* SECHS

 

* I

 

In den Querstraßen zwischen der York Road und der Market Street, ganz in der Nähe von Banks' Wohnung, hatten Stadtplaner eine Reihe großer viktorianischer Familienhäuser zu Studentenwohnungen umgebaut. In einer davon, einer Zwei-Zimmer-Mansardenwohnung, lebten Tim Fenton und Abha Sutton.

  Nicht nur, dass Tim und Abha sich äußerlich sehr unterschieden, sie waren ganz und gar nicht so wie die meisten Revolutionäre. Der blonde Tim besaß das gut aussehende Äußere eines amerikanischen College-Boys und kleidete sich dementsprechend. Abha, eine Halbinderin, hatte goldene Haut, rabenschwarzes Haar und einen Perlenknopf im linken Nasenflügel. Sie studierte Grafikdesign, Tim war in Sozialwissenschaften eingeschrieben. Sie glaubten an den Marxismus als Lösung der weltweiten Ungerechtigkeit, waren aber immer schnell dabei, darauf hinzuweisen, dass sie den sowjetischen Kommunismus für eine extreme Perversion der Wahrheit des Propheten hielten. Beide waren im Großen und Ganzen freundliche Menschen und gehörten keineswegs zu der Sorte, die Polizisten Schweine nannte.

  Sie saßen auf einem ramponierten Sofa unter einem CheGuevara-Poster, während es sich Banks auf einem gebrauchten Bürodrehstuhl am Schreibtisch bequem machte. Auf dem Monitor eines Amstrad-Computers blinkte der Cursor auf, Papierstapel und Bücher überschwemmten den Tisch, den Boden und jeden freien Stuhl.

  Nachdem er aus Scarborough zurückgekommen war, hatte Banks gerade noch Zeit gehabt, im Revier vorbeizuschauen, um zu sehen, was die Special Branch herausgefunden hatte. Wie gewöhnlich waren ihre Akten so spärlich wie Kojaks Haar. Tim Fenton wurde zum Beispiel bei ihnen geführt, weil er an einem Seminar in Slough teilgenommen hatte, das von Marxism Today gesponsert worden war, und weil man einige der Redner dort verdächtigt hatte, für die Sowjets zu arbeiten. Dennis Osmond hatte die Aufmerksamkeit der Branch dadurch auf sich gezogen, dass er während des Streiks der Minenarbeiter eine Reihe leidenschaftlicher regierungskritischer Artikel für verschiedene Magazine geschrieben und einige politische Demonstrationen organisiert hatte - vor allem gegen die amerikanische Militärpräsenz in Europa. Wie Banks vermutet hatte, lieferten ihre Verbrechen gegen das Königreich kaum Gründe für Verbannung oder Hinrichtung.

  Wie vorauszusehen war, verhielten sich Tim und Abha nach Burgess' Besuch feindselig und verschreckt. Als Banks im vergangenen November erfolgreich eine Reihe von Einbrüchen in Studentenwohnheimen untersucht hatte, war er mit den beiden eigentlich gut ausgekommen. Selbst Marxisten, so schien es, wussten den Wert ihrer Stereoanlagen und Fernsehgeräte zu schätzen. Doch jetzt waren sie vorsichtig und zurückhaltend. Es brauchte eine Menge Small Talk, damit sie sich entspannten und öffneten. Als Banks dann schließlich auf die Demo zu sprechen kam, schienen sie ihn nicht mehr mit Burgess zu verwechseln.

  »Haben Sie etwas gesehen?«, wollte Banks zuerst wissen.

  »Nein, konnten wir nicht«, antwortete Tim. »Wir standen mitten in der Menge. Einer von den Polizisten rief etwas, und das war es dann. Als das Durcheinander losging, waren wir viel zu sehr damit beschäftigt, uns in Sicherheit zu bringen, als dass wir noch darauf achten konnten, was mit anderen passierte.«

  »Sie waren an der Organisation der Demo beteiligt, stimmt das?«

  »Ja. Aber das heißt nicht...«

  Banks hob eine Hand. »Ich weiß«, sagte er. »Und das will ich auch nicht andeuten. Hatten Sie den Eindruck, dass jemand von den Organisatoren vielleicht mehr im Sinn hatte, als nur gegen Honoria Winstantleys Besuch zu protestieren?«

  Beide schüttelten den Kopf. »Als wir auf der Farm zusammenkamen«, erklärte Abha, »war jeder einfach nur aufgeregt, dass in so einem konservativen Ort wie Eastvale überhaupt eine Demo zustande kommen könnte. Ich weiß, dass nicht viele Leute teilgenommen haben, aber für uns waren es viele.«

  »Auf der Farm?«

  »Ja. Maggie's Farm. Kennen Sie den Hof?«

  Banks nickte.

  »Sie haben uns zu sich eingeladen, um dort Plakate und so zu machen«, sagte Tim. »Am Freitagnachmittag. Sie sind wirklich großartig dort. Sie haben es echt geschafft. Ich meine, Seth und Mara, sie sind so wie die unabhängigen Handwerker früher, sie machen ihr Ding, außerhalb des Systems. Und Rick ist ein ziemlich strammer Marxist.«

  »Ich dachte, er wäre Künstler.«

  »Ist er auch«, sagte Tim und sah beleidigt aus. »Aber er versucht nicht, etwas Kommerzielles zu malen. Er ist gegen Kunst als verkäufliche Ware.«

  Also konnte das hübsche Aquarell, das Banks über dem Kamin auf Maggie's Farm ins Auge gefallen war, nicht von Rick gewesen sein.

  »Was ist mit Paul Boyd?«

  »Wir kennen ihn nicht gut«, sagte Abha. »Und er hat nicht viel gesagt. Einer der Unterdrückten, nehme ich an.«

  »Das kann man wohl sagen. Und Zoe?«

  »Oh, die ist in Ordnung«, sagte Tim. »Sie steht auf diesen ganzen bürgerlichen Esoterikscheiß, ein bisschen viel Nabelschau für meinen Geschmack. Aber ansonsten ist sie okay.«

  »Wissen Sie etwas von ihren Hintergründen, wo sie herkommen?«

  Sie schüttelten den Kopf. »Nein«, sagte Tim schließlich. »Ich meine, wir reden nur darüber, wie die Dinge jetzt sind, wie man sie verändern kann und so. Und ein bisschen über politische Theorie. Rick ist von seiner Scheidung und dem ganzen Kram angepisst, aber weiter gehen die persönlichen Gespräche auch nicht.«

  »Und sonst wissen Sie nichts von ihnen?«

  »Nein.«

  »Wer war sonst noch dort?«

  »Nur wir und Dennis.«

  »Osmond?«

  »Genau.«

  »Kann einer von Ihnen sich daran erinnern, an dem Tag ein Klappmesser gesehen oder gehört zu haben, wie jemand eines erwähnte?«

  »Nein. Darauf wollte der andere Kerl auch immer hinaus«, sagte Tim und wurde unruhig. »Dieser verfluchte Burgess. Immer wieder kam er mit einem Klappmesser an.«

  »Er beschuldigte uns auch fast sofort, diesen Polizisten getötet zu haben«, sagte Abha.

  »Das ist so seine Art. Ich würde mir darüber nicht den Kopf zerbrechen. Hat jemand bei dem Treffen namentlich Constable Gill erwähnt?«

  »Habe ich nicht gehört«, sagte Tim.

  »Ich auch nicht«, sagte Abha.

  »Haben Sie jemals gehört, dass jemand von ihm gesprochen hat? Dennis Osmond zum Beispiel? Oder Rick?«

  »Nein. Alles, was wir von ihm wissen«, sagte Abha, »ist, dass er bei den TAG-Gruppen ausgebildet wurde und sich gerne bei Massenveranstaltungen einsetzen ließ. Sie wissen schon, bei Demos, Streiks und so.«

  Der Stuhl quietschte auf, als Banks sich abrupt herumdrehte. »Woher wissen Sie das?«

  »Vom Hörensagen«, meinte Abha. »Wir haben ...«

  Tim stieß ihr in die Rippen, und sie hielt den Mund.

  »Was Sie sagen will«, erklärte er, »ist, wenn man hier oben politisch engagiert ist, dann lernt man schnell diejenigen kennen, auf die man aufpassen muss. Die Polizei hört uns ab, oder? Ich bin mir auf jeden Fall ziemlich sicher, dass die Special Branch eine Akte über mich hat.«

  »Na gut«, sagte Banks und musste über die Absurdität des Ganzen lächeln. Spiele. Nichts weiter als Kleine-JungenSpiele. »War das allgemein bekannt? Konnte jeder gewusst haben, dass mit Gill auf der Demo in der Nacht zu rechnen war?«

  »Mit Sicherheit jeder, der an der Organisation beteiligt war«, sagte Tim. »Und außerdem jeder, der schon mal bei einer Demo in Yorkshire gewesen ist. Gott sei Dank gibt es nicht so viele wie ihn. Er hatte so seinen Ruf.«

  »Haben Sie gewusst, dass er Dienst haben wird?«

  »Nicht mit Sicherheit, nein. Ich meine, er hätte Grippe haben können oder sich sein Bein gebrochen haben.«

  »Aber ansonsten?«

  »Ansonsten war er eigentlich immer dabei. Hören Sie, ich habe keine Ahnung, worauf das alles hinauslaufen soll«, sagte Tim, »aber ich denke, Sie sollten wissen, dass wir unsere eigene Untersuchung durchführen werden.«

  »Über den Mord?«

  Tim sah ihn verwirrt an. »Nein. Über die Brutalität der Polizei. In ein paar Tagen werden wir uns wieder alle auf der Farm treffen und unsere Notizen vergleichen.«

  »Gut, wenn Sie irgendetwas über den Tod von Constable Gill herausfinden, lassen Sie es mich wissen.«

  Banks schaute auf seine Uhr und stand auf. Es war Zeit zu gehen und sich für das Abendessen mit Jenny fertig zu machen. Nachdem er sich verabschiedet hatte und durch das düstere Treppenhaus zurück auf die Straße gegangen war, dachte er darüber nach, wie seltsam es war, dass, wo immer er auch hinging, alle Wege zu Maggie's Farm zu führen schienen. Darüber hinaus hätte fast jeder Beteiligte wissen müssen, dass Gill mit aller Wahrscheinlichkeit in jener Nacht vor Ort sein würde. Wenn Gill Spaß daran hatte, den Leuten in Yorkshire eins überzubraten, dann sprach viel dafür, dass ein paar Leute einen ziemlichen Groll gegen ihn hegten. Er hoffte, dass Tony Grant sich beeilen und schnell die Informationen aus Scarborough schicken würde.

 

* II

 

Mara zog ihren Armeeparka an und ging den Weg nach Relton hinunter. Mittlerweile war es dunkel, und die Sterne sahen auf dem klaren Himmel wie funkelnde Eisflecken aus. Die entfernten Hügel und Felsspalten zeigten sich nur als verschwommene Silhouetten, schwarz vor einem schwarzen Hintergrund. Eine schiefe Mondsichel stand dort oben, wie auf dem Bühnenprospekt einer Varietenummer. Mara hätte sich nicht gewundert, wenn ein Mann mit Zylinder, Umhang und Spazierstock über den Himmel getanzt wäre. Der Kies knirschte unter ihren Füßen, und der Wind pfiff durch die Lücken der mit Efeu überwucherten Natursteinmauer. In der Ferne glitzerten die Lichter der Häuser und Dörfer unten im Tal wie Sterne auf.

  Sie würde mit Jenny reden, beschloss sie, steckte ihre Hände tiefer in die Taschen und zog gegen die Kälte die Schultern hoch. Jenny kannte auch Chief Inspector Banks. Obwohl sie keinem Polizisten über den Weg traute, musste selbst Mara zugeben, dass er ein wesentlich angenehmerer Mensch als Burgess war. Vielleicht könnte sie auch herausfinden, was die Polizei wirklich dachte und ob sie Paul von nun an in Ruhe ließ.

  Maras Gedanken schweiften wieder zum I Ching ab, das sie zu Rate gezogen hatte, bevor sie losgegangen war. Worum zum Teufel ging es dabei eigentlich? Es sollte ein Orakel sein und Einsichten vermitteln, wenn man sie wirklich brauchte, doch Mara war nicht überzeugt davon. Ein Problem war, dass es Fragen immer indirekt beantwortete. Man konnte nicht fragen: »Hat Paul den Polizisten ermordet?« und ein klares Ja oder Nein bekommen. Dieses Mal hatte das Orakel gelautet: »Die Frau hält den Korb, aber es sind keine Früchte darin. Der Mann ersticht das Schaf, aber es fließt kein Blut.« Bedeutete das, dass Paul niemanden umgebracht hatte, dass das Blut an seiner Hand von etwas anderem stammte? Und was war mit dem leeren Korb? Hatte der etwas zu tun mit Maras unfruchtbarer Gebärmutter? Wenn ein praktischer Hinweis darin lag, dann lautete er, nichts zu tun, und dennoch wanderte sie jetzt den Pfad hinab, um Jenny anzurufen. Alles, was das Buch getan hatte, war, ihre Ängste in Worte und Bilder zu fassen.

  Am Ende des Weges ging Mara die Mortsett Lane entlang, vorbei an den geschlossenen Geschäften und den Häusern mit ihren flimmernden Fernsehgeräten hinter den Gardinen. In der schwach beleuchteten Telefonzelle wählte sie Jennys Nummer. Auf ein Klicken folgte eine fremde, geisterhafte Stimme, die sie schließlich als die von Jenny erkannte. Die Stimme erklärte, dass ihre Besitzerin nicht zu Hause sei, dass aber nach dem Signalton eine Nachricht hinterlassen werden könne. Mara, die bisher noch nie mit einem Anrufbeantworter zu tun gehabt hatte, wartete unruhig und war aufgeregt, dass sie ihren Einsatz verpassen könnte. Doch schon bald ertönte das unverkennbare, hohe Piepen. Mara sprach schnell und laut, so wie man mit Ausländern redet, und kam sich komisch vor, als sie ihre eigene Stimme sagen hörte: »Jenny, hier ist Mara. Ich hoffe, ich mache das hier richtig. Würdest du mich bitte morgen Mittag im Black Sheep in Relton treffen? Es ist wichtig. Ich werde um eins da sein. Ich hoffe, du kannst kommen.« Sie hielt einen Moment inne, lauschte der Stille und hatte das Gefühl, noch etwas hinzufügen zu müssen, aber sie wusste nicht, was sie noch sagen sollte.

  Behutsam hängte sie den Hörer ein. Es war ein bisschen wie ein Telegramm zu verschicken, was sie bisher einmal getan hatte. Das Gefühl, dass jedes Wort Geld kostete, war sehr hemmend, und genauso, auf andere Weise, war die Vorstellung, dass sich ein Band am Tonkopf vorbei um eine Spule drehte, während sie sprach.

  Jedenfalls war es nun geschafft. Sie verließ die Telefonzelle, eilte in Richtung des Black Sheep und fühlte sich jetzt unbeschwerter, da sie wenigstens einen praktischen Schritt unternommen hatte, um mit ihren Ängsten klarzukommen.

 

* III

 

Banks und Jenny saßen bei einem Aperitif an der Bar und studierten die Speisekarte. Das Royal Oak war ein gemütliches Lokal mit gedämpftem Licht, Butzenscheibenfenstern und glänzenden Kupferobjekten in jedem kleinen Winkel. An der Decke waren zwischen den dunklen Balken horizontal etliche Wanderstöcke aufgehängt worden: Knorrige Eschenzweige, Stockdegen und glatte Rohrstöcke, viele davon mit kunstvollen Metallgriffen. Auf einem langen Bord über der Bar standen eine Reihe Trinkkrüge in Form berühmter Gesichter wie die von Charles II., Shakespeare und Beethoven. Andere stellten Zeitgenossen wie Margaret Thatcher oder Paul McCartney dar.

  Während sie ihr Menü auswählten, nippte Jenny an einem Wodka Tonic und Banks an einem trockenen Sherry. Nachdem sie sich ausgiebig beklagt hatte, damit ihre Figur zu ruinieren, entschied sich Jenny schließlich für ein Steak au poivre mit Wein-Sahne-Soße. Banks nahm gebratene Lammkeule. Er liebte es, jeden Frühling zuzuschauen, wie die kleinen Racker durch das Tal tobten, doch noch lieber aß er sie. Sie würden sowieso nur zu Schafen heranwachsen, sagte er sich.

  Sie folgten der Kellnerin in den Speiseraum und freuten sich, dass nur ein weiterer Tisch besetzt war, von einem ruhigen Paar, das bereits den Nachtisch vor sich hatte. Im Hintergrund lief leise das Klarinettenquintett von Mozart. Banks beobachtete die vor ihm gehende Jenny. Sie trug ein weites Oberteil mit geradem Ausschnitt quer über dem Schlüsselbein, das so aussah, als wäre es in verschiedenen Blau- und Rottönen gebatikt worden. Ihr geschlitzter Faltenrock war einfarbig rostrot, genau in der Farbe ihres langen, gewellten Haares, und reichte ihr bis an die Waden.

  Das Muster ihrer Strumpfhosen sah für Banks wie eine Reihe blauer Flecken auf ihren Beinen aus. Doch als Gentleman hatte er ihr zu ihrem Aussehen Komplimente gemacht.

  Die Kellnerin zündete eine Kerze an, nahm ihre Bestellungen auf und zog sich lautlos zurück, um die beiden der Weinkarte zu überlassen. Banks nahm eine Zigarette und lächelte Jenny an.

  Trotz der Behauptungen, die der Playboy oder die Wahl zur Miss Universum über das Frauenbild der Männer in die Welt setzten, waren es für Banks die scheinbar unwichtigsten Details, die eine Frau körperlich anziehend machten. Ein Leberfleck an der richtigen Stelle, eine bestimmte Wölbung der Lippen oder die Rundung der Knöchel. Oder eine Eigenheit, zum Beispiel wie sie ein Glas hielt, ihren Kopf neigte, bevor sie lächelte, oder mit der Halskette spielte, während sie redete.

  Im Falle von Sandra, seiner Frau, waren es die dunklen Augenbrauen und der Kontrast, den sie zu ihrem naturblonden Haar bildeten. Bei Jenny waren es ihre Augen, oder eher der Zusammenfluss der Fältchen an ihren äußeren Rändern, besonders wenn sie lächelte. Sie sahen aus wie eine Landkarte, deren Konturen einen Sinn für Humor und eine sonderbare Mischung aus Härte und Verletztlichkeit erkennen ließen", mit der sich Banks sehr gut identifizieren konnte. Ihr schönes rotes Haar, die grünen Augen, ihre wohlproportionierte Figur, ihre langen Beine und vollen Lippen, das alles war wunderbar, aber es war nur das Sahnehäubchen auf dem Kuchen. Was Banks wirklich faszinierte, waren die Fältchen um ihre Augen.

  »Woran denkst du?«, fragte Jenny und schaute von der Karte auf.

  Banks versuchte es ihr zu beschreiben.

  »Tja«, sagte sie nach einem Lachanfall. »Ich nehme es als Kompliment, obwohl viele Frauen es anders sehen würden. Welchen Wein wollen wir nehmen?«

  »Sie haben hier einen guten achtziger Seguret, wenn ich mich richtig erinnere. Der ist auch nicht zu teuer. Vorausgesetzt, du magst Weine von der Rhone.«

  »Ich habe nichts dagegen.«

  Als die Kellnerin mit geräuchertem Lachs und Melonen als Vorspeise zurückkehrte, bestellte Banks den Wein.

  »Also, wozu die ganze Dekadenz?«, fragte Jenny. Im Kerzenlicht funkelten ihre Augen. »Willst du mich verführen oder willst du mich nur vor dem Verhör weich klopfen?«

  »Und wenn ich sagen würde, ich will dich verführen?«

  »Dann würde ich sagen, du stellst es genau richtig an.« Sie lächelte und schaute sich im Raum um. »Kerzenschein, romantische Musik, schöne Atmosphäre, gutes Essen.«

  Der Wein wurde serviert, kurz darauf das Hauptgericht, und mit der Untermalung eines Flötenquartetts genossen sie bald ihr Mahl.

  Während des Essens jammerte Jenny über ihren Tag. Sie musste zu viele Kurse geben, und die einfältigen Vorstellungen, die sich ihre Studenten von Psychologie machten, ermüdeten sie. Manchmal, so gestand sie, hatte sie von der ganzen Psychologie genug und wünschte, sie hätte stattdessen Literatur oder Geschichte studiert.

  Banks erzählte ihr von der Beerdigung, ließ aber seine Begegnung mit Tony Grant sicherhaltshalber aus. Es könnte nützlich sein, später noch etwas in der Hinterhand zu haben, sollte er sie dazu bringen können, über Osmond zu sprechen. Er erwähnte auch seinen Besuch bei Tim und Abha und wie Burgess mit seiner Art nichts als verbrannte Erde bei ihnen hinterlassen hatte.

  »Dein Dirty Dick ist ein verdammter Redneck«, sagte Jenny und wandte damit einen Amerikanismus an, auf den Burgess stolz gewesen wäre. »Was dagegen, wenn ich ein Dessert bestelle?«, fragte sie und schob ihren leeren Teller zur Seite.

  »Es ist deine Figur.«

  »Wenn das so ist, nehme ich eine Mousse au chocolat. Die hat ja bekanntlich überhaupt keine Kalorien. Und dazu Kaffee und Cognac.«

  Als die Kellnerin vorbeikam, bestellte Banks das Dessert und den Digestif für Jenny sowie ein Stück Stiltonkäse und ein Glas Sauternes für sich. »Du hast meine Frage noch nicht richtig beantwortet«, sagte er.

  »Welche Frage?«

  »Wie das wäre, wenn ich dich verführen wollte.«

  »Ach, die. Aber ich habe sie beantwortet. Ich sagte, du stellst es genau richtig an.«

  »Aber du hast nicht gesagt, ob ich damit Erfolg haben würde oder nicht.«

  Um Jennys Augen zeigten sich Lachfältchen. »Alan! Fängt es an zu jucken, kaum dass Sandra weg ist?«

  Banks kam sich blöd vor, weil er gleich mit diesem Thema begonnen hatte. Mit Jenny zu flirten mochte ein Spaß sein, hatte allerdings auch eine so ernste Basis, dass keiner von beiden zu weit gehen wollte. Wenn es nicht diesen verdammten Vorfall in Osmonds Wohnung gegeben hätte, dachte er, dann hätte er niemals mit solchen Spielchen angefangen. Doch als er gesehen hatte, wie Jenny aus Osmonds Schlafzimmer schaute - mit dem von der Schulter gerutschten Morgenrock, dem zerzausten Haar und dem entrückten, verschwommenen Blick, der dem Liebesspiel folgt - da war er nicht nur eifersüchtig geworden, da waren auch alte Sehnsüchte wieder aufgeflammt. Niemand sollte das genießen dürfen, was er nicht genießen konnte. Und er konnte es nicht, daran gab es keinen Zweifel. Deshalb hatte er dieses Spielchen begonnen und nun beide in Verlegenheit gebracht.

  Um sich an etwas festhalten zu können, steckte er sich eine Zigarette an und schenkte sich dann den Rest Seguret ein. »Themenwechsel?«

  Jenny nickte. »Gute Idee.«

  Das Dessert kam zeitgleich mit einer Gruppe lärmender Geschäftsleute. Glücklicherweise gab ihnen die Kellnerin einen Tisch am anderen Ende des Raumes.

  »Köstlich«, sagte Jenny, als sie ihre Mousse löffelte. »Ich nehme an, du willst mir jetzt Fragen stellen, oder? Mich beschleicht so das Gefühl, dass eine Verführung wahrscheinlich eine Menge mehr Spaß gemacht hätte.«

  »Bring mich nicht in Versuchung«, sagte Banks. »Aber du hast Recht. Ich hätte bei ein paar Dingen gerne deine Hilfe.«

  »Dann mal los. Kann ich meinen Nachtisch erst aufessen?«

  »Sicher.«

  Als der Teller leer war, nahm Jenny einen Schluck Cognac. »Okay«, sagte sie, salutierte und richtete sich konzentriert auf.

  »Warst du dort?«, fragte Banks.

  »Wo?«

  »Bei der Demo. Du bist um zwei Uhr morgens bei mir vorbeigekommen und hast gesagt, du hättest zu Hause auf deinen Freund ...«

  »Dennis!«

  »Ja, okay. Dennis.« Banks fragte sich, warum er den Klang des Namens so sehr hasste. »Aber du hättest auch auf der Demo sein können.«

  »Soll das heißen, ich könnte gelogen haben?«

  »Darauf will ich nicht hinaus. Du könntest einfach vergessen haben, es zu erwähnen.«

  »Du hältst mich doch wohl nicht für eine Verdächtige? Da lasse ich mich ja lieber von Quasimodo verführen.«

  Banks lachte. »Darum geht es mir nicht. Denk darüber nach. Wenn du mit Osmond dort warst, bis er verhaftet wurde, dann bist du Zeugin, dass er Constable Gill nicht erstochen hat.«

  »Verstehe. Also ist Dennis deiner Meinung nach der Hauptverdächtige?«

  »Burgess' Meinung nach. Und die allein zählt.«

  Banks fragte sich, ob auch er wollte, dass Osmond schuldig war. Ein Teil von ihm, das musste er zugeben, wollte es. Zudem fragte er sich, ob er Jenny von der Anklage wegen Körperverletzung erzählen sollte oder nicht. Aber zu diesem Zeitpunkt würde es nur gehässig sein, denn er konnte seinen Motiven nicht trauen. Würde er es ihr erzählen, um ihr zu helfen, oder doch eher deshalb, weil er eifersüchtig war und ihrer Beziehung zu Osmond schaden wollte?

  »Ich verstehe, was du meinst«, sagte Jenny schließlich. »Nein, ich war nicht bei der Demo. Ich weiß nicht, was dort passiert ist. Natürlich hat Dennis mir davon erzählt. Übrigens, er ist mitten in seiner eigenen Untersuchung der Ereignisse, gemeinsam mit Tim und Abha. Und Burgess wird dabei ziemlich schlecht wegkommen. Anscheinend war er zusammen mit Hatchley heute wieder bei ihm.«

  Banks wusste das. Er wusste auch, dass das schmierige Duo aus niemandem mehr Informationen herausbekommen hatte als beim ersten Mal. Wahrscheinlich ertränkten die beiden in diesem Moment ihren Kummer im Queen' Arms, und mit ein bisschen Glück würde sich Dirty Dick bei Glenys zu weit vorwagen und von ihrem Cyril ein paar verpasst bekommen.

  »Zurück zur Demo«, sagte Banks. »Was genau hat Dennis erzählt?«

  »Er hat keine Ahnung, was mit diesem Polizisten passiert ist. Glaubst du, ich würde hier sitzen und mit dir reden, deine Fragen beantworten, wenn ich dich nicht davon überzeugen wollte, dass er nichts damit zu tun hat?«

  »Also hat er nichts gesehen?«

  »Nein. Er sagte, er hätte gehört, wie jemand etwas rief - was genau, konnte er nicht verstehen - und danach ging das Chaos los.«

  Das schien mit dem übereinzustimmen, was Tony Grant und Tim und Abha über den Ursprung der Ausschreitungen gesagt hatten. Banks nahm einen Schluck Sauternes und beobachtete, wie der Rest auf den Grund des Glases zurückschwappte.

  »Hat er dir gegenüber jemals Constable Gill erwähnt?«

  Jenny zuckte mit den Schultern. »Möglich. Aber wie gesagt, ich hatte mit der Demo nicht viel zu tun.«

  »Hast du den Namen jemals gehört?«

  »Keine Ahnung.« Jenny war giftig geworden. »Ich kümmere mich nicht gerade besonders um Dennis' politische Belange. Und wenn du daraus schnelle Schlüsse ziehen willst, vergiss es. Es sei denn, du willst heißen Kaffee über den Schoß geschüttet bekommen.«

  Banks hielt es für das Beste, nicht weiter nach Osmond zu fragen. »Du kennst die Leute von Maggie's Farm, nicht wahr?«, fragte er.

  »Ja. Dennis ist mit Seth und Mara befreundet. Wir sind ein paar Mal dort gewesen. Ich mag sie, besonders Mara.«

  »Was weißt du über die Farm?«

  Jenny schwenkte ihren Cognac und nahm noch einen Schluck. »Seth hat den Hof vor ungefähr drei Jahren gekauft«, sagte sie. »Anscheinend war er ganz schön heruntergekommen, deswegen hat er ihn auch ziemlich billig gekriegt. Er hat alles repariert, die alte Scheune umgebaut und vermietet. Nach Mara kam als Nächstes Rick mit Julian, glaube ich. Er hatte Probleme mit seiner Frau.«

  »Ja, ich habe davon gehört«, sagte Banks. »Weißt du mehr von der Frau?«

  »Nein. Außer, dass sie laut Rick Schlampe heißen muss.«

  »Was ist mit Zoe?«

  »Ich weiß nicht genau, wie sie dazugekommen ist. Sie zog erst später ein. Soweit ich weiß, stammt sie von der Ostküste. Sie macht den Eindruck, ein bisschen weggetreten zu sein, aber ich vermute, in Wirklichkeit ist sie ziemlich gewitzt. Es ist schon überraschend, wie viele Leute heutzutage auf diesen Esoterikkram abfahren. Wahrscheinlich sind sie auf der Suche ... nach Bestätigung oder so, keine Ahnung. Auf jeden Fall lebt sie gut davon. Sie schreibt die wöchentlichen Horoskope in der Gazette und hat an Sommerwochenenden eine kleine Bude an der Küste, wo sie Tarotkarten legt und so weiter. Du weißt schon, Madame Zoe, die Wahrsagerin ...«

  »An der Ostküste. In Scarborough?«

  Jenny schüttelte den Kopf. »Whitby, glaube ich.«

  »Trotzdem«, murmelte Banks, »es ist nicht weit weg.«

  »Wie?«

  Die Kellnerin brachte den Kaffee, und Banks zündete sich eine neue Zigarette an, darum bemüht, den Rauch von Jenny fern zu halten.

  »Erzähl mir von Mara.«

  »Ich mag Mara sehr. Sie ist intelligent und sie hat ein interessantes Leben hinter sich. Bevor sie auf die Farm zog, lebte sie in irgendeiner religiösen Gemeinschaft, aber sie war enttäuscht davon. Jetzt scheint sie sich ein bisschen zur Ruhe setzen zu wollen. Ich kann nicht genau sagen, warum, aber wir verstehen uns ziemlich gut. Von Seth weiß ich nicht viel, wie gesagt. Er ist in den Sechzigern groß geworden und hat seine Ideale nie aufgegeben. Ich meine, immerhin ist er kein Börsenmakler oder Steuerberater geworden. Sein Hauptinteresse gilt seiner Tischlerei. In seiner Vergangenheit war auch irgendwas mit einer Frau.«

  »Was für eine Frau?«

  »Mara hat nur mal was erwähnt. Anscheinend spricht Seth nicht gerne darüber. Eine Freundin von ihm ist gestorben. Vielleicht waren sie sogar verheiratet, keine Ahnung. Das war, bevor er die Farm gekauft hat.«

  »Wie hieß sie denn?«

  »Alison, glaube ich.«

  »Wie ist sie gestorben?«

  »Irgendein Unfall.«

  »Was für einer?«

  »Mehr weiß ich nicht, wirklich. Ich würde es sagen. Mara weiß auch nicht mehr. Seth hat es ihr nur mal erzählt, als er betrunken war. Sonst scheint er aber nicht zu trinken.«

  »Und das ist alles, was du weißt?«

  »Ja. Es war irgendein Autounfall. Sie wurde überfahren oder so.«

  »Wo haben sie damals gelebt?«

  »Hebden Bridge, glaube ich. Was spielt das für eine Rolle?«

  »Wahrscheinlich keine. Ich will nur so viel wie möglich von den Leuten wissen, mit denen ich zu tun habe. Sie waren an der Demo beteiligt, und jedes Mal, wenn ich jemanden befrage, kommt das Gespräch auf Maggie's Farm.«

  Es wäre ein Leichtes gewesen, die Unfallberichte von Hebden Bridge zu überprüfen, doch Banks hatte keine Ahnung, was Gill damit zu tun haben könnte. Vielleicht war er zu der Zeit Streife gefahren? Zu einer religiösen Gemeinschaft hatte er wohl auch kaum Kontakt gehabt, sofern er nicht befürchtet hatte, ein naher Freund oder Bekannter sei von so einer Gemeinschaft der Gehirnwäsche unterzogen worden.

  »Was ist mit Paul Boyd?«, fragte er.

  Jenny dachte nach. »Er ist noch ganz neu auf der Farm. Ich kann nicht behaupten, dass ich ihn gut kenne. Um dir die Wahrheit zu sagen - und jetzt muss ich mich recht unprofessionell ausdrücken -, bei ihm kriege ich das kalte Grausen. Doch Mara hängt sehr an ihm, wie an einem jüngeren Bruder oder sogar an einem Sohn. Sie ist siebzehn Jahre älter als er. Und er gehört wirklich einer anderen Generation an. Ein Punk. Mara glaubt, dass er einfach liebevolle Fürsorge braucht, denn davon hat er anscheinend nie viel bekommen.«

  »Und was hältst du in beruflicher Hinsicht von Paul?«

  »Schwer zu sagen. Weißt du, ich habe mich wirklich noch nicht oft mit ihm unterhalten. Er macht einen zornigen, antisozialen Eindruck. Vielleicht gibt ihm das Leben auf der Farm eine Art Zugehörigkeitsgefühl. Wenn man darüber nachdenkt, welchen Grund soll er auch haben, die Welt zu lieben? Kein Erwachsener hat ihm jemals eine Chance gegeben, die Gesellschaft auch nicht. Er fühlt sich wertlos und abgelehnt, also läuft er herum wie der letzte Dreck, klammert sich an dieses Selbstbild und provoziert damit, eine menschliche Reaktion. Und das«, sagte Jenny mit einer gespielten Verbeugung, »ist Dr. Füllers bescheidene Meinung.«

  Banks nickte. »Macht Sinn.«

  »Aber das macht ihn noch nicht zum Mörder.«

  »Nein.« Jede weitere Frage, die ihm jetzt noch einfiel, würde ihn nur zurück auf das schwierige Thema Dennis Osmond bringen. Doch in der letzten halben Stunde hatte sich die Atmosphäre so entspannt, dass er nicht riskieren wollte, dem Abend einen bitteren Nachgeschmack zu geben. Wenn er sich tatsächlich wieder über Osmond auslassen würde, würde Jenny mit Sicherheit dichtmachen.

  Banks nahm die Rechnung, doch Jenny bestand darauf, sie zu teilen. Dann verließen sie das Lokal. Es war eine ruhige Heimfahrt, aber Banks fühlte sich schuldig, weil er sicher war, die Promillegrenze ein bisschen überschritten zu haben. Wenn sich jemand über die Gefahren von Alkohol am Steuer im Klaren sein sollte, dann doch wohl ein Polizist. Er fühlte sich nicht betrunken, schließlich hatte er nicht viel zu sich genommen, meinte, sich völlig unter Kontrolle zu haben, aber das behaupten alle, wenn die Drogen die Wahrnehmung verändern. Er solle keinen Unsinn reden, sagte Jenny zu ihm, er sei völlig in Ordnung. Als er sie zu Hause rausließ, lud sie ihn nicht zu einem Kaffee ein, und er war froh darum.

  Im Bett, beim Versuch einzuschlafen, dachte er, dass Jenny ihn glücklicherweise nicht dazu aufgefordert hatte, seine eigenen Theorien zu dem Fall preiszugeben. Hätte sie es getan, hätte er ihr - im Vertrauen, dass sie es nicht weitergab - von seinem Gespräch am Marine Drive mit Tony Grant erzählt, dessen Aussagen ein ganz neues Licht auf den Fall warfen.

  Auf der einen Seite machten Grants Informationen die Möglichkeit eines persönlichen Motives für den Mord an Gill sehr viel wahrscheinlicher. Noch wusste er nicht, wer ein solches Motiv gehabt haben könnte, aber angesichts dessen, was Tim und Abha gesagt hatten, dürfte jeder Teilnehmer der Demonstration - besonders die Organisatoren und ihnen nahe stehende Leute - gewusst haben, dass bei der Demo mit Gill zu rechnen gewesen war. Und mußte Gills Anwesenheit nicht zwangsläufig zu Ausschreitungen führen?

  Auf der anderen Seite, ging es Banks durch den Kopf, bestand die Möglichkeit, dass Gill Feinde innerhalb der Polizei hatte und statt eines Demonstranten ein Polizist die Gelegenheit genutzt haben könnte, um ihn loszuwerden. Zum Beispiel jemand, an dessen Frau oder Freundin sich Gill herangemacht hatte. Oder ein Komplize, wenn er in Gaunereien verwickelt gewesen war. Tony Grant hatte das ausgeschlossen, aber er war schließlich nur ein naiver Neuling bei der Polizei.

  Mit dieser Theorie würde er bei Burgess auf taube Ohren stoßen, denn sie würde alle politischen Überlegungen vom Tisch fegen. Doch ein anderer Polizist hätte damit rechnen können, dass Gill bei der Demo Ärger verursachen würde, und sich mit ihm für die Überstunden melden können. Und vor allem hätte er im Gegensatz zu einem Demonstranten nicht vor dem Problem gestanden, unbemerkt in den dunklen Gassen entkommen zu müssen. Niemand hat die Polizisten kontrolliert, niemand hat ihre Uniformen nach Gills Blut untersucht.

  Vielleicht war dies nur eine der üblichen weit hergeholten Theorien kurz vor dem Einschlafen, die bei Tageslicht völlig absurd erschienen. Aber Banks konnte sie nicht ganz ausschließen. Bei der Londoner Polizei hatte er Männer gekannt, die mehr als fähig dazu waren, einen Kollegen zu ermorden, und in den meisten Fällen hätte das Opfer wahrlich keinen Verlust für die Menschheit dargestellt. Allerdings gab es nur einen Weg, mehr über diese Spur zu erfahren, nämlich indem er Tony Grant noch weiter in die Pflicht nahm. Wenn an dieser Spur irgendetwas dran sein sollte, dann war es umso besser, je weniger Leute von Banks Ermittlung wussten. Dieser Weg könnte gefährlich werden.

  Und mit dem Gefühl des warm durch seine Adern fließenden Sauternes und einer kalten, leeren Betthälfte neben sich schlief Banks ein, im Gedanken bei dem Opfer, überzeugt, dass jemand ganz in der Nähe sehr gute Gründe gehabt hatte, Constable Edwin Gills Tod zu wollen.