* FÜNFZEHN

 

* I

 

Das Allgemeine Krankenhaus von Eastvale lag in der King Street, ungefähr einen halben Kilometer westlich des Polizeireviers und nicht weit von der Gesamtschule. Da es ein herrlicher warmer Tag wurde, entschied sich Banks zu einem Spaziergang. Nachdem er das Revier verlassen hatte, schaltete er seinen Walkman ein und hörte Muddy Waters' »Louisiana Blues«, während er durch das Labyrinth der engen Straßen mit ihren rissigen Steinmauern, Andenkenläden und überteuerten Pubs ging.

  Das Krankenhaus war ein schmuckloses, viktorianisches Backsteingebäude. In den hohen, zugigen Fluren lag eine fatalistische Stimmung. Nicht gerade das Krankenhaus, das ich mir aussuchen würde, wenn ich krank wäre, dachte Banks, während er in seiner Manteltasche nach der Stoptaste des Walkmans fingerte.

  Die Leichenhalle befand sich im Keller, der, genau wie die Zellenebene des Polizeireviers, der modernste Teil des Gebäudes war. Die Wände des Autopsieraumes waren weiß gekachelt, in der Mitte stand ein Metalltisch, an dessen Rändern Rinnen eingelassen waren, damit das Blut ablaufen konnte. An einer Wand erstreckte sich ein langer Experimentiertisch mit Bunsenbrennern und Mikroskopen, darüber war ein Regal für die Behälter mit Organen, Gewebeproben und bereits zusammengemischten chemischen Lösungen angebracht.

  Glücklicherweise war der Tisch leer, als Banks eintrat. Ein Laborassistent war gerade dabei, ihn gründlich abzuschrubben, während Glendenning mit einer Zigarette im Mundwinkel vor dem Experimentiertisch stand. In der Leichenhalle rauchte jeder; damit wollte man sich den Gestank des Todes vom Leibe halten.

  Der Laborassistent ließ ein chirurgisches Instrument in eine Nierenschale aus Metall fallen. Bei dem Klang zuckte Banks zusammen.

  »Gehen wir ins Büro«, sagte Glendenning. »Ich merke schon, dass Sie ein bisschen blass um die Kiemen werden.«

  Glendennings Büro war klein und voll gestopft. Für einen Mann seiner Statur und seines Ranges ziemlich unangemessen, dachte Banks. Aber dies war nicht Amerika; trotz privater Versicherungspläne konnte man mit Gesundheitsfürsorge kaum ein großes Geschäft machen. Glendenning zog seinen weißen Laborkittel aus, strich sein Hemd glatt und setzte sich hin. Banks nahm ein paar alte Medizinjournale von dem einzigen verbleibenden Stuhl und setzte sich dem Doktor gegenüber.

  »Kaffee?«

  Banks nickte. »Gerne.«

  Glendenning nahm den Hörer vom Telefon und drückte eine Taste. »Molly, Liebes, glaubst du, du kannst zwei Tassen Kaffee organisieren?« Er bedeckte die Sprechmuschel und fragte Banks, wie er seinen Kaffee wollte. »Einen schwarz ohne Zucker, und für mich wie immer. Ja, drei Stück Zucker, genau. Welche Diät? Und komm mir nicht mit diesem Muckefuck, den sie an der Rezeption trinken. Was? Ja. Ich weiß, dass dir gestern der Kaffee ausgegangen ist, aber das ist keine Entschuldigung. Ich habe seit drei Wochen kein Kaffeegeld bezahlt? Was soll das werden, gute Frau, eine verfluchte Inquisition?« Er knallte den Hörer auf, fuhr mit einer Hand durch sein weißes Haar und seufzte. »Gute Mitarbeiter sind heutzutage schwer zu finden. Na gut, Mr. Banks, dann wollen wir mal sehen, was wir hier haben.« Er wühlte durch einen Stapel Papiere auf seinem Schreibtisch.

  Wahrscheinlich wusste er alles auswendig, dachte Banks, aber er brauchte die Sicherheit der Akten und Blätter vor ihm. Auch Richmond las immer gerne alles aus seinem Notizbuch ab, obwohl er es schon vorher ganz genau wusste.

  »Seth Cotton, ja, armer Kerl.« Glendenning zog eine Lesebrille mit halbmondförmigen Gläsern aus seiner Hemdtasche und überflog den Bericht. Als er damit fertig war, legte er ihn beiseite, nahm die Brille ab und lehnte sich in seinem Stuhl zurück, wobei er seine großen, aber feingliedrigen Hände auf dem Schoß faltete. Der Kaffee wurde hereingebracht, und bevor Molly wieder ging, schenkte sie ihrem Chef noch einen missbilligenden Blick.

  »Letzte Mahlzeit ungefähr drei Stunden vor Todeseintritt«, sagte Glendenning. »Und zwar eine gute, wenn ich das sagen darf. Roastbeef, Yorkshire Pudding. Was kann sich ein verurteilter Mann Besseres wünschen?«

  Banks trank einen Schluck Kaffee. Er war kochend heiß und schmeckte gut. Eindeutig handelte es sich nicht um den »Muckefuck« von der Rezeption.

  »Eine Vergiftung konnte nicht nachgewiesen werden, auch keine weiteren Wunden, mit Ausnahme der äußeren. Mr. Cotton erfreute sich bester Gesundheit, bis das Blut aus seinem Körper floss.«

  »War das die Todesursache?«

  »Genau. Ein Blutverlust von circa zweieinhalb Litern führt gewöhnlich zum Tode.«

  »Was ist mit dem Schlag auf den Kopf? Wurde er vor oder nach den Schnitten an den Knöcheln zugefügt?«

  Glendenning kratzte sich den Kopf. »Das kann ich Ihnen nicht sagen. Die Körperfunktionen waren noch ziemlich beständig. Wie Sie selbst sehen konnten, ist eine Menge Blut ausgetreten. Und der Leukozytwert war hoch. Das sind die weißen Blutkörperchen, die kleinen Reparaturmänner des Körpers. Wenn der Schlag gegen den Kopf einige Zeit nach dem Tod stattgefunden hätte, dann hätte es dafür natürlich eindeutige Hinweise gegeben. Die beiden Verletzungen sind jedoch so kurz aufeinander erfolgt, dass man unmöglich sagen kann, welche zuerst kam. Als er mit dem Kopf aufschlug, war Cotton bestimmt noch am Leben. Wie lange er aber nach dem Schlag noch gelebt hat, kann ich nicht sagen. Selbstverständlich wird die Kopfwunde zur Bewusstlosigkeit geführt haben, und dass es sehr schwer ist, sich im bewusstlosen Zustand die Knöchel aufzuschlitzen, dürfte Ihnen bewusst sein.«

  »Könnte er mit dem Kopf aufgeschlagen sein, als er sich runterbeugte, um sich die Knöchel aufzuschlitzen?«

  Glendenning schürzte seine Lippen. »Würde ich nicht sagen, nein. Sie haben das Blut auf der Werkbank gesehen. Davon ist nichts auf den Boden getropft. Angesichts des Winkels der Wunde und der scharfen Kanten des Schraubstockes würde ich sagen, dass sein Kopf genau dort liegen geblieben ist, wo er nach dem Schlag gelandet ist.«

  »Könnte jemand von hinten gekommen sein und seinen Kopf auf den Schraubstock gestoßen haben?«

  »Jetzt wollen Sie, dass ich spekuliere, Mr. Banks. Ich kann Ihnen lediglich sagen, dass ich weder Kratzspuren noch Druckstellen am Hals oder Kopf gefunden habe.«

  »Heißt das nein?«

  »Nicht unbedingt. Wenn man von hinten an jemanden herantritt und seinem Kopf einen schnellen Stoß gibt, bevor er reagieren kann, dann glaube ich nicht, dass es Spuren geben würde.«

  »Dann muss es also jemand gewesen sein, den er kannte. Wenn sich jemand anderes an ihn herangeschlichen hätte, dann hätte er das merken müssen. Der Täter muss bereits in der Werkstatt gewesen sein, es muss jemand gewesen sein, dessen Anwesenheit ihn nicht daran störte, mit seiner Arbeit weiterzumachen.«

  »Theorien, nichts als Theorien«, sagte Glendenning. »Ich verstehe nicht, warum Sie sich mit Selbstmord nicht zufrieden geben. Es gibt absolut keinen Beweis für das Gegenteil.«

  »Keinen medizinischen vielleicht.«

  »Tut mir Leid«, sagte Glendenning. »Ich würde Ihnen gerne weiterhelfen, aber das sind die Fakten. Die Kopfverletzung war in keiner Weise verantwortlich für Mr. Cottons Tod, hätte aber sehr wohl zu Komplikationen führen können, wenn er am Leben geblieben wäre.«

  »Komplikationen? Welche Komplikationen?«

  Glendenning runzelte die Stirn und zog eine Zigarette aus dem Kästchen auf seinem Schreibtisch. Es sah antik aus, und auf der Oberseite bemerkte Banks ein paar in kunstvoller Kursivschrift eingravierte Worte: »Für Dr. C.W.S. Glendenning, zum erfolgreichen Abschluss ...« Mehr konnte er nicht lesen. Er nahm an, dass es sich um eine Art Geschenk zum Universitätsabschluss handelte.

  »Alle möglichen«, antwortete Glendenning. »Wir wissen nicht viel über das menschliche Gehirn, Mr. Banks. Wesentlich mehr als früher natürlich, aber noch nicht genug. Bestimmte Kopfverletzungen können weit schlimmere Auswirkungen haben, als die Kraft des Schlages und das Ausmaß des sichtbaren Schadens glauben machen. Knochensplitter können im Gewebe stecken bleiben, und selbst Druckstellen können zu Problemen führen.«

  »Zu welchen Problemen?«

  »Zu fast allen. Zeitweiliger oder ständiger Gedächtnisverlust, Hör- und Sehprobleme, Gleichgewichtsstörung, Persönlichkeitsveränderung, vorübergehende Bewusstseinsspaltung. Muss ich fortfahren?«

  Banks schüttelte den Kopf.

  »Aber im Fall von Mr. Cotton werden wir das natürlich nie erfahren.«

  »Nein.« Banks stand auf. »Trotzdem, vielen Dank, Doktor.«

  Glendenning neigte würdevoll das Haupt.

  Auf dem Weg zurück zum Revier nahm Banks Muddy Waters kaum wahr. Glendenning zufolge könnte Cotton ermordet worden sein, und das reichte Banks. Natürlich würde sich der Doktor nicht festlegen, das tat er nie, aber schon ein Eingeständnis der Möglichkeit bedeutete bei ihm eine Menge. Wenn Burgess Recht hatte, war die Wahrscheinlichkeit groß, dass Boyd der Täter war. Und damit würde Seths Blut an Banks' Händen kleben.

  Als wäre das noch nicht genug, ließ ihm eine andere Sache keine Ruhe. Es war eines dieser frustierenden Gefühle, die man nicht richtig benennen konnte, so wie wenn einem ein Name auf der Zunge lag oder man einen Juckreiz verspürte und sich nicht kratzen konnte. Er wollte nicht voreilig sein, aber es fühlte sich wie der vertraute Anflug einer Ahnung an. Sich widersprechende Fakten trafen aufeinander, und mit einer Menge bemühten Nachdenkens, etwas Hilfe des Unterbewusstseins und ein bisschen Glück könnten sie tatsächlich zu einer Antwort führen. Noch war er weit davon entfernt, und als Muddy Waters begann »Still A Fool« zu singen, glaubte ihm Banks. Noch war er der Dumme.

  Die Kirchturmuhr zeigte kurz nach elf Uhr an. Burgess war wohl unterwegs, um Osmond und die Studenten zu vernehmen. In seinem Büro rief Banks das Labor der Spurensicherung an und verlangte Vic Manson. Er musste ein paar Minuten warten, aber schließlich kam Vic an den Apparat.

  »Haben Sie etwas über die Fingerabdrücke rausgefunden?«, fragte Banks.

  »Ja. Vier verschiedene Abdrücke. Auf jeden Fall vier identifizierbare. Ein Abdruck gehört natürlich dem Verstorbenen, ein anderer diesem Boyd. Es sind die gleichen, die wir auf dem Messer gefunden haben. Dann noch zwei weitere.«

  »Die sind wahrscheinlich von Mara und einem der anderen«, sagte Banks. »Vielen Dank, Vic. Ich versuche, zum Vergleich Fingerabdrücke der anderen zu bekommen. Ist Geoff Tingley in der Nähe?«

  »Ja. Sekunde, ich hole ihn.«

  Banks konnte am anderen Ende der Leitung entfernte Stimmen hören, dann nahm jemand den Hörer in die Hand. »Hier Tingley«, sagte er. »Geht es um diese Briefe?«

  »Genau.«

  »Nun, ich bin so gut wie sicher, dass sie nicht von ein und derselben Person getippt wurden. Bei den Veränderungen des Tastendrucks muss man eigentlich immer ein paar Zugeständnisse machen, doch diese Briefe unterscheiden sich so stark, dass ich fast überzeugt bin. Aber ich könnte ein paar weitere Proben von wenigstens einem der Schreiber gebrauchen. Damit hätte ich mehr Variablen und einen breiteren Vergleichsrahmen.«

  »Ich werde mal sehen, was ich machen kann«, sagte Banks. Wahrscheinlich gab es in dem Aktenschrank der Werkstatt weitere maschinengeschriebene Briefe von Seth. »Würde es was bringen, wenn wir einen Verdächtigen eine Probe tippen lassen?«

  »Mmmh. Vielleicht. Das Problem ist, wenn er weiß, worauf wir hinaus wollen, könnte er es leicht fälschen. Ich würde jedoch sagen, dieser Kerl ist ein Arbeitertyp. Bei dem durchgängigen starken Aufdruck kann man davon ausgehen, dass der Brief hingehackt worden ist. Jeder einzelne Buchstabe ist sozusagen sehr bedächtig ausgesucht und dann runtergedrückt worden. Klassische Zwei-Finger-Technik. Der andere Kerl war ein besserer Maschineschreiber, er hat auch mit zwei Fingern geschrieben, würde ich sagen, aber ziemlich schnell und genau. Wahrscheinlich hatte er wesentlich mehr Übung. Und da ist noch etwas anderes. Ist Ihnen aufgefallen, dass die Schreibstile der Briefe ...«

  »Ja«, sagte Banks. »Das haben wir bemerkt. Aber gut, dass Sie darauf hinweisen.«

  Tingley klang enttäuscht. »Oh, keine Ursache.«

  »Vielen Dank. Ich melde mich wegen der Proben und Vergleiche. Würden Sie mir noch mal Vic geben? Mir ist da gerade etwas eingefallen.«

  »Mach ich.«

  »Sind Sie noch dran?«, fragte Manson wenige Sekunden später.

  »Ja. Hören Sie, Vic, es gibt noch ein paar Punkte. Zuerst einmal die Schreibmaschine.«

  »Keine eindeutigen Spuren, nur ein paar verwischte Abdrücke.«

  »Wurde sie abgewischt?«

  »Könnte sein.«

  »Auf dem Tisch lag ein Lappen, oder? So ein gelbes Staubtuch.«

  »Ja, stimmt«, sagte Manson. »Soll ich es nach Fasern untersuchen?«

  »Wenn Sie das bitte tun würden. Und das Papier?«

  »Das Gleiche, nichts Brauchbares.«

  »Was ist mit diesem Stift oder was wir da auf dem Boden gefunden haben? Hatten Sie schon Zeit, sich darum zu kümmern?«

  »Ja. Es ist ein einfacher Kugelschreiber, ein Bic. Natürlich keine Fingerabdrücke, alles ist verwischt.«

  »Mmmmh.«

  Der Stift war in der Blutlache, genau unter Seths herabhängendem rechten Arm gefunden worden. Wenn er Rechtshänder war, wovon Banks ausging, könnte er den Stift benutzt haben, um vor seinem Tod ein paar Zeilen aufzuschreiben. Er könnte natürlich auch schon früher dorthin gefallen sein, aber Seth war sehr ordentlich gewesen, besonders in seinen letzten Momenten. Vielleicht hatte er seinen eigenen Abschiedsbrief geschrieben, und der Mörder hatte ihn weggenommen und durch die zweite Version ersetzt. Warum? Weil Seth Gill nicht ermordet und dies in seinem Brief deutlich gemacht hatte? Das hieß, dass er aus völlig anderen Motiven Selbstmord begangen hatte. Hatte er den Mörder sogar genannt, oder war er gestorben, um die Identität nicht preisgeben zu müssen?

  Schon wieder Fragen über Fragen. Vielleicht hatten Burgess und Glendenning Recht, und er war ein Dummkopf, weil er die einfachen Lösungen nicht akzeptieren wollte. Schließlich hatte er die Wahl: Entweder war Seth, wie aus dem Brief hervorging, schuldig und er hatte sich wirklich selbst getötet, oder Paul Boyd hatte ihn aus Angst, entdeckt zu werden, getötet und den Abschiedsbrief gefälscht. Banks tendierte mehr zur zweiten These, konnte sich aber aus irgendeinem Grund immer noch nicht davon überzeugen, dass Boyd es getan hatte. Und nicht nur, weil er die Verantwortung dafür hatte, dass der Junge aus dem Gefängnis entlassen worden war. Sicherlich, Boyd hatte eine Vorstrafe und war geflohen, als das Messer entdeckt wurde. Womöglich war er wesentlich härter und cleverer, als jeder meinte. Wenn er zum Beispiel seine Klaustrophobie vortäuschen würde, sodass selbst Burgess geneigt war, ihm seine Angst vor einer Inhaftierung zu glauben, dann wurde alles denkbar. Aber bisher hatten sie nichts weiter als Indizien, und Banks hatte immer noch das Gefühl, dass das Bild unvollständig war. Er zündete sich eine Zigarette an und ging hinüber zum Fenster, um auf den Marktplatz zu schauen. Heute brachte ihm der Blick keinerlei Inspiration.

  Schließlich beschloss er, vor dem Mittag noch seinen Schreibtisch aufzuräumen. Fast jeder verfügbare Quadratzentimeter war mit kleinen, gelben Post-it-Zetteln vollgeklebt, von denen er die meisten vor einer Ewigkeit beschriftet hatte. Er knüllte alle zusammen und warf sie in den Papierkorb. Als Nächstes waren die Akten, Aussagen und Berichte an der Reihe, die er gelesen hatte, um sein Gedächtnis über die in den Fall verwickelten Personen aufzufrischen. Die meisten Unterlagen wurden im Archiv aufbewahrt, doch Banks hatte die Angewohnheit entwickelt, Kurzakten aller Fälle anzulegen, mit denen er zu tun hatte. Ganz oben lag seine Akte über Elizabeth Dale. Als er sie wieder in die Hand nahm, fiel ihm ein, dass er sie nach langem Suchen gerade aus dem Aktenschrank gezogen hatte, als Sergeant Rowe ihn telefonisch von Seth Cottons Tod in Kenntnis gesetzt hatte.

  Er klappte den Hefter auf und rief sich wieder die Fakten ihres Falles ins Gedächtnis. Eigentlich handelte es sich um keinen Fall, sondern nur um einen unbedeutenden Vorfall, der sich vor achtzehn Monaten ereignet hatte.

  Elizabeth Dale hatte sich aus eigenem Entschluss in eine psychiatrische Klinik in den Außenbezirken von Huddersfield begeben. Sie klagte über Depressionen, Apathie und eine allgemeine Unfähigkeit, mit der Außenwelt zurechtzukommen. Nach ein paar Tagen Beobachtung und Behandlung war sie zu dem Entschluss gekommen, dass ihr die Versorgung nicht gefiel, und weggelaufen. Ihr Ziel war Maggie's Farm, sie wusste, dass dort Seth Cotton lebte, ein alter Freund aus Hebden Bridge. Die Klinikverwaltung informierte Eastvale, dass sie von einem Freund mit einem Haus in der Nähe von Relton gesprochen hatte, und bat den ansässigen Sozialdienst, doch bitte nachzuprüfen, ob sie dort war.

  Sie war dort. Dennis Osmond wurde auf die Farm geschickt und sollte versuchen, sie zu ihrem eigenen Wohle zur Rückkehr in die Klinik zu bewegen. Doch Ms. Dale war hartnäckig und blieb auf der Farm. Osmond hatte sogar zu behaupten gewagt, dass der Ort ihr wahrscheinlich gut tun würde. Aus Wut und Verzweiflung hatte die Klinik dann zwei eigene Mitarbeiter losgeschickt, die Elizabeth überredeten, mit ihnen zurückzukehren. Sie hatten sie unter Druck gesetzt und ihr mit einer Zwangseinweisung gedroht, auf jeden Fall hatten sich Seth Cotton und Osmond damals dahingehend beschwert.

  Da Elizabeth Dale früher einmal drogenabhängig gewesen war und die Klinikangestellten die Bewohner der Farm des Drogenmissbrauches verdächtigten, wurde die Polizei hinzugezogen. Banks war damals gemeinsam mit Sergeant Hatchley und einem uniformierten Constable losgezogen, doch sie hatten nichts gefunden. Ms. Dale ging zurück in die Klinik, und soweit sich Banks erinnern konnte, kehrte wieder Ruhe ein.

  Im Lichte der jüngsten Ereignisse wurde die Geschichte jedoch wesentlich interessanter. Zum einen hatten sowohl Elizabeth Dale als auch Dennis Osmond durch die Beschwerden, die sie unabhängig voneinander eingelegt hatten, einen Bezug zu Constable Gill. Und nun hatte es den Anschein, dass es noch eine weitere Verbindung zwischen Osmond und Dale gab.

  Wo befand sich Elizabeth Dale heute? Er würde nach Huddersfield fahren und sie selbst ausfindig machen müssen. Aus Erfahrung wusste er, dass es absolut keinen Sinn hatte, mit Ärzten per Telefon zu verhandeln. Aber das würde bis morgen warten müssen. Zuerst wollte er mit Mara sprechen, vorausgesetzt, ihr ging es gut genug. Bevor er aufbrach, wollte er jedoch Jenny anrufen, um zu versuchen, ihren Streit von Sonntagmittag aus der Welt zu schaffen.

  Gerade, als er zum Hörer greifen wollte, klingelte das Telefon.

  »Chief Inspector Banks?«

  »Am Apparat.«

  »Mein Name ist Lawrence Courtney von Courtney, Courtney und Courtney. Rechtsanwälte.«

  »Ja, ich habe von der Kanzlei gehört. Was kann ich für Sie tun?«

  »Es geht eher darum, was ich für Sie tun könnte«, sagte Courtney. »Heute Morgen habe ich in der Zeitung gelesen, dass ein gewisser Seth Cotton verstorben ist. Ist das korrekt?«

  »Das stimmt, ja.«

  »Nun, möglicherweise interessiert es Sie zu erfahren, Chief Inspector, dass wir Mr. Cottons Testamentsvollstrecker sind.«

  »Testament?«

  »Ja, Testament.« Er klang leicht irritiert. »Sind Sie interessiert?«

  »Aber sicher.«

  »Würde es Ihnen passen, nach dem Mittag in unserem Büro vorbeizukommen?«

  »Ja, sicherlich. Aber hören Sie, können Sie mir sagen ...«

  »Gut. Ich treffe Sie dann. Sagen wir, so um halb drei? Auf Wiedersehen, Chief Inspector.«

  Banks knallte den Hörer auf. Aufgeblasener ScheißRechtsanwalt. Er fluchte und griff nach einer Zigarette. Aber ein Testament? Das kam unerwartet. Banks hätte nicht gedacht, dass sich solch ein Nonkonformist wie Seth mit dem Aufsetzen eines Testamentes abgegeben hätte. Andererseits besaß er Grund und Boden sowie ein Geschäft. Aber wie konnte er überhaupt in Erwägung gezogen haben, in naher Zukunft zu sterben?

  Banks notierte sich den Namen des Rechtsanwaltes und den Termin des Treffens und klebte den Zettel auf seinen Schreibtisch. Dann holte er tief Luft, rief Jenny in ihrem Universitätsbüro in York an und kam gleich zur Sache. »Es tut mir Leid wegen gestern. Ich kann mir denken, wie es geklungen haben muss, aber ich wusste nicht, wie ich es dir sonst sagen sollte.«

  »Ich habe übertrieben reagiert«, sagte Jenny. »Ich komme mir wie ein Idiot vor. Du hast wohl nur deinen Job gemacht.«

  »Eigentlich wollte ich es dir gar nicht erzählen. Aber dann habe ich gemerkt, dass es gefährlich sein könnte, in Osmonds Nähe zu sein.«

  »Und ich hätte deine Warnung nicht als Einmischung verstehen dürfen. Aber allmählich bin ich ziemlich frustriert. Scheiß-Männer! Warum suche ich mir immer wieder die falschen aus?«

  »Spielt es für dich eine Rolle, was er getan hat?«

  »Natürlich tut es das.«

  »Wirst du ihn weiterhin treffen?«

  »Keine Ahnung.« Sie täuschte einen gelangweilten Ton vor. »So langsam ödet er mich sowieso an. Hat es irgendwelche Entwicklungen gegeben?«

  »Wobei? Beim Einbruch oder dem Mord an Gill?«

  »Nun, bei beiden, wenn du schon fragst. Was ist los? Du klingst ein bisschen angespannt.«

  »Ach, nichts. Es war ein anstrengender Morgen, das ist alles. Außerdem hatte ich Bammel, dich anzurufen. Hast du von Seth Cotton gelesen?«

  »Nein. Ich kam heute Morgen nicht dazu, in die Zeitung zu schauen. Wieso, was ist passiert?«

  Banks erzählte es ihr.

  »O Gott. Arme Mara. Glaubst du, ich kann irgendetwas tun?«

  »Weiß ich nicht. Ich habe keine Ahnung, in welcher Verfassung sie jetzt ist. Ich will sie heute Nachmittag noch besuchen. Ich grüße sie von dir, wenn du willst.«

  »Ja, bitte. Sag ihr, wie Leid es mir tut. Und wenn sie jemanden zum Reden braucht ... Was ist deiner Meinung nach passiert? Oder kannst du es nicht sagen?«

  »Ich wünschte, ich könnte.« Banks gab ihr eine Zusammenfassung seiner Gedanken.

  »Und ich nehme an, du fühlst dich verantwortlich, oder? Ist das der Grund, warum du nicht glauben willst, dass es Boyd getan hat?«

  »Was das Schuldgefühl angeht, hast du Recht. Burgess hätte ihn nie gehen lassen, wenn ich ihn nicht dazu gedrängt hätte.«

  »Burgess kommt mir kaum wie der Typ Mensch vor, der sich Druck beugt. Ich kann mir nicht vorstellen, dass er sich zu irgendetwas bereit erklärt, das er nicht selbst will.«

  »Vielleicht hast du Recht. Aber es ist nicht nur das. Glaube ich wenigstens. Hinter der Sache steckt etwas viel Komplexeres. Aber bitte sag jetzt nicht, dass ich immer alles verkompliziere. Das habe ich schon oft genug gehört.«

  »Oh, sind wir heute empfindlich? Ich hatte nichts dergleichen im Sinn.«

  »Entschuldige. Meine Nerven liegen wohl etwas blank. Aber zurück zum Einbruch. Ich lasse da was untersuchen, und wir werden wahrscheinlich heute Abend, spätestens morgen früh mehr wissen.«

  »Und worum geht es?«

  »Das würde ich lieber noch nicht sagen. Aber keine Sorge, ich glaube nicht, dass Osmond irgendwie in Gefahr schwebt.«

  »Bist du sicher?«

  »Absolut.«

  »Ob du Recht hast?«

  »Habe ich jemals Unrecht? Pass auf, bevor du zu viel kriegst, ich muss jetzt gehen. Ich melde mich später.«

  Aber wohin er gehen musste, wusste er gar nicht genau. Für den Besuch beim Rechtsanwalt war es noch zu früh. Leicht depressiv zündete er sich eine Zigarette an und ging ans Fenster. Das Queens' Arms, das war es. Eine Pastete und ein Pint würden ihn schnell aufmuntern. Außerdem hatten er und Burgess sich unverbindlich um halb zwei dort verabredet, um ihre Ergebnisse zu vergleichen.

 

* II

 

Banks fand das Büro von Courtney, Courtney und Courtney in der Market Street, ziemlich nah beim Polizeirevier. Zu nah, um genau zu sein, denn für den Weg lohnte es sich nicht, den Walkman einzuschalten.

  Die Rechtsanwaltskanzlei befand sich in einem ehemaligen Teeladen. Das neue Firmenschild prangte als Halbkreis aus goldenen Buchstaben auf dem Fenster. Banks fragte die junge Empfangsdame nach Lawrence Courtney und wurde nach einem kurzen Wortwechsel über die Gegensprechanlage in ein großes Büro geführt, das mit Gesetzestexten voll gestapelt war.

  Lawrence Courtney, hinter einem riesigen Schreibtisch eingezwängt, war nicht die wohlerzogene Gestalt im dreiteiligen Anzug und mit goldener Uhrkette, Kneifer und gerümpfter Nase, die ständig einem schlechten Geruch ausgesetzt zu sein scheint, wie Banks es nach dem Telefonat erwartet hatte. Stattdessen sah er sich einem entspannten, rundlichen Mann um die fünfzig mit etwas zu langem, blondem Haar, einem breiten, rötlichen Gesicht und einer ziemlich angenehmen Ausstrahlung gegenüber. Sein Jackett hing hinter der Tür. Er trug ein weißes Hemd, eine rot-grüngestreifte Krawatte und schlichte, schwarze Hosenträger. Banks fiel auf, dass der obere Knopf des Hemdes geöffnet und die Krawatte gelockert war, genau wie seine eigene.

  »Seth Cottons Testament«, sagte Banks, als er sich nach einem forschen, feuchten Händedruck hingesetzt hatte.

  »Ja. Ich dachte mir, dass Sie daran interessiert sein würden«, sagte Courtney. Der Anflug eines Lächelns huschte über seine rosafarbenen, gummiartigen Lippen.

  »Wann hat er es aufgesetzt?«

  »Da muss ich nachschauen ... Vor ungefähr einem Jahr, glaube ich.« Courtney fand das Dokument und las das Datum ab.

  »Warum ist er zu Ihnen gekommen? Ich weiß nicht, wie gut Sie ihn kannten, aber mir kam er nicht wie die Sorte Mensch vor, die etwas mit Rechtsanwälten zu tun hat.«

  »Wir haben den Hauskauf durchgeführt«, sagte Courtney, »und als die Eigentumsübertragung abgeschlossen war, schlugen wir ein Testament vor. Das machen wir häufig. Dabei geht es gar nicht so sehr um Kundenfang, sondern um eine Vereinfachung der Angelegenheiten. Sehr viele Menschen sterben, ohne ein Testament zu hinterlassen, und Sie machen sich keine Vorstellungen, zu welchen Komplikationen das führt, wenn es keine engere Familie gibt. Nehmen wir zum Beispiel das Haus. Soweit ich weiß, war Mr. Cotton weder verheiratet noch lebte er in einer eheähnlichen Gemeinschaft.«

  »Wie hat er auf Ihren Vorschlag reagiert?«

  »Er sagte, er würde darüber nachdenken.«

  »Und er hat zwei Jahre darüber nachgedacht?«

  »Scheint so, ja. Entschuldigen Sie meine Frage, Chief Inspector, aber warum interessieren Sie sich so sehr für die Gründe, ein Testament zu machen? Das ist ganz normal.«

  »Mich wundert der Zeitpunkt, mehr nicht. Ich habe mich nur gefragt, warum er es gerade damals gemacht hat und nicht zu einem beliebigen anderen Zeitpunkt.«

  »Mmmh. Das sind wohl Dinge, über die Leute wie Sie nachdenken müssen. Sind Sie überhaupt an dem Inhalt interessiert?«

  » Selbstverständlich. «

  Courtney faltete das Papier vollständig auseinander, starrte es an, legte es dann wieder beiseite und schob die Daumen unter die Hosenträger. »Eigentlich ist es nicht viel«, sagte er. »Er hinterlässt das Haus und das wenige Geld, das er besaß - irgendwas im Bereich von zweitausend Pfund, glaube ich, aber das müssen Sie noch bei der Bank überprüfen -, einer Mara Delacey.«

  »Mara? Und das war's?«

  »Nicht ganz. Merkwürdigerweise hat er erst vor wenigen Monaten eine Änderung vorgenommen. Kurz vor Weihnachten, um genau zu sein. Sie hat keine Auswirkung auf den ursprünglichen Nachlass, sondern schreibt lediglich vor, dass alles Material, Vermögen und Wohlwollen, welches seine Tischlerei betrifft, in der Hoffnung, dass er es vernünftig benutzen wird, an Paul Boyd übergehen soll.«

  »Verdammt noch mal!«

  »Stimmt was nicht?«

  »Nein, nichts. Entschuldigen Sie. Haben Sie etwas dagegen, wenn ich rauche?«

  »Wenn es sein muss.« Courtney nahm einen sauberen Aschenbecher aus der Schublade und schob ihn missbilligend zu Banks hinüber. Davon unbeeindruckt zündete sich Banks eine Zigarette an.

  »So wie ich das sehe«, sagte Banks, »hat er also das Haus und das Geld Mara vermacht, nachdem er sie erst seit einem Jahr oder so gekannt hat, und die Tischlerei Paul, nachdem der Junge erst seit ein paar Monaten auf der Farm gewesen ist.«

  »Wenn Sie das sagen, Chief Inspector. Das würde darauf schließen lassen, dass Mr. Cotton anderen Menschen schnell vertraute.«

  »Allerdings. Oder dass es niemand anderen gab, den er auch nur in Betracht ziehen konnte. Ich bezweifle, dass er gewollt hätte, dass seine gesamte Habe an den Staat fällt. Aber wer weiß, wo Boyd gewesen wäre, wenn Cotton eines natürlichen Todes gestorben wäre? Oder Mara. Könnte er geahnt haben, dass er in Gefahr schwebte?«

  »Die Frage kann ich Ihnen leider nicht beantworten«, sagte Courtney. »Unsere Aufgabe umfasst lediglich die gesetzlichen Formalitäten, und Mr. Cotton hat mit Sicherheit mit keinem Wort ein kurz bevorstehendes Ableben erwähnt. Wenn ich Ihnen sonst irgendwie helfen kann, dann bin ich natürlich jederzeit dazu bereit.«

  »Ich danke Ihnen«, sagte Banks. »Ich glaube, das ist alles. Werden Sie Mara Delacey informieren?«

  »Wir werden uns zu gegebener Zeit mit den Begünstigten in Verbindung setzen, ja.«

  »Ist es in Ordnung, wenn ich ihr heute Nachmittag davon erzähle?«

  »Ich sehe nicht, was dagegen spricht. Und Sie könnten sie bitten, hier im Büro vorbeizuschauen. Wenn möglich, beide. Ich erkläre ihnen sehr gern die Vorgehensweise. Wenn Sie irgendwelche Probleme mit der Bank bekommen sollten, Chief Inspector, dann verweisen Sie sie an mich. Es handelt sich um die National Westminster Bank, oder NatWest, wie sie sich meines Wissens heutzutage nennt. Die Filiale am Marktplatz. Der Leiter ist ein sehr geschätzter Klient.«

  »Ich kenne die Filiale.« Ich kenne sie, dachte Banks, ich starre sie praktisch jeden Tag stundenlang ununterbrochen an.

  »Dann auf Wiedersehen, Chief Inspector. Es war mir ein Vergnügen.«

  Verwirrter denn je ging Banks hinaus auf die Straße. Bevor er jedoch zurück ins Revier kam, musste er erst seine konfusen Gedanken ein wenig sortieren. Das Testament hatte mit dem Fall wahrscheinlich überhaupt nichts zu tun. Seth Cotton hatte einfach mehr Weitblick besessen, als die meisten Menschen von ihm erwartet hätten. Was war falsch daran? Da seine Eltern tot waren und er keine nahe Verwandtschaft hatte, war es vollkommen natürlich, dass er das Haus Mara hinterließ. Und Paul Boyd war schließlich sein Lehrling. Aus Seths Perspektive handelte es sich um eine Geste des Vertrauens und der Zuneigung.

  Selbst wenn Mara und Paul gewusst hätten, was sie erben würden, hätte keiner von beiden, das stand für Banks fest, Seth ermordet, um es zu bekommen. Mit Seth war das Leben für Mara eindeutig besser als ohne ihn. Und was für hässliche Seiten Boyds Charakter auch verbergen mochte, er war weder dumm noch kleinkariert genug, um für einen Satz Tischlerwerkzeuge zu töten. Vergiss also das Testament, sagte sich Banks. Es war eine nette Geste, aber es war unwichtig. Außer vielleicht was das Datum betraf. Warum hatte er nach Courtneys Vorschlag zwei Jahre gewartet, bis er das Testament tatsächlich aufsetzte? Unentschlossenheit?

  Daraus ergab sich zudem eine wesentlich ernstere Frage: Hatte Seth vor einem Jahr das Gefühl gehabt, dass sein Leben in Gefahr war? Wenn das der Fall war, warum hatte es dann so lange gedauert, bis sich die Gefahr zeigte? Und war die Angst davor außerdem in der Weihnachtszeit erneut aufgeflammt?

  Bevor er in sein Büro zurückkehrte, schaute er kurz in die National Westminster Bank hinein. Er hatte keinerlei Probleme, Einzelheiten über Seths finanzielle Angelegenheiten zu erfahren. Sein Sparkonto belief sich auf 2343,64 Pfund, sein Girokonto auf 421,33 Pfund.

  Als er ins Revier kam, war es nach halb vier Uhr. Eine Nachricht von Vic Manson besagte, dass Fasern, die mit denen des Staubtuches übereinstimmten, auf den Tasten der Schreibmaschine gefunden worden waren. Aber, hatte Manson mit der typischen Vorsicht eines Kriminaltechnikers hinzugefügt, es gab keine Möglichkeit nachzuweisen, ob die Maschine abgewischt wurde, bevor oder nachdem der Abschiedsbrief getippt worden war. Der Druck der Finger auf die Tasten verschmiert häufig die Abdrücke.

  Banks' kurzes Gespräch mit Burgess beim Mittag hatte auch nichts Neues ergeben. Dirty Dick hatte Osmond getroffen, war aber keinen Schritt weiter gekommen. Nachmittags wollte er zu Tim und Abha und war ziemlich froh, dass er Mara Delacey Banks überlassen konnte. Soweit es Burgess betraf, war die Sache so gut wie gelaufen, er wollte allerdings noch mehr Beweise, um Boyd oder Cotton mit politischem Extremismus in Verbindung zu bringen. Fast die ganze Zeit hatte er Glenys im Visier gehabt und Banks daran erinnert, dass sie heute ihren freien Abend hatte. Zum Glück war Cyril nirgends zu sehen gewesen.

  Banks hinterließ Burgess eine Nachricht im Revier, in der er zusammenfasste, was Lawrence Courtney über Seths Testament berichtet hatte. Da Richmond mit anderen Dingen beschäftigt war, rief er dann Sergeant Hatchley, damit er ihn begleitete und die Ausrüstung für Fingerabdrücke mitbrachte. Er nahm die Muddy-Waters-Kassette aus seinem Walkman und eilte mit ihr und einem schnaubenden und schnaufenden Hatchley im Schlepptau hinaus zum Wagen. Es war Zeit für ein Gespräch mit Mara Delacey, sofern sie dazu bereit war.

  »Was halten Sie von Superintendent Burgess?«, fragte Banks Hatchley unterwegs. Während der letzten paar Tage hatten sie kaum Gelegenheit gehabt, miteinander zu sprechen.

  »Unter uns?«

  »Ja.«

  »Tja ...« Hatchley rieb sich das Gesicht mit einer seiner Pranken. »Am Anfang schien er ganz in Ordnung zu sein. Er hat irgendwie Feuer unter dem Hintern. Sie wissen schon, auf und davon. Aber ich hätte gedacht, dass so ein Überflieger wie er mittlerweile schon ein bisschen weiter gekommen sein müsste.«

  »Wir sind alle nicht viel weiter gekommen«, sagte Banks. »Was wollen Sie? Der Mann ist schließlich auch nur aus Fleisch und Blut.«

  »Das wird es wohl sein. Am Anfang macht er viel Tamtam und dann ...«

  »Unterschätzen Sie ihn nicht«, sagte Banks. »Er fühlt sich hier oben einfach fehl am Platz. Es frustriert ihn allmählich, dass nicht aus jedem Winkel und Loch unserer Stadt wahnsinnige Anarchisten hervorkriechen.«

  »Genau«, sagte Hatchley. »Und Sie dachten, ich wäre ein Erzkonservativer.«

  »Das sind Sie auch.«

  Hatchley knurrte.

  »Wenn wir da sind, dann möchte ich, dass Sie einen Blick in Seths Aktenschrank in der Werkstatt werfen«, fuhr Banks fort, als er auf die Römerstraße bog. »Gucken Sie, ob Sie noch mehr Beispiele für seine Maschinenschrift finden. Außerdem möchte ich, dass Sie von jedem die Fingerabdrücke nehmen. Fragen Sie nach ihrem Einverständnis, und wenn sie sich weigern, sagen Sie ihnen, dass wir einen Gerichtsbeschluss kriegen können. Erklären Sie ihnen auch, dass alle Abdrücke vernichtet werden, sofern es zu keiner Anklage kommt.« Banks hielt inne und kratzte seine Narbe. »Ich hätte auch gerne, dass alle ein paar Zeilen auf Seths Schreibmaschine tippen, aber da müssen wir erst warten, bis sie aus dem Labor zurückkommt. Alles klar?«

  »In Ordnung«, sagte Hatchley.

  Zoe öffnete die Tür, sie sah müde und abgespannt aus.

  »Mara ist nicht hier«, antwortete sie auf Banks Frage. Sie machte die Tür nur ein paar Zentimeter weit auf.

  »Ich dachte, sie hätte ein Beruhigungsmittel bekommen.«

  »Das war gestern Nacht. Sie hat lange und tief geschlafen. Sie sagte, sie würde gerne in den Laden gehen, um ein bisschen zu töpfern. Die Ärztin hat gemeint, es könnte ihr vielleicht ganz gut tun. Elsbeth ist ja da, falls ... nur falls.«

  »Dann fahre ich runter ins Dorf«, sagte Banks zu Hatchley. »Sie erledigen hier alles. Würden Sie den Sergeant hereinlassen, Zoe?«

  Zoe seufzte und machte die Tür ganz auf.

  »Kommen Sie wieder zurück?«, fragte Hatchley.

  Banks schaute auf seine Uhr. »Warum treffen wir uns nicht im Black Sheep?«

  Bei der Aussicht auf ein Pint Black Sheep Bitter strahlte Hatchley, dann machte er ein langes Gesicht. »Wie komme ich da hin?«

  »Zu Fuß.«

  »Zu Fuß?«

  »Ja. Nur etwa einen Kilometer den Weg runter. Wird Ihnen gut tun. Und Sie kriegen Durst.«

  Da er noch nie ein Problem damit hatte, ohne Bewegung Durst zu entwickeln, war Hatchley nicht besonders begeistert. Doch Banks überließ ihn seinem Schicksal und fuhr hinab nach Relton.

  Mara saß in der Werkstatt über ihr Töpferrad gebeugt und drehte behutsam den Rand einer Vase. Elsbeth führte Banks nach hinten. »Ein Polizist will dich sprechen«, brummte sie mit kaum unterdrücktem Unmut und ging dann zurück in den Laden.

  Mara schaute auf. »Einen Moment«, sagte sie. »Wenn ich jetzt aufhöre, war die ganze Arbeit umsonst.« Banks lehnte sich gegen den Türrahmen und verhielt sich ruhig. Der Raum roch nach feuchtem Ton. Dazu war es heiß. Der Ofen im hinteren Bereich erzeugte eine Menge Hitze. Maras langes, braunes Haar war zurückgebunden, wodurch in ihrer Konzentration die Kantigkeit ihrer Nase und ihres Kinns betont wurde. Ihr weißer Kittel war mit Tonflecken gesprenkelt.

  Schließlich wässerte sie die Radplatte, löste die Vase mit einem Käseschneider, ließ sie dann vorsichtig in ihre Hand gleiten und stellte sie auf ein Brett.

  »Und jetzt?«, fragte Banks.

  »Jetzt muss sie trocknen.« Sie verstaute die Vase auf einem großen Regal im hinteren Bereich der Werkstatt. »Dann kommt sie in den Ofen.«

  »Ich dachte, der Ofen trocknet sie.«

  »Nein. Der brennt sie. Zuerst muss sie so trocken wie alter Cheddar werden.«

  »Die sind schön«, sagte Banks und zeigte auf ein paar fertige orange und braun lasierte Becher.

  »Danke.« Maras Augen waren geschwollen und ihr Blick leicht unscharf, ihre Bewegungen langsam und zombiemäßig. Selbst ihre Stimme, so fiel Banks auf, war kraftloser als sonst und ohne Gefühl und Lebendigkeit.

  »Ich muss Ihnen ein paar Fragen stellen«, sagte er.

  »Das dachte ich mir.«

  »Haben Sie etwas dagegen?«

  Mara schüttelte den Kopf. »Bringen wir es hinter uns.«

  Sie ließ sich auf dem Rand ihres Hockers nieder, Banks setzte sich auf eine Kiste genau auf der Türschwelle. Er konnte Elsbeth summen hören, die im Laden eine Inventur machte.

  »Ist Ihnen während des Treffens gestern Nachmittag aufgefallen, dass jemand ungewöhnlich lange weg war?«, fragte Banks.

  »Das war erst gestern? Gott, es kommt mir vor, als wäre es Monate her. Nein, mir ist nichts aufgefallen. Die Leute kamen und gingen, aber ich glaube nicht, dass jemand lange weg war. Aber ich bin mir nicht sicher, ob es mir überhaupt aufgefallen wäre.«

  »Hat Seth Ihnen gegenüber vorher jemals von Selbstmord gesprochen? Hat er das Thema je angeschnitten?«

  Mara presste ihre Lippen zusammen, dass alles Blut aus ihnen zu weichen schien. »Nein. Nie.«

  »Er hat es schon einmal versucht, wissen Sie?«

  Mara hob ihre schmalen Augenbrauen. »Anscheinend kannten Sie ihn besser als ich.«

  »Niemand kannte ihn richtig, soweit ich das beurteilen kann. Es gibt ein Testament, Mara.«

  »Ich weiß.«

  »Können Sie sich erinnern, wann er es gemacht hat?«

  »Ja. Er hat Witze darüber gemacht. Er würde sich dadurch wie ein alter Mann fühlen, hat er gesagt.«

  »Das ist alles?«

  »Alles, woran ich mich erinnere.«

  »Hat er gesagt, warum er es zu diesem Zeitpunkt gemacht hat?«

  »Nein. Er hat mir nur erzählt, dass der Rechtsanwalt, der den Hauskauf abgewickelt hat, Courtney, ihm gesagt hat, er sollte eines machen, und dass er lange darüber nachgedacht hat.«

  »Kennen Sie den Inhalt des Testaments?«

  »Ja. Er hat gesagt, er würde mir das Haus hinterlassen. Bin ich dadurch eine Verdächtige?«

  »Wussten Sie von dem Zusatz?«

  »Zusatz? Nein.«

  »Er vererbt seine Werkzeuge und Materialen an Paul.«

  »Nun, warum nicht? Paul war eifrig, und ich habe keine Verwendung dafür. «

  »Wusste Paul davon?«

  »Keine Ahnung.«

  »Er hat diesen Zusatz so um Weihnachten letztes Jahr gemacht.«

  »Vielleicht war das seine Vorstellung von einem Geschenk.«

  »Aber was hat ihn zu dem Gedanken veranlasst, er würde sterben? Wie alt war Seth - vierzig? Unter normalen Umständen hätte er siebzig oder so werden können. Hat er sich wegen irgendetwas Sorgen gemacht?«

  »Seth erschien immer ... nicht besorgt, eher nachdenklich. In letzter Zeit war er sogar noch trübsinniger geworden. So war er einfach.«

  »Aber es gab keinen besonderen Grund?«

  Mara schüttelte den Kopf. »Ich glaube nicht, dass er sich selbst umgebracht hat, Mr. Banks. Er besaß eine Menge, wofür sich zu leben lohnte. Er hätte uns nicht so einfach im Stich gelassen. Jeder hat sich auf Seth verlassen. Wir schauten zu ihm auf. Und er hat sich um mich gekümmert, um uns alle. Ich glaube, jemand muss ihn getötet haben.«

  »Wer?«

  »Ich weiß es nicht.«

  Banks veränderte seine Sitzposition auf der Kiste. Die Oberfläche war hart, außerdem spürte er, wie sich ein Nagel in seinen rechten Oberschenkel bohrte. »Erinnern Sie sich an Elizabeth Dale?«

  »Liz. Ja, natürlich. Komisch, ich habe erst letzte Nacht an sie gedacht.«

  »An was haben Sie gedacht?«

  »Ach, an nichts Besonderes. Wahrscheinlich wie eifersüchtig ich war, als sie damals auf die Farm kam. Da kannte ich Seth erst ein halbes Jahr. Wir waren glücklich, aber, ich weiß auch nicht, ich war wohl unsicher. Bin es noch immer.«

  »Warum waren Sie eifersüchtig?«

  »Vielleicht ist es nicht das richtige Wort. Ich fühlte mich nur ausgeschlossen, das ist alles. Seth und Liz kannten sich schon lange, und ich teilte ihre Erinnerungen nicht. Sie saßen immer noch lange zusammen und redeten, nachdem ich ins Bett ging.«

  »Haben Sie gehört, über was die beiden geredet haben?«

  »Nein. Ich konnte oben nichts verstehen. Rauchen Sie nur, wenn Sie wollen.«

  »Danke.« Sie musste bemerkt haben, wie er sich nervös nach einem Aschenbecher umgesehen hatte. Er zog seine Schachtel hervor und bot Mara eine Zigarette an.

  »Ich glaube, ich nehme eine«, sagte sie. »Ich habe heute einfach keine Lust, mir eine zu drehen.«

  »Mochten Sie Liz Dale?«

  Mara zündete sich die Zigarette an und nahm einen tiefen Zug. »Nicht besonders. Ich weiß nicht warum, es war nur so ein Gefühl. Sie war natürlich ziemlich verkorkst, aber selbst so erschien sie wie jemand, der die Menschen ausnutzt und sich zu sehr auf andere verlässt. Sie hatte etwas Berechnendes an sich.« Sie zuckte müde mit den Schultern und blies Rauch durch die Nase aus. »Aber sie war eine Freundin von Seth. Ich habe nichts gesagt.«

  »Also haben Sie sich mit ihr abgefunden?«

  »Das war ja nicht schwer. Sie war nur drei Tage bei uns, dann kamen diese SS-Männer von der Klinik und haben sie zurückgebracht.«

  »Zuerst kam Dennis Osmond, oder?«

  »Ja. Aber er war zu nachgiebig, hieß es. Er konnte nicht verstehen, warum sie nicht bei uns bleiben durfte, besonders da sie ja nicht eingewiesen worden war oder so, sondern von allein in die Klinik gegangen ist. Er hat sich mit dem Klinikpersonal rumgestritten, aber es hat nichts gebracht.«

  »Wie kamen Osmond und Liz zurecht?«

  »Das weiß ich wirklich nicht. Ich meine, er hat sich für sie eingesetzt, mehr nicht.«

  »Zwischen ihnen war nichts?«

  »Was meinen Sie? Sexuell?«

  »Was auch immer.«

  »Kann ich mir nicht vorstellen. Sie haben sich nur zweimal getroffen, und ich würde nicht sagen, dass sie sein Typ war.«

  »Und dabei hat Seth Osmond kennen gelernt?«

  »Soweit ich weiß.«

  »Hatten Sie den Eindruck, dass Osmond Liz bereits kannte?«

  »Nein. Aber man kann sich täuschen. Worauf wollen Sie hinaus?«

  »Das weiß ich selbst nicht so genau. Ich folge nur meinem Riecher.«

  »Mr. Banks«, flüsterte Mara plötzlich, »glauben Sie, dass Dennis Osmond Seth getötet hat? Ist es das? Ich weiß, dass Seth es nicht selbst getan haben kann, und ich ... ich glaube, ich kann nicht mehr klar denken.«

  »Ganz ruhig.« Banks fing sie auf, als sie nach vorn vom Hocker rutschte. Ihr Haar roch nach Äpfeln. Er setzte sie auf den ungepolsterten Stuhl in der Ecke. Tränen füllten ihre Augen. »Alles in Ordnung?«

  »Ja. Entschuldigen Sie. Dieses Beruhigungsmittel nimmt mir fast jedes Gefühl, aber ...«

  »Es ist trotzdem da?«

  »Ja. Nur unter der Oberfläche.«

  »Wir können auch später weitermachen, wenn Sie möchten. Ich kann Sie nach Hause fahren.« Er dachte daran, wie erfreut Hatchley sein würde, den Cortina wieder auftauchen zu sehen.

  Mara schüttelte den Kopf. »Nein, es ist alles in Ordnung. Ich komme schon zurecht. Ich bin nur verwirrt. Vielleicht einen Schluck Wasser.«

  Banks füllte ein Glas voll Wasser aus dem Hahn über dem fleckigen Porzellanbecken in der Ecke und reichte es ihr.

  »Uns geht es genauso«, sagte er. »Auch wir sind verwirrt. In mancher Hinsicht sah es wie Selbstmord aus, aber es gibt Widersprüche.«

  »Er hätte niemals Selbstmord gemacht, da bin ich mir sicher. Paul war wieder zurück. Seth war glücklich. Er hatte die Farm, Freunde, die Kinder ...«

  Banks wusste nicht, was er sagen sollte, damit sie sich besser fühlte.

  »Als er es früher versucht hat«, sagte sie, »war es wegen Alison?«

  »Ja.«

  »Das kann ich verstehen. Es ergibt einen Sinn. Aber das hier nicht. Jemand muss ihn umgebracht haben.« Mara nippte an dem Wasser. »Jeder könnte durch die Seitenpforte gekommen sein und sich an ihn herangeschlichen haben.«

  »So war es nicht, Mara. Glauben Sie mir, er muss die Person gekannt haben. Es muss jemand gewesen sein, in dessen Gegenwart er sich wohl fühlte. Haben Sie Liz Dale gesehen oder etwas von ihr gehört, seit sie weg ist?«

  »Nein. Seth hat sie ein paar Mal in der Klinik besucht, aber dann hat er sie aus den Augen verloren.«

  »Irgendwelche Briefe?«

  »Er hat mir jedenfalls nie davon erzählt.«

  »Weihnachtskarten?«

  »Nein.«

  »Wissen Sie, wo sie jetzt lebt?«

  »Nein. Ist es wichtig?«

  »Könnte sein. Wissen Sie etwas über ihren Hintergrund?«

  Mara runzelte die Stirn und rieb sich an der Schläfe. »Soweit ich weiß, stammt sie irgendwo aus dem Süden. Sie war Krankenschwester, bis ... Tja, sie geriet in schlechte Gesellschaft, bekam mit Drogen zu tun und verlor ihren Job. Seitdem hat sie sich einfach so treiben lassen.«

  »Und landete schließlich in Hebden Bridge?«

  »Genau.«

  »Haben Sie gesehen, dass sie hier auf der Farm Drogen genommen hat?«

  »Nein. Und das sage ich nicht bloß so. Sie war weg vom Heroin. Das war ein Grund, warum sie mit allem nicht mehr klarkam.«

  »War Seth jemals abhängig?«

  »Glaube ich nicht. Ich denke, er hätte es mir erzählt. Wir haben über Drogen gesprochen, was wir von ihnen hielten und dass sie für uns eigentlich nicht wichtig waren, deshalb glaube ich, dass er es mir erzählt hätte.«

  »Und Sie haben keine Ahnung, wo sich Liz jetzt aufhält?«

  »Überhaupt keine.«

  »Was ist mit Alison?«

  »Was soll mit ihr sein? Sie ist tot.«

  Eine Spur Bitterkeit hatte sich in ihren Ton geschlichen, und Banks fragte sich, warum. Eifersucht? Das kam vor. Viele Menschen waren eifersüchtig auf frühere Liebhaber ihrer Partner, selbst auf Tote. Oder war sie wütend auf Seth, weil er ihr einen Teil seines Lebens vorenthalten und nicht alle seine Gefühle mit ihr geteilt hatte? Sie löste ihr Haar und schüttelte den Kopf, sodass ihr die walnussbraunen Locken auf die Schultern herabfielen.

  »Kann ich noch eine Zigarette haben?«

  »Natürlich.« Banks gab ihr eine. »Bestimmt wird Ihnen Seth etwas erzählt haben«, sagte er. »Man lebt nicht zwei Jahre mit einem Menschen zusammen, ohne etwas über seine Vergangenheit zu erfahren.«

  »Nicht? Und woher wollen Sie das wissen?«

  Banks wusste es nicht. Als er Sandra kennen gelernt hatte, waren sie beide noch jung gewesen und hatten nur eine kurze Vergangenheit, über die man sprechen konnte, und nichts davon war besonders interessant. »Es ergibt einfach keinen Sinn«, sagte er.

  Die Ladenglocke klingelte und durchbrach die Stille. Sie konnten hören, wie Elsbeth einen Kunden begrüßte, seinem schleppenden Tonfall nach einen Amerikaner.

  »Was werden Sie jetzt tun?«, fragte Banks.

  Mara rieb sich die Augen. »Keine Ahnung. Ich bin zu müde, um weiter zu töpfern. Ich glaube, ich gehe jetzt einfach nach Hause und lege mich ins Bett.«

  »Soll ich Sie fahren?«

  »Nein. Wirklich nicht. Ein bisschen frische Luft und Bewegung werden mir gut tun.«

  Banks lächelte. »Ich wünschte, mein Sergeant würde so denken.«

  »Wieso?«

  Banks erklärte es ihr, und Mara brachte ein schwaches Lächeln zustande.

  Gemeinsam gingen sie hinaus. Auf dem Weg kassierte Banks einen griesgrämigen Blick von Elsbeth. Vor dem Black Sheep wandte sich Mara ab.

  »Was Sie durchmachen müssen, tut mir wirklich Leid«, sagte Banks verlegen zu ihrem Rücken.

  Mara drehte sich um und starrte ihn lange an. Er konnte nicht sagen, was sie in dem Moment dachte oder fühlte.

  »Danke«, sagte sie schließlich, »ich weiß, dass Sie es ehrlich meinen.«

  »Auch Jenny lässt Ihnen ihr Beileid ausrichten. Sie sagt, Sie können sie jederzeit anrufen, wenn Sie etwas brauchen ... eine Freundin.«

  Mara sagte nichts.

  »Sie hat Ihr Vertrauen nicht enttäuscht. Sie hatte sich Sorgen um Sie gemacht. Und Sie haben sich an Jenny gewandt, weil Sie sich um Paul sorgten, nicht wahr?«

  Mara nickte langsam.

  »Also rufen Sie sie doch einfach an. In Ordnung?«

  »In Ordnung.« Und trotz ihrer Größe erschien Mara wie eine zerbrechliche Gestalt, als sie im Dunkeln den Weg zur Römerstraße hinaufging.

  Hatchley war bereits im Black Sheep und zwar, dem leeren Glas neben dem halb vollen vor ihm nach zu urteilen, beim zweiten Bier. Banks ging zuerst an die Theke, kaufte zwei weitere und setzte sich zu ihm. Seinetwegen konnte Hatchley so viel trinken, wie er wollte. Er war selbst nüchtern ein miserabler Fahrer, und Banks hatte nicht die Absicht, ihn auch nur in die Nähe des Fahrersitzes seines Cortinas zu lassen.

  »Was rausgekriegt?«, fragte der Sergeant.

  »Nein, nichts Richtiges. Und Sie?«

  »Der kräftige Kerl mit dem zotteligen Bart hat am Anfang etwas Streit gesucht, aber das kleine Mädel mit den roten Haaren konnte ihn davon überzeugen, dass es am besten ist zu kooperieren.«

  »Verdammt«, sagte Banks. »Ich wusste, dass ich was vergessen habe. Maras Fingerabdrücke. Egal, ich kann sie auch noch später kriegen.«

  »Auf jeden Fall«, fuhr Hatchley fort, »waren die meisten Briefe in dem Schrank nur Durchschläge, aber ich konnte ein paar Entwürfe aus dem Papierkorb retten.«

  »Gut.«

  »Sie klingen nicht besonders zufrieden«, beklagte sich Hatchley.

  »Was? Oh, tut mir Leid. Ich war mit den Gedanken ganz woanders. Trinken wir aus, dann können wir unsere Ergebnisse noch ins Labor schicken.«

  Hatchley leerte sein drittes Glas mit erstaunlicher Geschwindigkeit und schaute auf die Uhr. »Es ist gleich halb sieben«, sagte er. »Da lohnt sich die Eile auch nicht mehr. Die haben wahrscheinlich schon alle Feierabend gemacht.« Er schaute rüber zur Theke. »Wir können genauso gut noch ein Bier trinken.«

  Banks lächelte. »Zwingende Logik, Sergeant. Na gut. Aber ein schnelles. Und Sie sind dran.«

  Zu Hause gelang es Banks, eine Tiefkühlmahlzeit bestehend aus Erbsen, Kartoffelbrei und Kalbsschnitzel aufzuwärmen, ohne sie zu ruinieren. Nach dem Abwasch, was in diesem Fall bedeutete, Messer und Gabel abzuspülen und die Aluverpackung in den Mülleimer zu werfen, rief er Sandra an.

  »Und wann kriege ich meine Frau zurück?«, fragte er.

  »Mittwochmorgen. Mit dem Frühzug«, sagte Sandra. »Wir werden so gegen Mittag zu Hause sein. Vater hat sich ziemlich gut erholt, und Mutter kommt besser damit zurecht, als ich dachte.«

  »Gut. Ich werde versuchen, da zu sein«, sagte Banks. »Es kommt drauf an.«

  »Wie läuft es denn?«

  »Alles wird komplizierter.«

  »Du hörst dich ziemlich mürrisch an. Ein gutes Zeichen. Je komplizierter alles erscheint und je schlechter deine Laune wird, desto näher ist das Ende.«

  »Tatsächlich?«

  »Natürlich. Wenn man so lange zusammenlebt, erkennt man allmählich die Anzeichen für so was.«

  »Manchmal frage ich mich, was die Menschen überhaupt voneinander wissen.«

  »Wirst du jetzt philosophisch?«

  »Nein, nur frustriert. Wie geht es Brian und Tracy?«

  »Gut. Sie sind nur ein bisschen unruhig. Besonders Brian. Du kennst ja Tracy, sie ist schon glücklich, wenn sie ihren Kopf in ein Geschichtsbuch stecken kann. Aber bei ihm dreht sich jetzt alles um Sport und Popmusik. American Football ist zurzeit anscheinend in.«

  »Ach, du lieber Gott.«

  Während der letzten Jahre hatte sich Brian sehr verändert. Er schien sogar das Interesse an der elektrischen Eisenbahn verloren zu haben, die Banks im Gästezimmer aufgebaut hatte. Banks spielte häufiger damit als Brian. Aber wahrscheinlich, so musste er zugeben, war das nie anders gewesen.

  Um in der Leere nach dem Gespräch nicht unterzugehen, schenkte er sich ein Glas Bell's ein und legte Leroy Carr und Scrapper Blackwell auf. Dabei versuchte er, die in seinem Kopf angesammelten Informationen treiben zu lassen, bis sie sich selbstständig zu neuen Mustern formten. So absonderlich auch alles erschien, allmählich kam eine Reihe von Dingen zusammen. Das Problem war nur, dass eine Theorie die andere zunichte zu machen schien.

  Kurz vor zehn Uhr weckte ihn die Türklingel aus einem leichten Nickerchen. Die Kassette war schon lange zu Ende und das Eis in seinem zweiten Scotch war geschmolzen.

  »Tut mir Leid, dass ich so spät komme«, sagte Richmond, »aber ich bin gerade erst fertig geworden.«

  »Kommen Sie rein.« Banks rieb sich die Augen. »Setzen Sie sich. Einen Drink?«

  »Wenn es keine Umstände macht, Sir. Obwohl ich genau genommen wahrscheinlich immer noch im Dienst bin.«

  »Scotch? Im Kühlschrank gibt es auch Bier.«

  »Scotch ist okay, Sir. Aber ohne Eis, bitte.«

  Banks grinste. »Ich werde schon wie ein Ami und werfe Eis in den guten Scotch. Bald beschwere ich mich noch, dass mein Bier zu warm ist.«

  Richmond platzierte seinen langen, athletischen Körper in einen Sessel und strich sich über den Schnurrbart.

  »Wenn ich sehe, wie Sie mit Ihrer Gesichtsbürste spielen«, sagte Banks, »gehe ich mal davon aus, dass Sie erfolgreich waren.«

  »Was? Äh, ja, Sir. Hätte nicht gedacht, dass man es mir gleich ansieht.«

  »Das geht nicht nur mir so, denke ich. Sie würden keinen guten Pokerspieler abgeben. Und bei Verhören sollten Sie besser drauf achten. Aber dann mal los. Was haben Sie herausgefunden?«

  »Also«, begann Richmond und zog sein Notizbuch zu Rate. »Ich habe es genau so gemacht, wie Sie sagten, Sir. Ich habe mich diskret in der Nähe von Tims und Abhas Wohnung rumgetrieben. Den ganzen Nachmittag waren sie zu Hause.«

  »Und dann?«

  »So um acht sind sie weggegangen, ich schätze, in den Pub. Und eine halbe Stunde später fuhr der blaue Escort vor, zwei Männer stiegen aus und verschwanden im Gebäude. Sie sahen so aus wie diejenigen, die Sie beschrieben haben. Sie müssen irgendwo in der Nähe gelauert haben, denn sie schienen genau zu wissen, wann sie kommen konnten, und haben sicherheitshalber ein wenig gewartet, falls Tim und Abha nur kurz einkaufen gegangen wären oder so.«

  »Sie haben nicht versucht, sie am Reingehen zu hindern, oder?«

  Richmond machte einen bestürzten Eindruck. »Ich habe genau Ihre Anweisungen befolgt, Sir, obwohl ich es ein bisschen seltsam fand, untätig einem Verbrechen zuzuschauen. Die Eingangstür ist normalerweise nur eingeklinkt, also konnten sie einfach reinmarschieren. Die einzelnen Wohnungen sind allerdings abgesperrt, sie müssen also eingebrochen sein. Auf jeden Fall kamen sie nach einer Viertelstunde mit einer Reihe Ordner wieder raus, so gelbbraune, würde ich sagen.«

  »Und dann?«

  »Ich bin ihnen im angemessenen Abstand gefolgt. Sie stellten den Wagen auf dem Parkplatz des Castle Hotels ab und gingen rein. Ich bin nicht gleich hinterhergegangen, Sir, sie hätten mich bemerken können. Und sie kamen nicht wieder raus. Nachdem sie ungefähr zehn Minuten verschwunden waren, bin ich reingegangen und habe den Empfangschef nach den beiden gefragt und mir das Gästebuch zeigen lassen. Sie haben sich als James Smith und Thomas Brown eingetragen.«

  »Wie einfallsreich. Entschuldigung, fahren Sie fort.«

  »Tja, ich habe das Gleiche gedacht, Sir, deshalb bin ich zurück ins Büro gegangen und habe die Autonummer überprüft. Der Wagen wurde von einer Firma in York für einen Mr. Cranby gemietet, Mr. Keith J. Cranby, falls Ihnen der Name etwas sagt. Da er natürlich seinen Führerschein zeigen musste, wird es sich wahrscheinlich um seinen richtigen Namen handeln.«

  »Cranby? Nein, sagt mir nichts. Was passierte dann?«

  »Nichts, Sir. Mittlerweile war es schon ziemlich spät, deshalb dachte ich, es ist besser, ich berichte Ihnen gleich alles. Übrigens sah ich diese Bardame, Glenys, ins Hotel gehen, als ich draußen gewartet habe. Hat einen ziemlich verschämten Eindruck gemacht.«

  »War Cyril irgendwo zu sehen?«

  »Nein. Ich habe ihn nicht gesehen.«

  »Sie haben gute Arbeit geleistet, Phil«, sagte Banks. »Ich schulde Ihnen was.«

  »Worum geht es eigentlich?«

  »Das würde ich lieber noch nicht sagen, nachher liege ich falsch. Aber Sie werden es als Zweiter erfahren, versprochen. Haben Sie überhaupt schon gegessen?«

  »Ich hatte ein paar Sandwiches dabei.« Er schaute auf seine Uhr. »Aber ein Bier könnte ich vertragen.«

  »Da ist immer noch Bier im Kühlschrank.«

  »Ich mag kein Flaschenbier.« Richmond klopfte auf seinen flachen Bauch. »Zu viel Kohlensäure.«

  »Und zu kalt?«

  Richmond nickte.

  »Dann kommen Sie. Vor der Sperrstunde schaffen wir noch ein, zwei Gläser. Sie sind eingeladen. Queen's Arms?«

  »Gern, Sir.«

  Einheimische und Bauernjungen aus den Dörfern bevölkerten den Pub und sorgten für einen hohen Lärmpegel. Banks warf einen Blick auf das Thekenpersonal, konnte aber weder Glenys noch Cyril entdecken. Nachdem er sich zur Theke durchgedrängelt hatte, fragte er eine der regelmäßigen Aushilfsbedienungen, wo der Chef war.

  »Hat den Abend freigenommen, Mr. Banks. Einfach so.« Sie schnippte mit den Fingern. »Er sagte, wir würden es zu dritt schon schaffen. Außerdem tat er total geheimnisvoll. Aber er ist der Boss, oder? Er kann machen, was er will.«

  »Sie sagen es, Rosie«, meinte Banks. »Geben Sie mir zwei Gläser von Ihrem besten Bitter.«

  »Sollen Sie haben, Mr. Banks.«

  Sie standen an der Theke und unterhielten sich mit den Stammgästen, die genau wussten, dass man ihnen besser nicht zu viele Fragen über ihre Arbeit stellte. Dafür, dass er immer noch nicht die Lösung gefunden hatte, fühlte sich Banks allmählich ungewöhnlich zufrieden. Ob es an dem Gespräch mit Sandra, dem Nickerchen, Richmonds Erfolg oder dem Bier lag, wusste er nicht. Vielleicht war es die Kombination der vier Ereignisse. Aber er wusste, dass er kurz vor dem Abschluss des Falles stand. Wenn er das Problem der zwei sich gegenseitig ausschließenden Erklärungen für den Tod von Gill und von Seth lösen könnte, dann hätte er seine Tücher im Trockenen. Der morgige Tag versprach interessant zu werden. Zuerst würde er Liz Dale aufspüren und herausfinden, was sie wusste, und dann gab es da noch eine andere Angelegenheit ... Ja, morgen würde es tatsächlich sehr interessant werden. Und übermorgen würde Sandra wieder zu Hause sein.

  »Letzte Runde!«, rief Rosie.

  »Nehmen wir noch eins?«, fragte Richmond.

  »Nur zu. Warum nicht«, sagte Banks. Ihm war seltsamerweise nach Feiern zumute.