Inoffizielle Ermittlungen

Seth saß auf dem Boden des Nadelwalds, zerlegte Kiefernzapfen und stopfte sich die Nüsse in den Mund, die zwischen den holzigen Ärmchen saßen. Er fühlte sich wie ein gottverdammtes Eichhörnchen, aber er wusste auch, dass er mehr als alles andere Eiweiß benötigte – und zumindest das boten ihm die Nüsse.

Wieder und wieder ließ er die Durchsage Revue passieren. Kieran war tiefer gesunken, als er es je für möglich gehalten hätte, und hatte tatsächlich behauptet, er, Seth, würde gemeinsame Sache mit dem blinden Passagier machen. Er hatte gewusst, dass etwas in dieser Art geschehen könnte, aber es schmerzte ihn noch immer zu wissen, dass das Schiff und all seine Passagiere ihn nun des Verrats bezichtigten. »Kluger Schachzug, Kieran«, murmelte er.

Er griff nach einem weiteren Zapfen, zog die trockenen Ärmchen hinunter und versuchte, die kleinen Nüsse zu fassen zu kriegen. Die einzige Möglichkeit, die ihm blieb, um sich zu rehabilitieren, war, den Bastard selbst in die Finger zu bekommen. Als er an einer der kleinen, süßen Nüsse knabberte, versuchte er, wie ein Saboteur zu denken. Was wäre dann sein nächster Schritt?

Es schien naheliegend zu sein, das Schiff lahmzulegen, aber ohne einen Zugang zum Maschinenraum würde das schwierig werden. Und der war nun bewacht. Er könnte natürlich ein EMS nutzen, um die Maschinen von außen zu deaktivieren, aber ohne irgendeine Art von Explosion beziehungsweise explosivem Material wäre auch dieser Plan zum Scheitern verurteilt. Wenn der Saboteur blinder Passagier auf Waverlys Shuttle von der New Horizon gewesen war, dann bezweifelte Seth, dass er in der Lage gewesen war, irgendwelche Waffen mitzunehmen. Was bedeuten würde, dass er im Falle einer Manipulation von außen selbst eine Bombe würde bauen müssen.

Aber wo würde er die Materialien dafür finden?

Seth lehnte sich zurück, und der Teppich aus Kiefernnadeln knisterte unter seinem Gewicht. Er wusste gar nichts über das Bauen von Bomben. Das Einzige, das ihm einfiel, war, die Labore zu checken, wo es alle möglichen Chemikalien gab.

Er strich sich die Nadeln von der Kleidung, verließ den Wald und genoss die warme Luft, die ihn auf dem Korridor empfing. Er ging zum Treppenhaus an der Außenhülle, öffnete die Tür, um hindurchzugehen, und verharrte erschrocken, als er ein paar Ebenen über sich Stimmen hörte. Schnell zog er sich zurück, kauerte sich hinter der Tür zusammen und versuchte zu lauschen.

Die Stimmen kamen näher – zwei Jungen, die ausgelassen darüber diskutierten, was sie mit dem »Terroristen« tun würden, wenn sie ihn je zu fassen bekämen. Ihre Schritte wurden lauter und lauter, bis die Jungen und ihn nur noch die Tür zum Treppenhaus voneinander trennte.

Dann hielten sie inne.

»Riechst du das?« Das klang nach Troy Halderson, einem stämmigen Dreizehnjährigen.

»Ob ich was rieche?«

»So etwas wie der schlimmste Körpergeruch der Welt.«

»Alter, ich hatte auch schon etwas in der Art sagen wollen, aber –«

»Ich habe heute Morgen geduscht.«

»Tja, du riechst wie ein Hühnerstall.«

Sie umrundeten die Kurve am Treppenabsatz und gingen zum nächsten Level hinunter. Seth roch an seinem T-Shirt und verzog das Gesicht. So wie er stank, würde er sich nicht lange im Verborgenen halten können. Zum Glück gab es in den Laboratorien Duschen – etwa um sich bei einem Missgeschick Chemikalien abwaschen zu können. Sie waren einfach ausgestattet, funktionierten aber.

Seth wartete, bis die Stimmen der Wachen verklangen. Vollkommen lautlos öffnete er die Tür einen schmalen Spalt und schlüpfte hindurch in das Treppenhaus.

Eilig schlich er die metallenen Stufen empor, immer an der Wand entlang, und näherte sich so dem Chemielabor. Er hielt Augen und Ohren offen, aber die gesamte Ebene schien vollkommen verlassen zu sein.

Er schlüpfte in das Labor und verriegelte die Tür hinter sich.

Der erste Anblick, der sich ihm bot, entsetzte ihn – ein Untersuchungstisch war übersät mit Dutzenden leerer Schachteln. Die Oberfläche war bedeckt mit Spuren eines weißen Pulvers, das er nicht erkannte, und dazwischen standen leere Patronen flüssigen Stickstoffs. Seth warf einen Blick in den Ausguss, wo er etliche leere Messbehälter fand, an deren Innenseite korrodierender brauner Dünger klebte. Er roch an ihnen und hustete.

Vielleicht hatte der Saboteur diese Sachen zurückgelassen! Er musste Kieran eine Nachricht zukommen lassen, aber das war unmöglich ohne den tragbaren Computer seines Vaters, den er in dem Kiefernwäldchen zurückgelassen hatte. Außerdem brauchte er noch immer eine Dusche. Eine sehr schnelle Dusche.

Er rannte zu den Duschkabinen am Ende des Raums. Gott liebte die Naturwissenschaftler, es gab sogar Shampoo. Seth wünschte sich nichts mehr, als sich selbst in dem Gefühl des heißen Wassers zu verlieren, das seine Haut hinabrann, aber er zwang sich dazu, die Sekunden herunterzuzählen, bis er bei einhundert angekommen war, schrubbte erbittert und drehte dann das Wasser ab.

Er trocknete sich mit einem Laborkittel ab und durchsuchte dann die Spinde, bis er ein sauberes T-Shirt und eine saubere Hose fand, die auf einem Bügel in einem der Spinde hingen. Er hatte den Raum schon fast wieder verlassen, aber dann drehte er noch einmal um und raffte alle Kleidungsstücke zusammen, die er finden konnte. Er fand sogar einen selbstgestrickten Pullover. Er war zu klein, aber in den kalten Treppenhäusern und in den Kiefernwäldchen würde er ihm gute Dienste leisten. Mit seinem kleinen Kleidungsbündel unter dem Arm ging er zurück in Richtung Tür, in Gedanken bei seiner Nachricht an Kieran.

»Werter heiliger Kieran, erlöse uns von allem Bösen«, murmelte er leise und kicherte.

Als er seine Hand gerade nach dem Türknauf ausstreckte, traf ihn ein Schlag aus dem Hinterhalt.

Sein Kopf klatschte gegen die Metalltür vor ihm. Für den Bruchteil einer Sekunde verlor er jede Orientierung, aber es gelang ihm, nicht zu stürzen und sich umzuwenden und seinen Angreifer anzusehen. Alles, was er sah, war ein Metallstuhl, der auf seinen Kopf zuraste. Er duckte sich, aber er war nicht schnell genug, und eine scharfe Kante des Stuhls zerriss ihm die Kopfhaut.

Er zwinkerte, dachte zunächst, er wäre erblindet. Seine Augen füllten sich mit dickflüssigem, heißem Blut. Er wischte es mit der rechten Hand fort, während er die linke nach seinem Angreifer ausstreckte. Seth ertastete drahtiges Haar, griff danach, drehte sich mit all seiner Kraft um die eigene Achse, und schmetterte den Kopf des Angreifers gegen die Wand, dann noch einmal.

Der Blick durch seine blutverklebten Augen glich dem durch einen roten Filmfilter. Er sah eine unförmige Gestalt, die sich krümmte und vorstieß, dann rammte sich eine Schulter mit aller Macht in seinen Bauch.

Der Aufprall presste ihm die Luft aus den Lungen, und er ging zu Boden, trat blind um sich, kämpfte darum, wieder zu Atem zu kommen. Hilflos am Boden liegend, rollte er sich zur Seite und bedeckte seinen Kopf schützend mit den Armen. Brutale Schläge prasselten auf ihn nieder. Eine harte Stiefelsohle donnerte gegen seinen Brustkorb, einmal, zweimal, trieb den Schmerz Splittern gleich immer tiefer hinein in seine Brust. Das Licht im Raum verblasste.

Das Licht in Seth verblasste.

Und dann kam die Ohnmacht.


Als er wieder zu sich kam, erwartete er, sich in dem Kiefernwäldchen zu befinden. Doch statt Kiefernnadeln sah er über sich eine metallene Arbeitsplatte und das flackernde Licht von Neonröhren. Er hatte nicht die geringste Ahnung, wie er hierhergekommen war.

»Was ist passiert?«, flüsterte er.

Niemand antwortete.

Er lag auf einem kalten Steinfußboden und zwang seine Augen dazu, sich ganz zu öffnen. Er war verletzt, schwer verletzt. Langsam entspannte er sich, überprüfte seine Beine, seine Gelenke, seine Arme – alles war noch an seinem Platz. Er setzte sich auf.

Ein sengender Schmerz fuhr durch seine Brust.

Oh, es tat so weh!

Kann nicht atmen. Gebrochene Rippe. Vielleicht zwei.

Er zwang sich dazu, kurz und flach zu atmen, dann richtete er sich auf, schwankte und sah sich um. Er war in einem der Labore, und er trug sonderbare Kleidung. Er humpelte zu einem Spiegel. Sein Gesicht sah aus wie eine Halloween-Maske. Unter seinem rechten Auge prangte ein Bluterguss, und Strähnen aus Blut bedeckten sein Gesicht. Er hielt den Kopf unter das Licht und fuhr sich durch das Haar, dort, wo ein Schnitt seine Kopfhaut spaltete. Der Riss war rund zehn Zentimeter lang, und er war tief. Blut quoll daraus hervor. Die Wunde würde genäht werden müssen.

Das Letzte, an das er sich erinnern konnte, war, dass er Kiefernkerne gegessen und darüber nachgedacht hatte, wie er sich dem Saboteur nähern könnte …

Vermutlich habe ich ihn gefunden, dachte Seth bitter. Das haben mir nicht Kieran und seine Kumpels angetan. Wenn sie es gewesen wären, säße ich jetzt bereits wieder in der Brig.

Er zog sein blutiges T-Shirt aus – eines, das er nicht wiedererkannte –, wandte sich um und wimmerte wegen des Schmerzes in seinen Rippen. Seine gesamte rechte Körperhälfte war ein Schlachtfeld blauer Flecken. So schlimm er jetzt auch aussah, er wusste, dass er am Morgen zehnmal schlimmer aussehen würde.

Er brauchte Hilfe.

Er humpelte zurück zur Tür und lauschte, dann schlüpfte er hinaus und kämpfte sich im Korridor hinunter in Richtung Backbord – ein weiter Weg. Diese Ebene wurde selten genutzt, aber er hatte dennoch Glück, in niemanden hineinzulaufen. Einmal im Treppenhaus angekommen, hielt er inne, versuchte ruhig zu atmen und hoffte, dass seine Lunge nicht punktiert worden war. Er war schon oft zusammengeschlagen worden, aber erst jetzt verstand er, was sein Vater immer gesagt hatte: »Wenn ich dich schlage, gebe ich nur vierzig Prozent, Junge.«

»Ich liebe dich auch, Dad«, murmelte Seth, doch dann erinnerte er sich daran, wo er war, und hielt inne, um zu lauschen. Er glaubte unter sich Schritte gehört zu haben, aber sie waren weit entfernt, in der Nähe der Regenwaldebene, vielleicht noch tiefer.

Seth stützte sich auf dem Handlauf ab und ließ sich langsam das Treppenhaus hinuntergleiten, wobei er das Geländer einen Teil seines Gewichts tragen ließ. Sein Oberschenkel schmerzte, aber sein Bein fühlte sich noch immer kräftig genug an, um ihn zu tragen – zumindest, wenn er auf dem Weg nicht von seinem grauenvollen, pochenden Kopfschmerz übermannt werden würde.

Er bewegte sich langsam, bis er die Ebene mit den Wohnquartieren erreichte, dort lauschte er an der Tür.

Was, wenn sie mir nicht hilft?, dachte er, eine Hand gegen seine Seite gepresst. Aber sie wird mir helfen. Wenn sie mich sieht, wird sie mich bleiben lassen.

Der Korridor auf der Ebene der Wohnquartiere war still, aber jeden Augenblick konnte jemand kommen. Er musste sich beeilen. Er kämpfte gegen den Schmerz an, zwang sich dazu, schnell zu gehen, auch wenn seine Rippen dabei schrien. Der Schmerz war schlimm genug, um ihm die Sicht zu trüben – oder lag es an dem Blut in seinen Augen, dass jedes Bild, das er sah, in Rot getaucht zu sein schien? Er wusste es nicht. Nur eines wusste er: Wenn er sich nicht bald würde hinlegen können, würde er das Bewusstsein verlieren.

Niemand durfte ihn sehen, wenn er ihr Zuhause betrat, und so wandte er sich in Richtung des Wartungsraums in der Nähe ihrer Unterkunft. Er sah sich aufmerksam in dem Korridor um, hielt Ausschau nach Überwachungskameras, aber ebenso wie auf der Ebene seines Quartiers, war auch hier keine Kamera auf den Wartungsraum ausgerichtet. Dennoch unterschied dieser sich von jenem in der Nähe seiner Unterkunft, so dass er nicht sicher war, ob die Konstruktion des Raums dieselbe sein würde. Im Inneren fand er ein Spachtelmesser in einem schmutzigen Eimer und hebelte damit die Rückwand auf. Dann streckte er seinen Kopf in den schmalen Durchgang. Es sah ganz genauso aus wie der schmale Spalt hinter dem Apartment seines Vaters. Seth quetschte sich hinein, quälte sich, der Schweiß lief ihm in Rinnsalen das Gesicht hinab. Er schlängelte sich weiter, zählte die Leitungen, bis er sich nahezu sicher war, Waverlys Unterkunft gefunden zu haben. Dann hebelte er die Rückwand auf, fiel hinein in einen Schrank, der nach Sandelholz roch, erkämpfte sich seinen Weg durch die auf Bügeln hängende Kleidung und glitt schließlich hinein in einen dunklen Raum.

Er lauschte. Niemand schien zu Hause zu sein. Waverly hatte ihn nie in ihr Quartier eingeladen, nicht seit jener Geburtstagsparty, als sie fünf Jahre alt geworden waren. Was, wenn er in den Wohnräumen einer anderen Person gelandet war?

»Waverly?«, fragte er zaghaft. Er klang sogar verletzt, seine Stimme faserig und schwach, erschöpft vor Schmerz. Als niemand antwortete, setzte er nach, lauter diesmal: »Waverly?«

Er durchquerte den Flur, ging zu dem zweiten Schlafraum und schaltete das Licht ein. Eine große Raggedy-Ann-Puppe saß auf einem Stuhl in der Ecke, und über dem Doppelbett hing das Bild einer Frau, die auf einer Blumenwiese stand, einen Sonnenschirm über ihrem verschatteten Gesicht. Ein schwarzes Sweatshirt hing ordentlich über einer Stuhllehne, und Seth griff danach und roch daran. Waverly. Das hier war definitiv ihr Quartier.

Er schaltete das Licht wieder aus, stand in der Dunkelheit und versuchte zu Atem zu kommen. Sein Herz schlug gegen seine gebrochenen Rippen, und es fühlte sich an, als würde es ihm noch mehr Knochen brechen wollen. Nichts wünschte er sich sehnlicher, als sich hinzulegen und sich auszuruhen.

Aber nein. Das konnte er nicht. Nicht bevor er den Schnitt genäht hatte.

Er wünschte sich, es gäbe einen anderen Weg, aber dann humpelte er ins Badezimmer, schaltete das Licht ein und sah in den Spiegel. Der klaffende Spalt gähnte in seiner Kopfhaut wie ein offener Mund, der in seinem Haar nistete. Die Seitenränder waren dick und weich wie Lippen. Klammerpflaster würden nicht ausreichen. Wenn er die Wunde nicht schloss, würde sie sich definitiv entzünden.

Er wusste, dass er auf Waverly hätte warten sollen, um sie es tun zu lassen. Aber er konnte den Gedanken nicht ertragen, irgendeine andere Person auch nur in die Nähe der grausamen Schnittwunde kommen zu lassen. Nicht einmal sie.

Seth humpelte ins Wohnzimmer zu Waverlys Nähtisch, und dieses eine Mal erlaubte er sich zu weinen. Er wählte einen schwarzen Faden, der stark genug aussah, und die dünnste Nadel, die er finden konnte.

»Vier Stiche, das ist gar nichts«, sagte er zu sich selbst mit zitternder Stimme. »Eins, zwei, drei, vier, fertig.« Unter dem Waschbecken im Badezimmer fand er eine antiseptische Lösung, Wattebäusche und eine Mullbinde, die er über der Wunde würde verknoten können.

Er richtete sich wieder auf, studierte sein Spiegelbild und versuchte den Jungen, den er dort sah, einzuschätzen: Bist du stark genug? Schaffst du das? Das Blut war in seinen Stirnfalten geronnen, und ebenso in den Linien um seinen Mund. So würde er vermutlich als alter Mann aussehen, dachte er und erstarrte. Vielleicht war er bereits ein alter Mann geworden. Vielleicht hatte all dies ihn alt gemacht.

Er schüttelte den Kopf. »Werd jetzt bloß nicht wahnsinnig, Ardvale.«

Zunächst schnitt er mit einer Schere das Haar an den Wundrändern ab, so nah an der Haut wie möglich. Er würde eine kahle Stelle zurückbehalten, aber das war nicht so wichtig. Dann betupfte er den Schnitt mit der antiseptischen Lösung. Der Schmerz brannte sich durch seinen Körper bis hinein in seine Seele, und er wurde fast ohnmächtig. Er wünschte, es gäbe eine schonendere Methode, seine Schmerzen zu lindern, aber er wusste, dass der einzige Ort, an dem man ihm anders würde helfen können, die Krankenstation war. Also musste er den durchdringenden physischen Schmerz ertragen und jede Schicht seiner Haut behandeln, bis er sicher war, dass der Schnitt wirklich gereinigt war. Aber auch wenn er es nicht war – viel länger würde er den Schmerz nicht ertragen können.

»Ich kann das schaffen«, sagte er, als er die Nadel in eine Flamme hielt und dann den Faden einfädelte. »Ich bin ein zäher Hurensohn«, sagte er, als er die Ränder des Schnitts zusammenpresste. »Das ist nichts. Andere Leute haben viel schlimmere Dinge überlebt.«

Dennoch hielt er die Nadel für eine lange Zeit einfach nur fest in Position, starrte sie an und wusste doch, dass es schlimmer werden würde, je länger er es hinauszögerte. Er musste die Sache einfach hinter sich bringen, dann würde er schlafen gehen können. Nur dass es in der Realität nicht so einfach war, sich in das eigene, wunde Fleisch zu stechen. Er musste jeden Instinkt in sich niederkämpfen, der ihm verbot, sich selbst zu verletzen. Und die Angst vor dem Schmerz. Wie schrecklich es sein würde. Wie grauenhaft es schmerzen würde.

»Das ist alles nur halb so wild«, teilte er seinem Spiegelbild mit. »Du willst schließlich nicht an einem kleinen Schnitt sterben, richtig?«

Er stieß die Nadel durch seine Kopfhaut und schrie. Er konnte es nicht verhindern. Der Schmerz war vernichtend, aber er zwang sich, auch die andere Seite des Schnitts zusammenzudrücken und die Nadel von der gegenüberliegenden Seite aus einmal mehr in das rohe, blutige Fleisch zu schieben. Tränen strömten sein Gesicht herab und klatschten in roten Rinnsalen in den Ausguss. Aber mit zitternden Fingern gelang es ihm doch, den ersten Stich so fest zu vernähen, wie er es aushalten konnte.

Dann erbrach er sich. Er hatte nicht einmal bemerkt, dass ihm übel geworden war. Der nachfolgende Krampf überraschte ihn, riss an seinen Rippen, presste seine Knochen aneinander. Er schrie auf, hielt sich die Seite und legte die Stirn auf das kalte Porzellan. Er konnte sich nicht erinnern, in die Knie gegangen zu sein, aber hier saß er nun am Boden, mit schweißüberströmtem Gesicht.

Wie sollte er es schaffen, das Ganze noch einmal durchzustehen?

Diesmal brauchte er länger, um den Mut für den zweiten Stich zu finden, aber als die Nadel schließlich seine Haut durchdrang, tat es nicht mehr so weh wie beim ersten Mal. Irgendwie hatte sein Körper es geschafft, die Wunde zu betäuben, und er dankte Gott dafür. Jeder erfolgreiche Stich schmerzte weniger als der vorherige, aber seine Hand zitterte unkontrolliert, und sein Atem ging in abgehackten, raspelnden Zügen.

Letzten Endes brauchte er sechs Stiche, um den Schnitt zu schließen. Sie waren ungleichmäßig, ausgefranst und handwerklich sehr schlecht ausgeführt. Aber die Wunde war verschlossen. Seth zwang sich, sie noch einmal mit einem wundsalbengetränkten Wattebausch zu betupfen, dann legte er die Mullbinde über den Schnitt und wickelte sie um Kinn und Kopf. Er würde fürchterlich aussehen, wenn Waverly nach Hause kam, aber das ließ sich nun einmal nicht ändern.

Er beugte sich herab und trank aus dem Wasserhahn im Badezimmer, in tiefen Zügen floss das Wasser in seinen Mund. Dann durchforstete er den Medizinschrank, bis er Aspirin gefunden hatte. Er warf vier Tabletten gleichzeitig ein und wusste doch, wie wenig sie gegen seine Schmerzen würden ausrichten können.

Er brauchte Schlaf. Seine Beine zitterten, und sein Torso fühlte sich weich und schwankend an.

Er durchquerte den Flur, kam in einen dunklen Raum, war nicht einmal sicher, wohin er überhaupt unterwegs war, und schließlich tauchte ein zerwühltes Bett vor ihm auf. Er stöhnte und humpelte vorwärts, bis seine Knie die Matratze berührten; dann fiel er und versuchte noch, seine Rippen mit seinem Arm zu schützen. Die kühlen Laken umfingen ihn, und er glitt augenblicklich in einen unruhigen Schlaf.

Sternenfeuer: Vertraue Niemanden: Roman
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