zwar mit allen erforderlichen Mitteln.

»Inzwischen habt ihr bereits davon gehört, dass Sarah Hodges und Waverly Marshall in der Brig festgehalten werden. Ich wette, dass das einige von euch ziemlich wütend macht. Nun, auch mich macht das ziemlich wütend. Ich möchte klarstellen, dass sie nicht festgehalten werden, um eine persönliche Rechnung zu begleichen. Sie werden festgehalten, weil sie eine Untersuchung behindert haben, bei der es um eine Serie von Vorfällen auf diesem Schiff ging, die uns alle in höchstem Maße in Gefahr gebracht haben. Keinem einzigen unserer Crewmitglieder wird je erlaubt sein, uns oder unsere Mission zu gefährden. Darauf gebe ich euch mein Wort.«

Einmal mehr studierte er die Gesichter in der Menge. Noch immer musterten viele ihn misstrauisch, aber sie hörten ihm zu. Sie hatten ihm nicht den Mund verboten, hatten ihn nicht ausgeschlossen. Mehr hatte er nicht erwarten können. Anhand des Nickens und der nachdenklichen Mienen konnte er sehen, dass nahezu alle Jungen hinter ihm standen. Er senkte den Kopf.

»Ich hätte mir etliche Jahre mehr gewünscht, in denen ich hätte lernen können, wie man ein solches Schiff führt. Aber Zeit ist ein Luxus, über den wir nicht verfügen. Jetzt, in diesem Augenblick, sind unsere Eltern in den Händen unserer Feinde, und wer weiß, was sie dort durchleiden müssen? Meine erste Priorität ist es, unsere Eltern zurückzuholen und euch alle währenddessen so gut wie möglich zu beschützen. Ich weiß, dass ich einen Haufen Fehler gemacht habe, aber für wen von uns gilt das nicht? In den letzten sechs Monaten hatten wir mehr Zusammenbrüche und Ausfälle in der Landwirtschaft als in den letzten fünf Jahren zusammen. Das liegt daran, dass unsere Wartungsmannschaft und unsere Maschinenführer Fehler machen. Nun, auch ich mache Fehler. Und jeder einzelne davon tut mir leid.«

Nun nahmen mehrere Gesichter in der Menge einen weicheren Ausdruck an. Seine Zuhörer erinnerten sich an ihre eigenen Fehler, die ihnen im Laufe der Zeit unterlaufen waren. Schon gab es weniger düstere Blicke.

»Und das bringt mich zu Seth Ardvale. Er entkam in derselben Nacht aus dem Arrest, in der die Schubdüsen fehlzündeten, und das macht ihn zu einer wertvollen Person für unsere Untersuchungen. Vielleicht könnte er uns sogar zu dem Terroristen führen, aber das könnte er nur tun, wenn es uns gelingt, ihn zu finden. Der Terrorist hat bereits einen von uns getötet und sich an der Navigation des Schiffs zu schaffen gemacht. Ich beschwöre euch, im Namen der Sicherheit eines jeden Einzelnen in diesem Raum: Wenn ihr irgendetwas über Seths Aufenthaltsort wisst, bitte tretet vor.«

Kieran sah sich um. Nun dachte seine Gemeinde nicht mehr so sehr an Sarah und Waverly; nicht mit einem gefährlichen Terroristen, der frei auf ihrem Schiff herumlief. (Er hatte das Wort Terrorist absichtlich gewählt.) Bereits jetzt wirkten die meisten der älteren Mädchen mehr besorgt als zornig, und ihre Augen waren alle auf ihn gerichtet.

»Uns steht eine Auseinandersetzung bevor. Wir müssen uns unseren Feinden entgegenstellen, Schulter an Schulter. Bis zum heutigen Tag bin ich nicht sicher, ob wir wirklich Seite an Seite gestanden haben. Ich habe von vielen Beschwerden gehört, von Zweifeln; von Menschen, die mehr hinterfragt als vertraut haben.« Kieran schlug mit der Faust in seine Handfläche. »So kann es nicht weitergehen! Wenn wir unseren Feinden nicht in einer geschlossenen Linie gegenübertreten, können wir nicht siegen. Sie sind älter, sie sind erfahrener, und sie sind uns zahlenmäßig überlegen. Wenn wir die New Horizon erreicht haben und die Herausgabe unserer Familien fordern, werden sie jede Zwietracht auf diesem Schiff, jeden Zweifel und jeden Streit zu ihrem Vorteil auszunutzen wissen. Aber wenn wir fest zusammenstehen, uns der gerechten Sache, für die wir einstehen, sicher sind, verspreche ich euch, dass wir siegen werden. Nicht nur weil wir jünger sind, stärker sind, tüchtiger sind – wir werden siegen, weil wir auf der Seite Gottes stehen, auf der Seite der Gerechtigkeit, und sie auf der Seite des Bösen. Und wie weit auch immer ihr in der Geschichte der Menschheit zurückblickt, werdet ihr sehen, dass das Gute am Ende immer über das Böse triumphiert.«

Er sah, wie sie die Blicke senkten und sich an das zu erinnern versuchten, was sie über die Geschichte der Erde wussten, und dann richteten sie ihre Blicke erneut auf ihn. Jetzt hatte er sie. Sie glaubten an ihn. Und wie sollten sie auch nicht an ihn glauben? Die Wahrheit sprach für sich selbst. Sie sprach zu ihren Seelen, verdrängte ihre Zweifel, besänftigte ihren Zorn, legte ihre Konflikte bei. Falls er je gezweifelt hatte, Gottes Willen zu verkünden, so war der heutige Tag der Beweis dafür, dass er tat, was zu tun er geschaffen worden war, was sein Schöpfer von ihm verlangte. Es war seine Bestimmung, dieses Schiff in die Zukunft zu führen. Er wusste es.

»Werdet ihr euch mir anschließen? Lasst uns unsere Streitigkeiten begraben; lasst uns zusammenstehen hinter einem gemeinsamen Ziel. Lasst uns einen Bund schließen, genau jetzt, genau hier. Wir sind einzelne Individuen und doch verbunden!« Er reckte seine Fäuste hoch über den Kopf und hob sein Gesicht den Lichtern an der Decke entgegen. »Und wir werden niemals zulassen, dass sie uns trennen!«

Seine Stimme hallte durch den Raum, und seine Gemeinde antwortete mit lauten Jubelschreien. Seine Gefolgsleute reckten ebenfalls ihre Fäuste, stießen sie immer wieder in die Luft und sangen »Kyrie eleison!«. Es geschah nur langsam, aber nach und nach stimmten auch die anderen Kinder ein, sangen den Segen und jubelten. Er spürte das Donnern ihrer Stimmen im galoppierenden Trommeln seines Herzschlags, und er lächelte zu ihnen hinunter. Gott war an seiner Seite. Wie hatte er je befürchten können zu scheitern?

Er war in Sicherheit. Einmal mehr in Sicherheit.

Sternenfeuer: Vertraue Niemanden: Roman
titlepage.xhtml
CR!3HQTFQGYZS2RZANYH9MJM9BQ5S4V_split_000.html
CR!3HQTFQGYZS2RZANYH9MJM9BQ5S4V_split_001.html
CR!3HQTFQGYZS2RZANYH9MJM9BQ5S4V_split_002.html
CR!3HQTFQGYZS2RZANYH9MJM9BQ5S4V_split_003.html
CR!3HQTFQGYZS2RZANYH9MJM9BQ5S4V_split_004.html
CR!3HQTFQGYZS2RZANYH9MJM9BQ5S4V_split_005.html
CR!3HQTFQGYZS2RZANYH9MJM9BQ5S4V_split_006.html
CR!3HQTFQGYZS2RZANYH9MJM9BQ5S4V_split_007.html
CR!3HQTFQGYZS2RZANYH9MJM9BQ5S4V_split_008.html
CR!3HQTFQGYZS2RZANYH9MJM9BQ5S4V_split_009.html
CR!3HQTFQGYZS2RZANYH9MJM9BQ5S4V_split_010.html
CR!3HQTFQGYZS2RZANYH9MJM9BQ5S4V_split_011.html
CR!3HQTFQGYZS2RZANYH9MJM9BQ5S4V_split_012.html
CR!3HQTFQGYZS2RZANYH9MJM9BQ5S4V_split_013.html
CR!3HQTFQGYZS2RZANYH9MJM9BQ5S4V_split_014.html
CR!3HQTFQGYZS2RZANYH9MJM9BQ5S4V_split_015.html
CR!3HQTFQGYZS2RZANYH9MJM9BQ5S4V_split_016.html
CR!3HQTFQGYZS2RZANYH9MJM9BQ5S4V_split_017.html
CR!3HQTFQGYZS2RZANYH9MJM9BQ5S4V_split_018.html
CR!3HQTFQGYZS2RZANYH9MJM9BQ5S4V_split_019.html
CR!3HQTFQGYZS2RZANYH9MJM9BQ5S4V_split_020.html
CR!3HQTFQGYZS2RZANYH9MJM9BQ5S4V_split_021.html
CR!3HQTFQGYZS2RZANYH9MJM9BQ5S4V_split_022.html
CR!3HQTFQGYZS2RZANYH9MJM9BQ5S4V_split_023.html
CR!3HQTFQGYZS2RZANYH9MJM9BQ5S4V_split_024.html
CR!3HQTFQGYZS2RZANYH9MJM9BQ5S4V_split_025.html
CR!3HQTFQGYZS2RZANYH9MJM9BQ5S4V_split_026.html
CR!3HQTFQGYZS2RZANYH9MJM9BQ5S4V_split_027.html
CR!3HQTFQGYZS2RZANYH9MJM9BQ5S4V_split_028.html
CR!3HQTFQGYZS2RZANYH9MJM9BQ5S4V_split_029.html
CR!3HQTFQGYZS2RZANYH9MJM9BQ5S4V_split_030.html
CR!3HQTFQGYZS2RZANYH9MJM9BQ5S4V_split_031.html
CR!3HQTFQGYZS2RZANYH9MJM9BQ5S4V_split_032.html
CR!3HQTFQGYZS2RZANYH9MJM9BQ5S4V_split_033.html
CR!3HQTFQGYZS2RZANYH9MJM9BQ5S4V_split_034.html
CR!3HQTFQGYZS2RZANYH9MJM9BQ5S4V_split_035.html
CR!3HQTFQGYZS2RZANYH9MJM9BQ5S4V_split_036.html
CR!3HQTFQGYZS2RZANYH9MJM9BQ5S4V_split_037.html
CR!3HQTFQGYZS2RZANYH9MJM9BQ5S4V_split_038.html
CR!3HQTFQGYZS2RZANYH9MJM9BQ5S4V_split_039.html
CR!3HQTFQGYZS2RZANYH9MJM9BQ5S4V_split_040.html
CR!3HQTFQGYZS2RZANYH9MJM9BQ5S4V_split_041.html
CR!3HQTFQGYZS2RZANYH9MJM9BQ5S4V_split_042.html
CR!3HQTFQGYZS2RZANYH9MJM9BQ5S4V_split_043.html
CR!3HQTFQGYZS2RZANYH9MJM9BQ5S4V_split_044.html
CR!3HQTFQGYZS2RZANYH9MJM9BQ5S4V_split_045.html
CR!3HQTFQGYZS2RZANYH9MJM9BQ5S4V_split_046.html
CR!3HQTFQGYZS2RZANYH9MJM9BQ5S4V_split_047.html