Offizielle Ermittlungen
Du warst schon lange nicht mehr beim Gottesdienst«, sagte Kieran zu Sarah Hodges. Er lehnte sich in seinem Schreibtischstuhl zurück, presste die Fingerspitzen aneinander und studierte das Mädchen aufmerksam.
Sarah starrte ihn finster an, während sie sich auf ihrem Stuhl hin und her drehte. Ihr Haar war fettig und zu einem Pferdeschwanz zurückgebunden, die Fingernägel schmutzig und ungepflegt. Sie war während der letzten vier Tage zur Ernte der noch verstreut liegenden Kartoffeln eingeteilt gewesen – eine Aufgabe, die niemand an Bord mochte. Kieran hatte gedacht, sein Angebot, sie stattdessen bei den Mähdreschern einzusetzen, könnte vielleicht ihre Zunge lösen, aber sie blieb ganz genauso unkooperativ, wie sie es stets gewesen war.
»Magst du die Gottesdienste nicht?«
»Ich glaube nicht«, antwortete sie rundheraus.
»Warum nicht?«
»Sie erinnern mich zu sehr an diese Frau.«
»Aber ich bin nicht wie sie.«
»Woher willst du das wissen? Du hast sie nie erlebt«, gab sie spöttisch zurück.
Doch, habe ich wohl, hätte er fast gesagt, aber noch wollte er nicht, dass sein Gespräch mit Mather bekannt wurde. Er hatte die Vid-Files, die sie ihm gesendet hatte, noch immer nicht angeschaut, nichts mehr von ihr gehört und auch selbst keinen Anlauf genommen, sie zu kontaktieren. Im Augenblick konzentrierte er sich darauf, Seth Ardvale zu finden, ehe dieser noch mehr Schaden anrichten konnte.
Kieran lehnte sich mit den Ellbogen auf den Tisch, und sein Stuhl knarzte unter ihm. Der milchige Duft von Rotbuschtee lag in der Luft. »Wo warst du in der Nacht der Fehlzündung der Schubdüsen?«
»Ich war in meiner Kabine. Als ich deine Durchsage hörte, ging ich zum Zentralbunker. Waverly war auch bei mir.«
»Das hat sie erzählt, ja.«
»Da haben wir wohl ein wasserdichtes Alibi«, spie sie ihm entgegen.
»Wie meinst du das?«
»Ich meine, dass die Leute es nicht schätzen, wenn sie verhört werden, als wären sie Kriminelle.«
»Das liegt nicht in meiner Absicht, Sarah.« Kieran seufzte. Sie war erst die dritte Person, die er befragte – nach Sealy Arndt und Tobin Ames, die frühe Unterstützer Seths gewesen waren. Es waren bereits Gerüchte im Umlauf. Er musste seine Predigt für den kommenden Sonntag mit viel Fingerspitzengefühl schreiben und so einen Weg finden, die Leute wieder auf seine Seite zu bringen. »Es ist nicht so, dass ich der Ansicht wäre, du hättest irgendetwas mit den Schubdüsenproblemen zu tun –«
»Oh. Nicht?«
»Ich versuche mir nur ein Bild davon zu machen, was in dieser Nacht geschehen ist«, erklärte er. Tatsächlich aber war sein Verdacht, sie betreffend, größer denn je. Sie war Waverlys Freundin, und auf ihn wirkte sie aufsässig und widerspenstig – ganz die Art von Mensch, die mit Seth sympathisieren würde. Aber jetzt musste es ihm erst einmal gelingen, sie aus ihrer Deckung zu locken. »Vielleicht hast du etwas Wichtiges gesehen, ohne es zu bemerken. Das ist der einzige Weg, der mir einfällt, wie ich versuchen könnte, Licht in die Sache zu bringen.«
Er hatte sie mit seinen Worten besänftigen wollen, aber sie verschränkte nur die Arme vor der Brust und starrte ihn störrisch an.
Plötzlich wurde das Licht im Raum grell und projizierte gespenstische Schatten auf den Oberkörper von Harry Truman, dem dreiunddreißigsten Präsidenten der Vereinigten Staaten von Amerika, dessen Büste in der Ecke des Büros stand. Eine Alarmsirene gellte durch das Schiff.
»O mein Gott«, sagte Sarah. »Was ist das?«
»Bleib du hier«, sagte Kieran, als er von seinem Schreibtisch aufsprang und zur Tür rannte. Von dort aus stürmte er weiter den Korridor zur Kommandozentrale hinab, wobei er sich sehr wohl bewusst war, dass Sarahs Schritte ihm folgten. In der Kommandozentrale angekommen, fand er Arthur und Sarek mit verblüfften Mienen über einen der Vidschirme gelehnt.
»Was ist passiert?«, fragte er.
»Jemand hat den Notfallruf im Maschinenraum aktiviert«, sagte Sarek.
»Warum?« Kieran ging weiter zu seinem Stuhl, stoppte dann aber mitten in der Bewegung. »Hast du gesagt im Maschinenraum?«
»Jawohl«, sagte Sarek, sichtlich durcheinander. »Und zwar nach zwei Dekompressionen, einige Minuten zuvor. Zunächst hatte ich gedacht, es handele sich um eine Fehlfunktion in einem der Messgeräte, aber nun …«
»Schau.« Arthur drehte den Vidschirm zu Kieran.
Das Bild zeigte einen Stapel von Dingen, die aussahen wie Nahrungsrationen-Container, und ein Hinweisschild in Großbuchstaben. Kieran las den Text und schüttelte den Kopf: »Aber der Raum ist radioaktiv verseucht!«
»Dem Hinweis nach nicht«, sagte Arthur, wirkte aber nicht überzeugt.
»Die Reparaturmannschaft hat den Raum gereinigt, ehe sie ihn verließ«, sagte Sarek nachdenklich.
»Schon, aber es muss Rückstände geben!«, insistierte Kieran.
»Ich weiß«, sagte Arthur. »Das ist sonderbar.«
»Nun ja. Irgendjemand hat definitiv dort gelebt«, sagte eine weibliche Stimme.
Alle drei Jungen fuhren herum und starrten Sarah Hodges an, die ihnen über die Schulter sah und gleichfalls den Vidschirm studierte. Mit einem kalten Ausdruck wandte sie den Blick ab.
»Was tust du hier?«, fragte Kieran ärgerlich.
»Dies ist auch mein Schiff«, sagte sie. »Ich kann hier sein, wenn ich es möchte.«
»Das hier ist Sperrgebiet«, sagte Arthur.
Sie fixierte der Reihe nach jeden von ihnen. »Je mehr ihr Jungs so tut, als hättet ihr das Sagen, desto weniger Menschen vertrauen euch.«
»Kannst du das Bild zurückspulen?«, fragte Kieran und ignorierte Sarah für den Augenblick. »Hat die Kamera aufgezeichnet, wer den Alarm gedrückt hat?«
»Schon versucht«, sagte Sarek und spulte das Bild zurück. Es zeigte das Steuerpult des Maschinenraums und wechselte dann von einer Sekunde auf die nächste zu dem Müllhaufen aus Containern.
»Seltsam«, sagte Sarah gedankenversunken. »Das Gegenteil hätte geschehen sollen.«
»Was meinst du damit – das Gegenteil?«, fragte Kieran.
Sarah musterte ihn herausfordernd und schwieg.
»Irgendetwas stimmt nicht mit den Bewegungsmeldern«, sagte Arthur. »Wir sind dabei, das wieder in den Griff zu bekommen.«
»Ich jedenfalls weiß ganz genau, was nicht stimmt«, sagte Sarah mit süffisantem Lächeln.
Alle drei Jungen musterten sie jetzt und warteten.
»Oh. Ich habe nicht vor, euch das zu sagen.«
»Aber wie kannst du es wissen? Stehst du in Verbindung mit –« Fast hätte Kieran den Namen Seth ausgesprochen, stoppte aber im letzten Augenblick. »Hat jemand dir davon erzählt?«
»Nein. Aber es ist offensichtlich, was das Problem ist. Ich bin wirklich erstaunt, dass ihr Jungs nicht darauf kommt.«
»Sarah«, sagte Kieran in gefährlich leisem Tonfall, »du sagst mir jetzt sofort, was du weißt.«
»Werde ich. Aber erst, wenn du aufhörst, dich aufzuführen, als wäre dieses Schiff hier deine ganz persönliche Kultstätte.«
Kieran starrte ihr dermaßen intensiv in ihr unverschämtes Gesicht, dass er sich sicher war, ihre Sommersprossen würden gleich in Flammen aufgehen. »Werft sie in die Brig.«
Arthur sah ihn erstaunt an. »Kieran –«
»Tu es!«
»Du bist eine Ratte!«, schrie Sarah, als ein irritierter Sarek zwei Wachen in die Kommandozentrale rief. Sarek murmelte ihnen einige Befehle zu, dann nahmen sie Sarah in die Mitte, indem sie sich leicht geduckt an ihr vorbeischoben, sie aber ansonsten nicht bedrängten oder einzuschüchtern versuchten. »Das wirst du bereuen«, zischte sie Kieran zu, als eine der Wachen nach ihrem Ellbogen griff.
»Wie ist Seth dort hinuntergekommen?«, schrie Kieran Arthur an, der ihn mit weit aufgerissenen Augen anstarrte. Sarah war noch immer zu hören – schreiend und fluchend tobte sie zwischen den Wachen auf dem Weg zu den Fahrstühlen. »Arthur! Wie?«
»Ich weiß es nicht«, sagte Arthur ruhig. Er wich Kierans Blick aus und war unübersehbar bestürzt. »Die gesamte Ebene ist abgeriegelt.«
»Sarek?«, sagte Kieran.
Sarek wählte die Sicherheitssoftware an und durchsuchte die Kom-Systemdaten der unterschiedlichen Türen und Schotten, die die Zugänge zu den unteren Ebenen verschlossen hatten, um die Radioaktivität auszuschließen. »Alles unverändert«, sagte er. »Auch die Fahrstuhlschächte sind alle noch immer versiegelt.«
»Was ist mit den Treppenschächten?«, fragte Arthur aus einer Ecke des Raums.
»Check sie einzeln«, sagte Kieran, und das Herz sank ihm in die Knie.
Sarek scrollte sich durch die vielen Türen auf den unteren Ebenen. »Da haben wir es. Der Treppenschacht an der Steuerbordseite. Sieht aus, als hätte jemand die Versiegelung manuell entfernt.«
»Wie kann es sein, dass wir das nicht bemerkt haben?«, fragte Kieran aufgebracht.
»Es ist ja nicht so, dass ich sonst nichts zu tun hätte«, schnappte Sarek zurück.
»Wo sind die Schutzanzüge?«, bellte Kieran.
»In der Krankenstation, denke ich«, sagte Arthur. Sein Tonfall war ausdruckslos, seine Gesichtszüge unlesbar. Kieran sah deutlich, dass Arthur mit seinem Verhalten Sarah gegenüber nicht einverstanden war, aber im Augenblick war ihm das egal. »Du kannst nicht dort hinuntergehen.«
»Wenn das Siegel gebrochen ist, ist der Schaden bereits angerichtet«, sagte Kieran bitter. Dafür hatte Seth Ardvale es verdient, aus einer Luftschleuse geworfen zu werden.
Kieran rannte hinunter zur Krankenstation, wo er auf Tobin Ames und Sealy Arndt traf, die gerade miteinander sprachen. Ansonsten war die Station leer. Die acht Überlebenden unter den Erwachsenen, komatös durch die Folgen der radioaktiven Verseuchung, waren alle in die Langzeitpflege einen Raum weiter verlegt worden. Sowohl Tobin als auch Sealy musterten Kieran misstrauisch und wachsam. »Willst du mich jetzt noch einmal befragen?«, fragte Sealy.
»Nein, Sealy«, entgegnete Kieran mit einem Seufzen. »Ich hatte lediglich gedacht, du könntest uns bei den Nachforschungen behilflich sein. Seth muss hinter der Sache mit den Schubdüsen –«
»Was mich anbelangt, kann der Bastard Seth so lange in der Arrestzelle bleiben, bis er verrottet«, sagte Sealy, starrte Kieran aber noch immer wütend an. »Aber ich habe mir angewöhnt, nie wieder irgendjemandem über den Weg zu trauen, der meint, dass er das Sagen hat.«
»Ich gebe mein Bestes«, sagte Kieran. Sealys Worte verletzten ihn. Alles war gut gewesen, und es hatte keine Probleme an Bord der Empyrean gegeben, solange die Mädchen nicht hier gewesen waren. Jetzt schien alles aus dem Gleichgewicht geraten zu sein, und es fühlte sich an, als könnte er jede Sekunde die Kontrolle über alles verlieren und die Crew könnte erneut in denselben Wahnsinn verfallen, der ihn bereits früher einmal fast das Leben gekostet hätte. »Wo habt ihr Jungs die Schutzanzüge hingetan, als die Patienten aus der radioaktiven Sektion hier hereingebracht wurden?«
Tobin zeigte auf einen Schrank in der Ecke des Raums, und Kieran öffnete die Türen. Die Schutzanzüge rochen nach Schweiß und anderen Körpergerüchen ihrer vormaligen Träger, sie waren verdreckt und insgesamt kaum mehr tragbar.
»Habt ihr die denn nie gesäubert?«
»Wir haben sie abgespritzt, so gut wir konnten, und das dreckige Wasser herausgeschüttelt. Zu mehr hatten wir keine Zeit.«
Kieran wählte den am wenigsten abstoßenden Anzug aus und warf ihn sich über die Schulter.
»Wo gehst du hin?«, rief Tobin ihm hinterher.
»Geht dich nichts an«, rief Kieran zurück und entfernte sich in Richtung Aufzugsschacht an der Steuerbordseite. Auf der Fahrt nach unten legte er den Anzug an. Er schlüpfte in Leggings und einen enganliegenden Body, schloss alle Dichtungen, hielt den Helm aber vorerst in der Hand. Die Blende und der ganze Helm waren schmutzig und verschliert, und als Kieran mit dem Finger darüber strich, blieben Spuren einer ekelhaften braunen, schmierigen Substanz unter seinen Fingernägeln zurück. Und dann zog er sich den stinkenden Helm über und rümpfte die Nase, um den Geruch zu ertragen oder besser noch zu verscheuchen.
Kierans Herz galoppierte, als die Türen des Fahrstuhls sich auf der Ebene über dem Maschinenraum öffneten. Schritt für Schritt ging er die Stufen hinunter, bis er die Tür zum Maschinenraum an der Unterseite des Schiffs erreichte. Das Geräusch der Maschinen schien ihm gegen das Trommelfell zu schlagen, und er konnte die Kraft der Schubdüsen spüren, die seine Fußsohlen vibrieren ließ. Langsam näherte er sich der Tür, die wie jede andere Tür auf dem Schiff aussah. Das stahlverkleidete Schott, das den Raum versiegelt hatte, war tatsächlich manuell aufgebrochen worden. Er holte tief Luft und öffnete die Tür zum Maschinenraum.
Wenn er in den letzten Monaten an diesen Ort gedacht hatte, hatte er eine Gruft vor Augen gehabt, und er mochte es nicht, hier zu sein. Er ging zum Werkzeugschrank, um den Geigerzähler herauszuholen. Er überprüfte das Ergebnis, und es erstaunte ihn. Zuerst zögerte er, doch dann nahm er den Helm vom Kopf und atmete die vergleichsweise frische Luft ein. Dann riss er sich den gesamten widerlichen Anzug vom Körper und warf ihn in eine Ecke.
Kieran ging zu dem Müllhaufen und sah ihn durch. Die Container befanden sich in unterschiedlichen Stadien der Verwesung, einige von ihnen komplett ausgetrocknet, andere noch feucht und identifizierbar. Er zählte sie und kam zu dem Schluss, dass es genug waren, um eine Person länger als eine Woche am Leben zu halten.
Und Seth war erst vor zwei Tagen aus dem Gefängnis entkommen.
Kieran saß auf dem Boden und starrte den Müllhaufen an. Gesetzt den Fall, dies hier war nicht inszeniert – was er nicht glaubte –, dann war es nicht Seth gewesen, der hier unten kampiert hatte. Kieran gefror das Blut in den Adern, als er darüber nachdachte, was das bedeuten könnte.
Mit neu erwachter Dringlichkeit stand er auf, durchstöberte alle Schränke, ging schließlich in den riesigen Reaktorraum und suchte ihn Schritt für Schritt nach mehr Spuren ab. Er fand keine. Er war sich ziemlich sicher, dass wer auch immer seine Zeit hier unten verbracht hatte, nicht zurückkommen würde. Nicht jetzt, wo der Alarm gedrückt worden war. Aber er würde trotzdem ein Team hier stationieren, um auf der sicheren Seite zu sein. Zornig schüttelte er den Kopf. Er hatte gehofft, mehr zu finden. Irgendeinen Hinweis auf das, was während der Fehlzündung der Schubdüsen passiert war. Jetzt war er enttäuscht.
Gedankenversunken ging er zurück zu dem Aufzugsschacht und drückte auf den Rufknopf. Es war Seth gewesen, der diesen Notruf abgesetzt hatte, er war sich ganz sicher. Seth wusste irgendetwas, und aus irgendeinem Grund war er bereit, seine eigene Entdeckung zu riskieren, um Kieran eine Nachricht zukommen zu lassen. Verhöhnte er ihn?
Ein leises Klingen erklang, und die Türen des Fahrstuhls öffneten sich, doch einem Impuls folgend wandte sich Kieran stattdessen erneut dem Treppenschacht an der Steuerbordseite zu. Dies war der am wenigsten genutzte Treppenschacht des ganzen Schiffs. Ohne seinen Strahlenschutzanzug war es hier sehr kalt und unangenehm, und es gab keine Überwachungskameras. Auf diesem Weg konnte sich Seth durch das Schiff bewegt haben.
Ein kalter Lufthauch streifte sein Gesicht. Die Stufen waren aus Metallgittern gefertigt und wanden sich mehrere hundert Meter über seinem Kopf empor bis hinauf zum Bug des Schiffs. Kieran hielt die Luft an und lauschte auf das Geräusch von Schritten. Selbst wenn Seth zehn Absätze über ihm gewesen wäre, hätte er ihn hören müssen. Oder vielleicht war Seth gar nicht erst so weit gegangen.
Auf gut Glück ging Kieran hinauf in den Lagerraum und betrat die weitläufige Halle. Hunderte von Frachtcontainern waren hier verstaut und warteten auf den Tag ihres Einsatzes. Den Tag, an dem sie New Earth erreichen würden. Hier in diesem stillen Raum, umgeben von mammutgroßen Containern, wurde ihm bewusst, dass viel Zeit vergangen war, seit er zum letzten Mal allein durch das Schiff gewandert war. Er hatte das früher oft getan, war einfach losgegangen, ohne bestimmtes Ziel. War herumgelaufen, hatte die Leute gegrüßt, denen er zufällig begegnet war, hatte angehalten, um Mrs. Dunnow bei der Kartoffelernte zu helfen oder Mr. Aims beim Füttern der Forellen. Jetzt wirkte das Schiff wie ausgestorben.
Zum ersten Mal seit langer Zeit erlaubte er sich, an seine Eltern zu denken. Falls er seine Mutter jemals wiedersehen würde, würde er ihr alles erzählen, was geschehen war. Alles, was er getan hatte. Und sie würde ihn in die Arme nehmen und sagen: »Du hast getan, was du tun konntest. Niemand hätte es besser machen können.« Sein Vater würde ihm auf die Schulter klopfen – jene Art von Schulterklopfen, die gerade weh genug tat, dass man sich stark fühlen konnte –, und er würde sagen: »Ich bin stolz auf dich, Sohn.«
»Ich bin stolz auf dich«, murmelte Kieran zu sich selbst und versuchte dabei, wie sein Vater zu klingen.
Ein Geräusch drang an sein Ohr.
Er hielt inne. Lauschte.
Hatte er gerade etwas gehört? Ein erstauntes Luftanhalten? Das Schleifen eines Schuhs?
Schritte! Jemand ging den Flur entlang!
Kieran rannte los, auf das Geräusch zu. Jetzt, da er rannte, waren die Schritte lauter, ganz so, als habe nun auch die andere Person den Versuch aufgegeben, leise zu sein. Er passierte etliche Containerreihen, bis er die Umrisse eines Menschen erspähte.
Seth! Er wusste es instinktiv, war sich sicher, noch ehe er das schmutzigblonde Haar und die ausgemergelten Schultern berühren konnte.
Seth rannte fort, ein schwer aussehendes Bündel auf den Schultern. Es ließ ihn schwanken, aber er war noch immer schnell. Kieran nahm die Verfolgung auf, rannte so schnell er konnte, aber er war langsam.
Er wusste, dass er sich niemals ganz von dem Hungermonat in der Brig erholt hatte, aber es erstaunte ihn doch, wie schwer es ihm fiel zu rennen, und sei es auch nur für kurze Zeit. Sein Herz schmerzte bereits, und die erhöhte Schwerkraft zerrte an seinen Gliedern, machte seinen Körper träge. Er schaffte es nicht, Geschwindigkeit aufzunehmen. Seths Gestalt wurde kleiner, er entfernte sich immer weiter von ihm. Kierans Sicht vernebelte sich, und er glaubte einem Schwächeanfall zu erliegen. Voller Zorn warf er seinen Körper gegen einen Container und ignorierte den Schmerz in seiner Schulter.
»Stopp!«, schrie er hilflos.
Zu seiner Verwunderung hielt Seth tatsächlich an. Langsam drehte er sich zu ihm herum.
Die beiden Jungen sahen einander an, und Seth begann, zurück- und auf Kieran zuzugehen. Welch eine Arroganz! Einfach zurückzugehen, erfüllt von dem Wissen, dass er ihn jederzeit wieder würde abhängen können. Schließlich trennten sie kaum mehr dreißig Meter. Seth hielt an und musterte Kieran mit seinen kalten blauen Augen.
Kieran wollte auf ihn zustürmen, ihn zu Boden reißen, aber seine Hände zitterten.
Seths Blick flog durch die Halle. »Bist du allein?«
Es ergab keinen Sinn, Seth etwas vorzumachen. Kieran rang noch immer nach Atem, und seine Worte kamen stoßweise. »Ich bin gekommen … um im … Maschinenraum nach dem Rechten zu sehen.«
»Derjenige, der dort unten sein Lager aufgeschlagen hat, das war nicht ich«, sagte Seth.
Kieran machte einen Schritt nach vorn und fiel gegen einen der Container. Seth machte einen Schritt rückwärts, griff nach etwas in dem Sack auf seinem Rücken, zog es jedoch nicht heraus. Kieran glaubte zu wissen, was es war.
»Wie hast du es geschafft … rauszukommen?«, fragte er und rang dabei immer noch nach Luft.
»Ich bin aufgewacht, und meine Zelle war offen.«
»Lügner.«
»Wenn du nicht vorhast, mir zu glauben, warum fragst du dann?«
Kieran starrte Seth ungläubig an. Das also war der Kerl, den in der Brig zu besuchen Waverly nicht hatte widerstehen können. Dieser verlogene, hinterhältige Widerling.
»Hör zu«, sagte Seth. Er zog seine Hand aus dem Beutel und hielt sie in die Luft, wie um an die Vernunft seines Gegenübers zu appellieren. »Du musst mir zuhören, Kieran. Okay? Das ist wichtig.«
Kieran verzog keine Miene.
»Ich glaube, wir haben einen blinden Passagier der New Horizon an Bord. Er muss in Waverlys Shuttle hierhergekommen sein. Oder aber er war die ganze Zeit schon hier, seit dem ersten Angriff. Ich weiß es nicht. Er ist derjenige, der mich rausgelassen hat, damit du denkst, dass ich es war, der mit den Schubdüsen herumgespielt hat. Er ist gefährlich. Du musst ihn finden.«
»Sag mir nicht, was ich zu tun habe«, rief Kieran angewidert.
»Kieran, es geht hier nicht mehr nur um dich und mich. Das ist dir doch klar, oder nicht?«
»Ich glaube, dass du lügst.«
»Das tue ich nicht. Du weißt, dass ich nicht lüge. Warum sollte ich die Mission behindern oder das Schiff in Gefahr bringen? Alles, was ich je habe sein wollen, war Offizier eines Sternenschiffs.«
»Und warum hast du dann einen Aufstand vom Zaun gebrochen?«, verlangte Kieran zu wissen.
»Es war nicht wirklich ein Aufstand, Kieran«, sagte Seth sanft, fast schon freundlich. »Du warst nicht der Kapitän des Schiffs.«
Einmal mehr schwieg Kieran. Er war wütend, dass Seth nach allem, was geschehen war, noch immer versuchte, der Bessere zu sein, ihn zu manipulieren. Diese Heuchelei war widerlich.
»Heute wirst du mich nicht fangen können«, sagte Seth. Seine Hände wanderten zu den Tragegriffen seines Bündels, und er hievte sich die Last erneut auf seine Schultern.
»Ich werde dich schon bald kriegen«, keuchte Kieran.
»Du kannst es versuchen.«
Seth machte auf dem Absatz kehrt und setzte sich in Bewegung, doch dann stoppte er und wandte sich erneut zu Kieran um. Seine Hand glitt an seinen Hinterkopf, und seine Augen starrten auf den Boden, der zwischen ihnen lag. »Hör zu«, sagte er schließlich, »es tut mir leid. Wegen dem, wie ich dich in der Brig behandelt habe. Ich glaube, ich wollte dich … irgendwie dafür bestrafen, was mit meinem Vater geschehen ist.«
»Du hast versucht, mich zu töten.«
»Ich wäre damit nicht durchgekommen.«
»Bist du dir da so sicher?«
Seth starrte ihn nur an, einen gehetzten Ausdruck auf dem Gesicht.
»Ich werde nie wieder zulassen, dass du mir die Kontrolle über dieses Schiff entziehst«, sagte Kieran. Er stieß sich von dem Container ab und stand nun aus eigener Kraft. »Ehe du im Stuhl des Captains sitzt, sterbe ich.«
»Ich weiß.«
»Und Waverly wirst du auch nie bekommen«, sagte Kieran, der nach dem Grausamsten gesucht hatte, was er noch sagen konnte. »Sie ist deiner überdrüssig geworden. Du bist ihr zu … einfältig.«
Seths Augen verdunkelten sich bei diesen Worten, und seine Mundwinkel senkten sich. Für einen Augenblick sah es aus, als würde er anfangen zu weinen, doch stattdessen machte er einen Schritt in Richtung Steuerbord und war kurz darauf verschwunden.
Kieran ließ sich auf dem Boden des Lagerraums nieder und wartete darauf, dass das Zittern nachlassen würde. So etwas wie gerade eben war ihm noch nie zuvor passiert, aber andererseits hatte er seit seinem Hungermonat auch nicht mehr zu rennen versucht. Irgendetwas stimmte nicht mit ihm. Aber das war noch die kleinste seiner Sorgen.
Was den blinden Passagier anbelangte, hatte Seth vielleicht nicht gelogen. Er hasste Seth, aber nicht genug, um sich von seinem Ziel abbringen zu lassen. Seth wollte Macht, und er wusste, dass er sie niemals bekommen würde, wenn er mit den Schubdüsen herumexperimentierte und so die Wahrscheinlichkeit verringerte, dass sie ihre Eltern jemals wiedersahen.
Kieran schlug sich mit der Hand vor die Stirn. Er hätte das eher erkennen müssen. Es war ein Saboteur der New Horizon an Bord, und Seth jagte ihn. Wenn es ihm gelingen würde, den Saboteur zu fangen und zur Rechenschaft zu ziehen, wäre er ein Held. Und Kieran würde dastehen wie ein Idiot.
Die Erkenntnis beunruhigte ihn und durchfuhr ihn wie ein Fieber.
Vielleicht war es gar nicht so schlecht, wenn die Crew weiterhin dachte, Seth wäre der Saboteur.
Er blieb noch eine lange Zeit in der Lagerhalle und wog seine Optionen ab. Als er schließlich wieder bei Kräften war, ging er zu den Fahrstühlen auf der Backbordseite, fuhr direkt in die Kommandozentrale und rief seine Offiziere zu einem Meeting zusammen.