Galen und Eddie
Waverly hatte einen langen Tag damit zugebracht, einen Traktormotor, der den Geist aufgegeben hatte, auseinanderzubauen, nichts zu finden und die Maschine wieder zusammenzubauen. Nun schleppte sie sich müde und erschöpft zurück zu ihrer Kabine. Sie hatte nichts erreicht, aber die Arbeit hatte ihre Aufmerksamkeit erfordert und sie erschöpft, und das war alles, was sie wollte.
Da sie nichts anderes zu tun hatte und keinen Ort wusste, an den sie hätte gehen können, schleppte sie sich zu ihrer verlassenen Kabine. Die Tür schloss sich mit einem endgültig klingenden Flopp hinter ihr. Sie hängte ihren Werkzeuggürtel an den Haken nahe der Tür. Eines Tages würden die schweren Werkzeuge den Haken schlicht aus der Wand reißen. Und den Haken zu reparieren wiederum wäre eine weitere Aufgabe, die sie davon abhalten würde, zu brüten und zu brüten …
… und darüber nachzudenken, wo Seth wohl sein mochte. Sicherlich würde er doch früher oder später Kontakt mit ihr aufnehmen? Und wenn er es tat, sollte sie sich bereits jetzt Gedanken darüber machen, was sie zu ihm sagen, wie sie reagieren würde. Aber in ihrem Kopf herrschte nichts als Leere. Zu viel war geschehen. Kieran kannte sie nicht mehr, und vielleicht kannte sie nicht einmal mehr sich selbst. Wer wusste schon, was diese neue Waverly tun würde, wenn Seth Ardvale an ihre Tür klopfte?
Nachdem sie in ihre Schlafsachen geschlüpft war, machte sie sich eine Tasse Kamillentee und ging mit ihr in das Wohnzimmer. Sanft strich sie über den verwaisten Webstuhl ihrer Mutter, auf dem seit Monaten eine aquamarinfarbene aufwendige Wolldecke ihrer Vollendung harrte. Die Wolle roch erdig und rein, und der rauhe Stoff rieb angenehm über die empfindliche Haut ihres Handgelenks.
»Eines Tages wirst du sie beenden«, flüsterte sie und stellte ihre Teetasse auf den Tisch im Esszimmer. Sie würde einen Rand auf dem Holz hinterlassen, aber Waverly störte sich nicht daran. Immerhin war der Abdruck ein Beweis dafür, dass hier ein Lebewesen ein und aus ging.
Sie ging in ihr nachtschwarzes Schlafzimmer, ließ sich auf ihre Matratze fallen und starrte auf die dunklen Umrisse der Raggedy-Ann-Puppe, die dort auf dem Schaukelstuhl gegenüber ihrem Bett saß, seit sie ein Baby gewesen war. Als kleines Mädchen hatte die Puppe mit den roten Wollhaaren und dem flachen Gesicht, das in seiner leicht grotesken Bemalung ein wenig an das einer Vogelscheuche erinnerte, ihr Angst gemacht. Hieß es nicht, dass Raggedy Ann zum Leben erwachte, wenn kein Mensch in der Nähe war? Außerdem hatte sie Spielzeug, das Kinder nachbildete, nie gemocht; es wirkte auf sie morbide und düster. Jetzt aber war die Puppe eines der Dinge, auf das sie am liebsten blickte, ehe sie einschlief. Denn diese Puppe hatte ihre Mutter für sie gemacht.
Waverly zwang ihre Augen dazu, sich zu schließen, und versuchte auch, das Bild der letzten Unterhaltung mit Kieran fortzuschieben – und jenen dunklen Blick zu vergessen, mit dem er sie über seine zusammengelegten Finger hinweg gemustert hatte. Sie hatten eine Art Waffenstillstand erreicht, aber sie hatte beim Verlassen des Büros den abschätzenden, berechnenden Blick in seinen Augen gesehen. Eine fremdartige Macht hatte ihn vollkommen verändert, hatte ihn zu jemandem werden lassen, der sie von sich fortschob, sie in das Lager seiner Feinde einordnete – ganz so, als habe er sie niemals gekannt.
Andererseits: War es nicht ihr genauso ergangen?
Nein, es war sinnlos, so würde sie niemals Schlaf finden. Sie stand auf, ging in das Elternschlafzimmer und schaltete das Licht ein. Das Doppelbett ihrer Mutter war noch genauso zerwühlt und ungemacht wie am Tag des Angriffs auf die Empyrean. Der Blick auf den unordentlichen Raum half Waverly dabei, die Hoffnung nicht aufzugeben, dass ihre Mutter eines Tages zurückkehren, die Bettdecken gerade streichen, das Nachthemd neben den Haken an der Wand hängen, den Lippenbalsam in die oberste Schublade der Kommode legen und das Foto von Waverly entstauben würde, das gerahmt ihr gegenüber an der Wand hing.
Sie wünschte, sie könnte mit ihrer Mutter über Seth sprechen. Regina Marshall war stets ein warmherziger, verständnisvoller Mensch gewesen, und sie hätte Waverlys Skepsis nie gebilligt. Sie würde vermutlich sagen, dass Seth nur ein zorniger Junge war, der seine Mutter verloren und fortan mit Mason Ardvale hatte leben müssen, was bei jedem ausgereicht hätte, um emotionale Schäden zu hinterlassen. Seth hatte seine Lektion gelernt, und dass er nicht mehr in der Arrestzelle war, brachte niemanden in Gefahr, noch nicht einmal Kieran.
»Er hat eine gute Seele«, hatte Regina einst über Seth gesagt. »Er wird nur missverstanden.«
»Und genau das denke ich auch«, teilte Waverly ihrer verlassenen Kabine mit.
Die Tür zum Wandschrank stand offen, und sie ließ eine Hand über die Kleider ihrer Mutter gleiten und sog ihren Geruch nach Sandelholz ein. Reginas schwarzer Pullover hing schief auf einem Bügel, und Waverly rückte ihn wieder zurecht und strich dann mit den Armen über die weiche Kaschmirwolle.
Auf dem obersten Regalbrett lag die Kiste mit Familienfotos, die Regina gehortet hatte – stets in der Absicht, sie eines Tages in ein Album einzukleben. Aber dann hatte sie doch nie die Zeit dafür gefunden. »Ich könnte das übernehmen«, murmelte Waverly. »Ich könnte die Bilder in ein Album kleben und meine Mutter damit überraschen, wenn sie nach Hause kommt.«
Sie würde durch all die Familienbilder blättern müssen, sie in eine sinnvolle Reihenfolge bringen, in ihren Erinnerungen versinken. Dann gäbe es keinen Raum mehr für Gedanken über Kieran oder Seth oder andere fürchterliche Dinge, die sie getan hatte. Nie hatte etwas derart verlockend für sie geklungen.
Waverly holte die Trittleiter aus der Küche, nahm den Karton herunter, trug ihn ins Wohnzimmer und setzte sich dann damit auf das Sofa.
Es gab etliche Bilder, und sie reichten von Reginas Babyzeit und Kindheit zu ihrer Zeit als Teenager und weiter bis zu jenem Augenblick, an dem sie begann, sich mit Waverlys Vater zu treffen – einem freundlichen Mann mit offenem Lächeln und tiefliegenden braunen Augen. Waverlys Babyfotos zeigten ein glückliches kleines Mädchen mit rosigen Wangen. Ein Bild, auf dem ihre Eltern sie – ein Baby mit zerzausten Haaren – im Arm hielten, mochte Waverly besonders gern. Sie legte es beiseite und beschloss, es zu rahmen und in ihrem Schlafzimmer aufzuhängen.
Ein Bild am Boden des Kartons weckte ihre Aufmerksamkeit, und sie zog es heraus. Es zeigte ihren Vater als jüngeren Mann, nur an seinen Schläfen zeigten sich erste Ansätze grauer Haare. Er stand neben Captain Jones. Die beiden Männer wirkten, als hätten sie gerade einen Witz miteinander geteilt, den nur sie allein verstanden. Eine der fleischigen Hände des Captains lag auf Galen Marshalls Schulter; die Finger waren angespannt, so als wolle Jones ihren Vater in eine bestimmte Richtung lenken. Ihr Vater lachte, das Kinn gesenkt, die Augen funkelnd. Die beiden Männer standen in einem großen, weißen Raum, der Waverly bekannt vorkam, bis sie erkannte, dass es eines der Labore war. Vielleicht das Botanik-Labor, in dem ihr Vater gearbeitet hatte. Waverly drehte das Foto um und las auf der Rückseite in Reginas Handschrift: Galen und Eddie, Entdeckung des Phyto-Luteins. Natürlich hatte Waverly dieses Bild bereits früher einmal gesehen, aber sie hatte sich niemals länger mit ihm beschäftigt, hatte sich nie gefragt, warum es zerknüllt und dann wieder glatt gestrichen worden war, warum die Ecken des Bildes ausgefranst waren und dort das weiße Papier unter dem glänzenden Fotokarton zum Vorschein kam. Und sie hatte es niemals umgedreht, um die Beschriftung zu lesen – und falls sie es doch getan hatte, hatte sie sie nicht wirklich zur Kenntnis genommen. Auch dieses Bild legte Waverly beiseite, ehe sie fortfuhr, die anderen Bilder durchzusehen und sie in eine chronologische Reihenfolge zu bringen.
Doch während sie weiterarbeitete, fiel ihr Blick immer wieder auf das Bild ihres Vaters mit Captain Jones an seiner Seite. Irgendetwas an diesem Foto beunruhigte sie. Ein Teil von ihr wollte nicht darüber nachdenken. Sie wollte dieses Album fertigstellen, sich selbst in dieser Aufgabe verlieren, sich besser fühlen. Aber sie war noch nie gut darin gewesen, ihre Gedanken auszuschalten, und schließlich verselbständigten sie sich, als Waverly erkannte, was an dem Bild sie gestört hatte: Ihre Mutter hatte den Captain niemals Eddie genannt. Sie hatte von ihm immer als dem Captain gesprochen, vielleicht auch als Captain Jones. Und sie hatte seinen Namen stets mit einer gewissen kühlen Reserviertheit ausgesprochen. Aber hier, auf der Rückseite des Bildes, hatte ihre Mutter ihn als Eddie ausgewiesen. Ganz so, als wäre er ein guter Freund. Noch sonderbarer war, dass ihre Mutter stets gesagt hatte, sie und ihr Mann wären nie Teil des engsten Kreises rund um den Captain gewesen. Stets wären sie Außenseiter gewesen, die froh waren, nichts mit den Entscheidungsfindungen zu tun zu haben. Aber das Bild förderte eine unleugbare Vertrautheit zwischen dem Captain und ihrem Vater zutage. Das Verstörendste aber war, dass Waverly nicht gewusst hatte, dass ihr Vater etwas mit der Entdeckung des Phyto-Luteins zu tun gehabt hatte – jenem Mittel, das die weiblichen Eierstöcke stimulierte und verantwortlich für das Entstehen der nächsten Generation auf der Empyrean gewesen war. Ihr Vater war Botaniker gewesen, kein Fachmann für Fruchtbarkeit.
Andererseits hatte Phyto-Lutein natürlich eine pflanzliche Basis. Wo sonst lag der Ursprung aller Arzneimittel? Und falls ihr Vater Teil jenes Teams gewesen war, das die wundersamen Bestandteile entdeckt hatte – warum hätte Regina darüber Stillschweigen bewahren sollen? Das ergab doch keinen Sinn.
Nachdenklich blieb Waverlys Blick am alten Computer ihrer Mutter hängen. Stoffbahnen des angrenzenden Nähtischs bedeckten das Gerät nahezu vollständig. Sie schob den Stoff beiseite und schaltete den Rechner an. Der Geruch verbrannten Staubs füllte den Raum, und Waverly wurde bewusst, dass das Gerät mindestens seit dem Angriff der New Horizon nicht mehr benutzt worden war.
Sie durchsuchte die Logbuch-Einträge und arbeitete sich in der Zeit immer weiter rückwärts, durch all die flüchtig geschriebenen Aufzeichnungen, die an jenem Tag vor nahezu dreiundvierzig Jahren ihren Anfang nahmen, als die Mission der Empyrean begonnen hatte. Sie scrollte zu dem Datum des Luftschleusenunfalls, der ihren Vater das Leben gekostet hatte, und las den Eintrag:
Luftschleuse 252 versagte während routinemäßiger Wartungsarbeiten bei der Reparatur einer Teilbeschädigung an Radioantenne 252. Dr. Galen Marshall, Dr. Melissa Ardvale und Dr. James McAvoy wurden infolge einer durch eine Explosion verursachten Dekompression aus der Schleuse und hinaus in den Weltraum gezogen.
Das war alles?
Es war der schlimmste Unfall mit den schwerwiegendsten Folgen gewesen, der sich je auf der Empyrean ereignet hatte. Es hätte mehr darüber geschrieben werden müssen.
Ihre Finger flogen über die Tastatur, begierig danach, eine Suche nach jedweder Information zu starten, die sie über den Unfall finden konnte, aber da das exakt die Art von Dingen war, über die sie absolut nicht nachdenken wollte, schob sie das verstörende Foto stattdessen energisch unter einen Stapel am Boden der Kiste. Den Rest der Nacht verbrachte sie damit, weiter durch die alten Bilder zu blättern, sie zu sortieren und sie zu Stapeln aufzutürmen, bis ihre Augenlider schließlich zu schwer wurden, um weitermachen zu können.
Es schien ihr, als wäre nur ein Augenblick vergangen, als sie die Augen wieder aufschlug. Sie lag auf der Couch, umgeben von Fotos. Ihre Gliedmaßen fühlten sich schlaff und schwach an, und um ihren Kopf lag eine bleierne Müdigkeit. Ihr Magen rumorte, so leer war er, und sie stand auf und streckte sich.
Als ihr Blick auf die Stapel fiel, die sie errichtet hatte, erstarrte sie, dann stopfte sie sie eilig und ohne eine bestimmte Reihenfolge in die Kiste zurück. Bei all dem, was derzeit um sie herum geschah, war das Graben in einem längst vergangenen Damals das Letzte, was sie brauchte. Was sie wirklich brauchte, war ein gutes Frühstück. Sie hatte in den Kornfeldern einen Traktor zu reparieren, eine kaputte Getriebewelle vielleicht, und dann musste sie bei drei Maschinen einen Ölwechsel durchführen, und zwar an drei unterschiedlichen Stellen des Schiffs. Ein ganzer Berg Arbeit erwartete sie, und sie war jetzt bereits müde. Außerdem: Nach der Belastung ihrer Knie und dem schmerzenden Druck zwischen ihren Schulterblättern zu urteilen, hatte Kieran die Beschleunigung der Empyrean ein weiteres Mal erhöhen lassen. Die zusätzliche Gravitation belastete jeden Einzelnen der Crew, aber niemand beschwerte sich darüber. Was sie mehr als alles in der Welt wollten, war, die New Horizon zu erreichen und ihre Eltern zurückzubekommen. Wenn das bedeutete, dass ihre Gelenke auf dem Weg dorthin verschlissen wurden, dann war das eben der Preis, den es zu zahlen galt.
Während sie sich anzog, glitten ihre Gedanken zurück zu jenem Foto ihres Vaters an der Seite von Captain Jones und zu all den im Grunde oberflächlichen Aussagen rund um den Tod ihres Vaters. Fast schien es, als wären Details über den Unfall stets verschleiert, überspielt, vielleicht gar vertuscht worden – von Mason Ardvale, von Jones und sogar von ihrer eigenen Mutter. Als Waverly ihre Kabine verließ, schritt sie wie durch einen Nebel, die Arme vor der Brust verschränkt, den Kopf gesenkt, den Blick auf ihre Füße gerichtet. Ihr ging etwas wieder und wieder durch den Kopf, das Seth Ardvale bei den Parzellen kurz vor dem Angriff der New Horizon zu ihr gesagt hatte: Captain Jones’ Freunde neigen dazu, komplizierte Leben zu führen.
Sie war so sehr in Gedanken versunken, dass sie den Schatten des Jungen nicht sah, der kurz nach ihr aus der gegenüberliegenden Kabinentür schlüpfte und sich an ihre Fersen heftete.