Neue Regeln

Waverly lag unter einem Mähdrescher und zerrte an einem störrischen Bolzen einer leckenden Batterie, als sie das Knacken des Schiff-Interkoms hörte. Ihre Hände fühlten sich durch die erhöhte Schwerkraft schwer und geschwollen an, ihr Körper träge. Sie bettete ihren Kopf auf das duftende Erdreich und betrachtete das Fahrgestell der Maschine, während sie zuhörte.

»Hier spricht Kieran Alden. Bitte stellt ein, was immer ihr gerade tut, und hört mir zu, denn dies ist vielleicht die wichtigste Durchsage, die ich jemals machen werde.«

Waverly verdrehte die Augen. Seit er das Schiff übernommen hatte, neigte Kieran zu dramatischen Übertreibungen. Vermutlich war es das, was die Leute dazu brachte, ihm zuzuhören.

»Wir haben Grund zu der Annahme«, sagte Kieran, »dass wir einen Terroristen der New Horizon an Bord haben.«

Waverly wurde kreidebleich. Einige Leute um sie herum schrien laut auf. Zwei Mädchen, die das Öl an einem der Traktoren gewechselt hatten, hielten sich an den Händen und starrten mit weit aufgerissenen Augen auf den Lautsprecher des Interkoms. Waverly kam unter der Maschine hervor und stand auf, um besser hören zu können.

»Offensichtlich arbeitet Seth Ardvale mit ihm zusammen.«

»Niemals«, sagte Waverly, verstummte jedoch sofort wieder, als etliche Leute ihr bedeuteten, still zu sein.

»Wir glauben, dass Seth mit dem Terroristen zusammenarbeitet. Gemeinsam töteten sie Max Brent und brachten das Schiff durch Manipulation der Schubdüsen vom Kurs ab. Wir haben dringenden Grund zu der Annahme, dass die beiden bewaffnet sind.«

Etliche der Zuschauer schnappten alarmiert nach Luft, und Waverly hörte hektisches Wispern um sich herum.

»Hinzu kommt«, sagte Kieran, »dass der Terrorist mit dem von der New Horizon entkommenen Shuttle an Bord der Empyrean gekommen sein muss, das von Waverly Marshall gesteuert wurde.«

Waverly musste sich am Traktor abstützen.

»In Anbetracht dessen habe ich eine neue Regelung eingeführt, um die Sicherheit jedes Crewmitglieds nachgewiesenermaßen zu gewährleisten. Fortan wird es täglich Gottesdienste geben; die Teilnahme ist verpflichtend. Meldet euch jeden Morgen um acht Uhr in der Aula. Dort werden wir alle durchzählen und wichtige Ansagen machen. Außerdem werden wir unseren Tagesbeginn dort stets mit Reflexion, Gebeten und in Gemeinschaft verbringen. Wir müssen zusammenhalten, Leute. Jetzt ist nicht die Zeit für Zerwürfnisse und falsche Bündnisse. Wenn wir das hier überstehen wollen, müssen wir einander vertrauen. Danke für eure Aufmerksamkeit. Bitte fahrt jetzt mit euren Verpflichtungen fort.«

Waverly ließ ihren Schraubenschlüssel fallen. Ihr wurde bewusst, dass sie die Luft angehalten hatte, und sie öffnete den Mund, um zu atmen.

Auf ihrem Shuttle war ein blinder Passagier gewesen? Sie und die anderen Mädchen hatten fast einen Monat lang auf dem Shuttle gelebt und darauf gewartet, dass die Empyrean sich aus dem Nebel löste und sie Kontakt mit ihr aufnehmen konnten. Die Mädchen hatten das ganze Shuttle auf den Kopf gestellt, waren fast wahnsinnig geworden, während sie versuchten, nicht an den stetig schrumpfenden Berg der Nahrungsrationen im Frachtraum des Schiffs zu denken. Wo hätte ein blinder Passagier sich in all der Zeit verbergen sollen?

Sie hätte das Shuttle durchsuchen müssen, es auseinandernehmen, unter jedes Panel schauen, in jede Ritze kriechen müssen. Sie konnte einfach nicht glauben, dass ihr das passiert sein sollte!

Jetzt hatte Kieran und jeder andere auf dem Schiff einen Grund mehr, sie zu hassen.

Waverly warf ihre Arbeitshandschuhe zu Boden, ignorierte die wütenden Blicke der anderen – zornige pubertierende Kinder auf der Suche nach jemandem, den sie hassen konnten. Sie suchte ihr Heil in der Flucht. Sie pflügte durch das Weizenfeld, immer schneller und schneller, stampfte durch das knöchelhohe Erdreich, bis sie die Fahrstühle an der Backbordseite erreichte. Mit dem Handballen donnerte sie auf den Rufknopf und schlug dann zornig gegen die Wand, einmal, zweimal, bis irgendetwas an ihrem Handgelenk aufplatzte.

Schließlich öffnete sich die Fahrstuhltür wieder und gab den Blick auf einen leeren Korridor frei. Waverly fühlte kaum, wie ihre Füße den Boden berührten, während sie durch die gespenstischen Reihen der Ein-Mann-Gefährte zu dem Shuttle rannte, das sie hierhergebracht hatte. Sie hatte es niemals wiedersehen wollen, aber jetzt rannte sie die Rampe hinauf und in den Frachtraum.

Es stank fürchterlich. Wieder erinnerte sie sich an ihre grauenvolle Reise zurück aus der Gefangenschaft auf der New Horizon. Das Shuttle war dazu gedacht, dem Bodenpersonal bei Terraformingprojekten während der ersten Besiedlungsphase auf New Earth zu dienen. Deshalb war es ausgestattet mit Wasser, Umluft und auch mit Essensrationen. Aber für die Raumfahrt war es ungeeignet. Es gab lediglich rudimentäre Systeme, um mit der Schwerelosigkeit umzugehen, was es nahezu unmöglich machte, zu essen oder des Mülls an Bord Herr zu werden. Die Lagerräume sahen aus wie ein Schlachtfeld.

Sie erklomm die Stufen zum Passagierbereich, wo es noch schlimmer aussah. Weggeworfene Nahrungsmittelbehälter bedeckten den Boden, und die Sitze befanden sich in unterschiedlichsten Liegepositionen. Sie erinnerte sich an das Weinen, das Flehen, die endlosen Fragen: »Wie lange noch? Die Empyrean ist immer noch irgendwo dort draußen, nicht wahr, Waverly?« Und die schlimmste Frage von allen, in Endlosschleife wiederholt von praktisch jedem Mitglied der Crew: »Warum hast du meine Mutter nicht retten können? Meinen Vater? Meinen Onkel? Warum hast du sie zurückgelassen?«

Sie hätte ihnen die Schusswunde an ihrer Schulter zeigen können, aber sie würde ihnen niemals verständlich machen können, wie es wirklich gewesen war.

Das Bild eines sterbenden Mannes. Das Blut auf seinem T-Shirt. Eines Mannes, der gestorben war. Ihretwegen.

»Ich denke nicht mehr daran«, sagte sie laut.

»Hallo?« Eine Jungenstimme. Eine, die sie nicht wiedererkannte.

Waverly sprang zurück. Jemand war im Cockpit des Shuttles!

Ihr Herzschlag überschlug sich, und sie wich einen Schritt zurück, aber dann steckte Arthur Dietrich seinen Kopf durch die schmale Tür und lächelte. »Ich dachte mir schon, dass du herkommen würdest. Als du die Durchsage gehört hast, meine ich.«

Waverly antwortete nicht, sondern beobachtete Arthur. Sie wartete darauf, dass er noch etwas sagen würde, weil sie es nicht konnte.

»Ich bin froh, dass du hier bist«, sagte Arthur. Er drehte sich wieder zum Cockpit herum und winkte sie zu sich. »Irgendwelche Ideen, wo er sich versteckt haben könnte?«

Waverly folgte ihm langsam in das Cockpit, wo Arthur sich im Stuhl des Copiloten niedergelassen hatte. Hier hat Sarah gesessen, dachte sie irrationalerweise, verkniff sich aber die Bemerkung. Der Monitor in der Mitte der Steuerkonsole flackerte und warf Schatten auf Arthurs rundliches Gesicht. Er betrachtete ein Video, das die letzten Minuten zeigte, ehe das Shuttle von der New Horizon aufgebrochen war.

»Ich wusste noch nicht einmal, dass wir eine Kamera an Bord hatten«, sagte Waverly.

»Sie hat sich eingeschaltet, als die Maschinen hochgefahren sind, und dokumentiert Start und Landung eines Shuttles. Für den Fall, dass es einen Unfall gibt.«

»Oh, okay.«

»Ich kann nicht sehen, wie der blinde Passagier an Bord gekommen ist«, sagte Arthur. »Kann es passiert sein, bevor ihr die Shuttle-Rampe erreicht habt?«

»Sarah hat die Mädchen an Bord gebracht. Ich war die Letzte.«

»Oh, stimmt. Da bist du ja.« Arthur deutete auf den Bildschirm, und Waverly sah sich selbst – ein dürres, verzweifeltes Mädchen, das durch eine Menge gütig dreinblickender Frauen humpelte. In den Augen nichts als Zorn, Knoten in den Haaren, den Arm triefend vor Blut. Sie bewegte sich wie ein verwundetes Tier und richtete ihre Waffe auf jeden, der sich ihr näherte.

»O mein Gott, Waverly«, sagte Arthur und starrte sie schockiert an. »Ich hatte ja keine Ahnung –«

»Nicht.« Waverly hob die Hand, und Arthur wandte sich schnell wieder dem Video zu.

»Da! Was ist das?« Arthur deutete auf einen Proviantwagen, der von einer Gruppe von Frauen zu dem Shuttle gerollt wurde. Die Waverly auf dem Bildschirm beäugte die Frauen misstrauisch und bewegte sich dann langsam auf das Shuttle zu, die Mündung ihrer Waffe noch immer auf die Menge gerichtet.

Diese Episode ihres Lebens noch einmal zu sehen machte sie krank. Was war aus ihr geworden? War sie noch immer genauso innerlich erstarrt wie das Mädchen, das sie auf dem Vidschirm sah?

War sie noch immer eine Mörderin?

»Glaubst du, jemand ist auf diesem Wagen in das Shuttle gelangt?«, fragte Arthur sie.

»Unmöglich«, sagte sie, mit einem Schlag zurück in der Gegenwart. »Der Wagen war voller Lebensmittel. Und siehst du den anderen Wagen? Der ist voll mit Wasser. Unmöglich, dass auch noch ein Mensch hineingepasst haben könnte.«

Sie beobachtete, wie die Frauen ein paar Minuten später von dem Shuttle zurücktraten, als die Maschinen langsam zum Leben erwachten. Das Shuttle löste sich aus der Luftschleuse, glitt dann hinaus und entfernte sich von der New Horizon, die kleiner und kleiner wurde und schließlich am schwarzen Himmel verschwand.

Aber die New Horizon ist noch immer dort draußen, mahnte Waverly sich selbst. Sie ist nicht verschwunden. Und sie wartet auf uns. Weil sie hat, was wir begehren – und das ließ sie wieder Oberwasser gewinnen.

»Warte«, sagte Arthur. »Ich dachte, da war …« Er spulte zurück, und noch einmal sahen sie zu, wie die New Horizon schrumpfte, bis Arthur die Pausentaste drückte. »Da!« Er deutete auf einen trüben, verschwommenen Punkt, der in dem Standbild schwebte, genau über der New Horizon.

»Was?«

»Ein Ein-Mann. Das ist ein EMS!«

Waverly kniff die Augen zusammen, starrte auf den Monitor, und Arthur ließ das Bild weiterlaufen. Der Punkt entfernte sich von der New Horizon und bewegte sich auf das Shuttle zu. Zügig geriet das EIN-MANN-SHUTTLE an der unteren Seite des Bildschirms außer Sicht, aber es war unverkennbar.

»Er hat sich an eure Fersen geheftet. Hat es geschafft, anzudocken. Und irgendwie ist er dann an Bord gekommen und hat sich versteckt.«

»Wie? Wann?«

»Er muss die schmale Luftschleuse im Frachtraum benutzt haben.«

Arthur erhob sich, winkte sie zu sich, und Seite an Seite gingen sie hinunter in den Frachtraum. Achtern war eine mannsgroße Luke, mit einem winzigen Bullauge in der Tür. Arthur und Waverly starrten durch das zerkratzte Glas, und die Gesichtsmaske eines leeren EMS starrte zurück. »Die Jungs haben das hier nicht bemerkt?«

Zunächst war Waverly zu perplex, um zu sprechen, doch dann fand sie ihre Stimme wieder und sagte: »Ich glaube, ich habe hier einmal hineingesehen, nur um zu wissen, was darin ist. Das EMS schaute in die andere Richtung, so dass ich nur seinen Rücken sehen konnte.«

Sie schauderte. Sie hatte genau auf den blinden Passagier gestarrt, verborgen in diesem Anzug, und sie hatte ihn nicht bemerkt. »Ich dachte, das EMS gehöre hier zur Standardausstattung.«

Arthur nickte. »Vermutlich hätte ich genau dasselbe gedacht.«

»Vielleicht hat er sogar in dem Ding geschlafen, seine Zeit darin verbracht.«

»Natürlich. Es wird vermutlich etwas eng da drin, aber wenn er das Luftventil offen gelassen hat, könnte er nahezu die ganze Zeit dort drinnen geblieben sein.«

»Stimmt«, sagte Waverly. »O mein Gott, Arthur!«

Er legte ihr eine Hand auf die Schulter und wartete, bis sie ihn ansah. »Waverly, auch wir hätten daran denken müssen. Wir hätten das Shuttle durchsuchen, es unter Quarantäne stellen müssen. Verdammt, wir hätten es abwerfen müssen.«

Sie nickte. Sie verstand, warum Kieran Arthur so sehr mochte. Er war freundlich.

Gemeinsam gingen sie die Shuttle-Rampe hinunter, und Arthur drückte den Knopf, der die Rampe wieder schloss. Waverly sah zu, wie der stumme Zeuge ihrer schrecklichen Heimreise hinter der Tür verschwand.

»Es gibt da etwas, das ich dir sagen muss«, meinte Arthur, als sie den verlassenen Shuttle-Hangar durchquerten. Die Ein-Mann-Gefährte an den Wänden schienen sich an ihren Haken vorzubeugen, die Köpfe geneigt, als würden sie versuchen, ihrem Gespräch zu lauschen. Waverly mochte es nicht, sie anzusehen. Sie erinnerten sie daran, wie viele Leute nicht mehr auf dem Schiff waren.

»Du wirst wütend werden.«

Jetzt hatte er ihre Aufmerksamkeit. »Was? Wovon sprichst du?«

»Zunächst möchte ich dein Wort – dein Versprechen, dass du nicht jetzt gleich handeln wirst. Du und ich werden darüber nachdenken, was zu tun ist, und wir werden einen Plan entwickeln, und dann werden wir ihn umsetzen. Wir werden unsere Emotionen nicht die Oberhand gewinnen lassen, okay?«

»Was ist passiert? Hat er Seth gefangen genommen?« Plötzlich kam ihr der Rest von Kierans Durchsage wieder ins Gedächtnis. »In keinem Fall würde Seth mit dem Spitzel zusammenarbeiten, Arthur! Das ist unmöglich! Mit dieser Ansage lag Kieran falsch.«

Die Panik in ihrer Stimme schien Arthur zu denken zu geben, und er betrachtete sie mit gerunzelten Brauen.

Sie senkte den Kopf. Arthur mochte freundlich sein, aber seine Loyalität gehörte Kieran. Das durfte sie nicht vergessen.

Gemeinsam gingen sie durch das Schott und in den Korridor. Arthur schloss die Tür des Shuttle-Hangars hinter ihnen. »Waverly, Sarah ist vor kurzem von Kieran aus dem Verkehr gezogen worden.«

»O mein Gott.«

»Du musst das trotzdem verstehen. Sarah hat ihn wirklich gereizt, hat angedeutet, sie wisse irgendetwas über die Flucht von Seth. Sie hat gesagt, sie wisse, warum unser Videoüberwachungssystem nicht funktioniert, aber sie weigerte sich, ihr Wissen mit uns zu teilen. Also hat Kieran –«

»Er hat sie in die Brig werfen lassen.«

Arthur nickte.

Waverly schüttelte den Kopf. Ihre Hände zitterten vor Zorn. Jeder Herzschlag schmerzte. »O mein Gott, Kieran.«

»Soweit ich es sehe, ist das Problem folgendes«, sagte Arthur. »Wenn Kieran wirklich Captain wäre, hätte er jedes Recht der Welt, sie für Befehlsverweigerung in die Brig werfen zu lassen.«

»Aber er ist nicht wirklich Captain.«

Arthur nickte.

»Und du möchtest eine Wahl einberufen, um ihm diese Macht zu geben?«

»In Bezug auf die Haltung der Crew ihm gegenüber mag es hilfreich sein. Wäre er auch offiziell Captain, hätte sich Sarah ihm gegenüber vielleicht kooperativer verhalten.«

»Oder der Mistkerl wäre schlicht noch unkontrollierbarer.«

Dazu schwieg Arthur.

»Also, was willst du diesbezüglich unternehmen?«

Arthur schien sich keine Mühe zu geben, über eine Antwort nachzudenken; er hatte offenbar bereits entschieden, was er Waverly zu tun bitten wollte. »Ich möchte, dass du mit Sarah sprichst, um sie dazu zu bringen, uns zu sagen, was mit der Videoüberwachung nicht in Ordnung ist. Dann kann ich mit Kieran sprechen und ihn dazu bringen, Sarah wieder rauszulassen. So können sie beide nachgeben und trotzdem ihr Gesicht wahren.«

Waverly seufzte schwer. »Haben wir eigentlich alle den Verstand verloren?«

»Kinder sollten sich mit derlei Dingen eigentlich überhaupt nicht beschäftigen.«

»Aber Erwachsene sind auch nicht besser«, sagte Waverly kläglich, weil sie daran dachte, wie Captain Jones und Anne Mather ihre Crews aus Erwachsenen so umfassend getäuscht und hintergangen hatten.

»Also wirst du es tun?«

Waverly nickte.

»Und du wirst damit nicht schnurstracks zu Kieran rennen?«

»Ich glaube, es ist das Beste, wenn wir uns erst einmal aus dem Weg gehen.«

»Morgen früh wäre eine gute Zeit, um Sarah zu besuchen«, sagte Arthur.

»Nein, ich gehe jetzt zu ihr.« Sie wandte sich um und ging in Richtung des Aufzugs, aber Arthur hielt sie auf, indem er eine Hand auf ihre Schulter legte. Sie wandte sich zu ihm um und sah, wie er sich unruhig auf die Unterlippe biss.

»Ich wollte nur, dass du weißt, dass Kierans Ausdrucksweise nicht meine Idee war. In dieser Durchsage, meine ich.«

»Wie genau meinst du das?«

»Ich meine, dass Kieran gesagt hat, dass der Terrorist mit dem Shuttle an Bord der Empyrean gekommen sein muss, das von Waverly Marshall gesteuert wurde.«

Sie starrte Arthur an, als verstünde sie erst jetzt, was Kierans Formulierung bedeutete. Natürlich. Indem er sie in einem Satz mit dem blinden Passagier erwähnte, schob er ihr die Verantwortung für dessen Anwesenheit auf dem Schiff zu. »Daran hatte ich noch gar nicht gedacht.«

»Ich hielt es für eine ziemliche Sauerei«, sagte Arthur betreten.

»Da hast du wohl recht.« Ihre Stimme klang fremd und kalt in ihren Ohren.

»Er steht stark unter Druck …«, hob Arthur an.

»Versuch es erst gar nicht«, sagte Waverly, schüttelte den Kopf, ließ Arthur stehen und entfernte sich in Richtung des Aufzugs an der Steuerbordseite. Als die Türen sich öffneten, trat sie ein und donnerte mit der Hand auf den Schalter. Es war ein weiter Weg bis hinunter zu den Arrestzellen, und je mehr sie über all das nachdachte, das Kieran getan hatte, desto zorniger wurde sie.

An der Talsohle des Schiffs angekommen, öffneten sich die Fahrstuhltüren, und Waverly machte sich auf den Weg in Richtung Brig. Das Wummern der Maschinen war hier unten besonders laut, und sie fragte sich, wie Seth dieses Geräusch Nacht für Nacht hatte ertragen können. Aber dann dachte sie, dass man sich vermutlich an alles gewöhnen konnte, wenn man musste.

Als sie den Korridor erreichte, der zur Brig führte, hörte sie Stimmen. Überwiegend Stimmen von Jungen, und dann ein Schrei, der nach Sarah klang.

Waverly rannte los, alle Warnungen Arthurs waren vergessen. Als sie den Zellentrakt erreichte, hielt sie inne und lauschte auf Sarahs Stimme. Hier unten gab es über ein Dutzend Zellen, und rechts und links von ihr erstreckte sich eine lange Reihe eiserner Gitterstäbe. Zu ihrer Linken hörte sie Geräusche und begann erneut zu rennen. In der dritten Zelle fand sie schließlich Kieran, der hoch über Sarah aufragte, die auf einem Gitterbett in der Mitte saß, umgeben von Jungen, die sie zornig anstarrten.

»Sarah, ich habe ein Schiff voller Kinder zu beschützen, und ich habe keine Zeit, irgendwelche Spielchen mit dir zu spielen.«

»Ich werde es dir sagen, wenn du mich hier rauslässt!«, knurrte Sarah durch zusammengebissene Zähne.

Kieran richtete sich noch weiter auf, die Hand erhoben, zitternd vor Zorn. Es sah aus, als wolle er sie schlagen.

»Hör auf!«, schrie Waverly. Sie raste an zwei Wachen vorbei, die sich vor der Zelle aufgebaut hatten. »Was verdammt noch mal tust du hier?«

Kieran starrte sie an, als würde er das soeben Geschehene noch einmal vor seinem inneren Auge Revue passieren lassen, um zu ermitteln, wie es von außen betrachtet gewirkt haben könnte. Aber er hatte sich schnell wieder im Griff. »Verschwinde hier, Waverly.«

»Nein! Ich werde dich damit nicht durchkommen lassen!« Ihre Stimme klang rauh und panisch.

Kieran packte sie am Ellbogen, aber sie riss sich los und wich zurück. »Du bist ein Monster! Ich kenne dich nicht!«

»Waverly«, sagte Kieran sanft, griff erneut nach ihrem Arm und schob sie aus Sarahs Zelle. Sie warf sich gegen ihn, aber sein Griff verstärkte sich schmerzvoll, und er drängte sie weiter aus der Zelle heraus. Ihre Füße rutschten über den Boden, als sie mit der freien Hand nach ihm zu greifen versuchte, bis es ihm schließlich gelang, ihr Handgelenk zu packen. Kaum waren sie in dem Korridor, schob er sie in eine Ecke und presste sich mit seinem Gewicht gegen sie, sein Blick fest auf ihren geheftet. Sein Gesicht war angeschwollen von dem Wasser, das sich dort durch die erhöhte Schwerkraft gesammelt hatte, und sie konnte die kleinen Kapillargefäße unter der Oberfläche seiner Haut deutlich sehen. Einst war er ihr so attraktiv erschienen, nun kam er ihr nur noch abscheulich vor.

»Waverly«, sagte er sanft. »Ich hatte nicht vor, ihr weh zu tun. Ich war nur wütend.«

»Klar, natürlich!«, spie sie ihm entgegen.

»Aber es ist die Wahrheit. Komm schon, du kennst mich. Ich bin kein Tyrann.«

»Du warst kein Tyrann, bis du dich selbst zum Captain ernannt hast.«

»Schau.« Er legte ihr einen seiner Finger ins Gesicht. »Ich habe hier einen Terroristen auf diesem Schiff, der meine Crew umbringt. Ich habe keine Zeit für Sarahs Dickköpfigkeit. Sie weiß, was mit dem Überwachungssystem nicht in Ordnung ist, und sie weigert sich zu sagen, was es ist.«

»Je mehr du sie auf diese Art behandelst, desto weniger wird sie dir helfen wollen!«

»Und was schlägst du vor?«

»Überzeuge sie mit Argumenten, um Gottes willen!«

»Willst du es versuchen?«, sagte er. Es klang wie eine rhetorische Frage, aber er hob dennoch hoffnungsvoll eine Augenbraue.

»Und wenn sie kooperiert, lässt du sie raus?«

»Natürlich.«

»Ich werde es versuchen«, sagte Waverly kühl. »Wenn du mir versprichst, niemals wieder irgendjemanden auf diesem Schiff zu bedrohen, egal aus welchem Grund.«

Dann entfernte sie sich von ihm und ging zurück in die Zelle. Die beiden Wachen, Harvey Markem und Vince Petrelli, warfen Kieran über ihre Schulter hinweg einen fragenden Blick zu. Harvey trug einen schmuddeligen Verband um die Stirn, wirkte aber ansonsten robust wie immer. Vince war ebenso groß wie Harvey, aber die Gesichter der beiden Jungen waren noch immer die von Kindern. Kieran musste ihnen ein nonverbales Zeichen gegeben haben, denn nun traten sie beiseite, ließen Waverly passieren, und sie ging zu Sarahs Zelle.

Das Mädchen sah erschüttert aus, aber noch immer stark. Sie starrte Kieran voller Hass an, aber als Waverly vor ihr in die Hocke ging, entspannte sie sich etwas.

»Sarah, wenn du weißt, wie wir das Videoüberwachungssystem wieder zum Laufen bringen können, musst du uns das sagen.«

»Warum muss ich das?«, spuckte Sarah ihr entgegen.

»Du weißt, warum. Weil ein blinder Passagier von der New Horizon an Bord ist und wir versuchen müssen, ihn zu finden.«

»Wir haben einen blinden Passagier?« Sarah riss ihre Augen so weit auf, dass sie fast nur noch weiß waren.

Waverly wandte sich zu Kieran um. »Du hast ihr das nicht gesagt?«

»Ich habe die Durchsage vor einer Stunde gemacht«, sagte Kieran, anscheinend selbst irritiert.

»Nun, ich habe es jedenfalls nicht gehört«, sagte Sarah. »Weil du nämlich die Lautsprecher im Zellentrakt nicht eingeschaltet hast, du Idiot!«

Kieran wollte aufbegehren, aber Waverly hielt eine Hand warnend vor ihm in die Luft. Das Beste für Sarah wäre im Augenblick, wenn es ihr gelänge, Kieran davon abzubringen, seine Fassung zu verlieren.

»Sarah«, sagte Waverly. »Wenn du wirklich irgendwelche Hintergrundinformationen –«

»Ich werde euch sagen, was ihr wissen müsst«, sagte Sarah, aber nicht zu Waverly. Mit Augen hart wie Murmeln starrte sie Kieran an. »Wenn du mich hier rauslässt.«

»Und ich werde dich hier rauslassen«, sagte Kieran, »nachdem du es mir gesagt hast.«

Sarah wandte sich erneut zu Waverly um und seufzte. »Kannst du meine Handfesseln lösen?«

Waverly umrundete sie und sah, dass ihre Hände bläulich rot waren. Die Kordel, mit der sie gefesselt waren, schnitt so eng ein, dass ihre Finger sich zu Klauen gekrümmt hatten. Waverly schüttelte den Kopf, womöglich noch wütender als zuvor, doch sie sagte nichts, als sie nun an dem Knoten zerrte, bis er sich lockerte und Sarah ihre Hände hinausziehen konnte, um sich über die rauhe Haut zu reiben.

»Sie haben die Software neu programmiert, die die Bewegungsmelder steuert«, sagte Sarah mit einem schadenfrohen Grinsen.

»Das ist es nicht«, sagte Kieran. »Wir haben den Code überprüft. Er ist unverändert.«

»Es wäre leicht zu übersehen. Alles, was sie getan haben, ist, die Befehle auszutauschen. Jetzt hören die Kameras auf aufzuzeichnen, wenn sie Bewegung wahrnehmen, und beginnen mit der Aufzeichnung, wenn alles ruhig ist. Also genau andersherum als ursprünglich vorgesehen. Vermutlich haben sie nur wenige Buchstaben ändern müssen. Überprüft es noch einmal. Das muss es sein.«

Waverly konnte Kieran ansehen, dass er sich dumm fühlte. Was Sarah gesagt hatte, war so naheliegend, er hätte sofort und direkt selbst darauf kommen müssen. Und ganz sicher hätte er dafür niemals jemanden bedrohen müssen.

»Und jetzt gehe ich nach Hause«, sagte Sarah und erhob sich von dem Gitterbett.

Kieran schüttelte den Kopf. »Du gehst erst, wenn ich sage, dass du gehen kannst.«

»Was?«, schrie Waverly.

»Du wirst noch einige Zeit in der Brig bleiben, weil du die Untersuchungen derart behindert hast«, sagte Kieran zu Sarah.

Das Mädchen schüttelte den Kopf, der Mund ein grimmiger Strich in einem Gesicht aus Stein. »Kieran Alden, du bist nichts weiter als ein Lügner.«

»Ich habe nicht gelogen. Ich habe gesagt, dass ich dich hier herauslassen werde. Nur nicht jetzt sofort.«

Waverly war starr vor Zorn. Würde sie ihrem Körper auch nur die kleinste Bewegung erlauben, da war sie sich sicher, würde sie Kieran das Gesicht zerkratzen. Stattdessen setzte sie sich neben Sarah auf das Gitterbett und starrte diesen Jungen an, den sie für eine so lange Zeit geliebt hatte. Den Jungen, den sie hatte heiraten wollen. Jetzt verachtete sie ihn.

»Lasst uns gehen«, sagte Kieran und gab den Wachen ein Zeichen, ihm aus der Zelle zu folgen. Dann drehte er sich noch einmal herum zu Waverly, die in der Zelle zurückgeblieben war, immer noch sprachlos, ungläubig, mit starrem Blick.

»Waverly«, sagte er. »Los jetzt. Lass uns gehen.«

Sie schüttelte den Kopf. »Solange Sarah hierbleibt, bleibe ich auch.«

»Ich kann dich zwingen mitzukommen.«

»Das stimmt. Wenn du mir noch mehr Beweise für deinen schäbigen Charakter an die Hand geben willst, könntest du das tun.« Obwohl der Zorn in ihrem Inneren tobte, klang ihre Stimme ruhig und leise. »Du bist genau wie Anne Mather. Du hast dich in eine unbedeutende kleine Kopie von ihr verwandelt, und es wird einfach nur immer schlimmer werden, bis du es am Ende kapierst.«

»Also schön«, sagte Kieran. Er nickte Harvey zu, der zügig vortrat und die Tür der Zelle verschloss. Sarah griff nach Waverlys Hand, und die beiden Mädchen rückten enger zusammen.

»Drei anständige Mahlzeiten«, sagte Kieran zu den Wachen und verließ den Arrestbereich.

Sternenfeuer: Vertraue Niemanden: Roman
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