* ZEHN

 

* I

 

Der entscheidende Durchbruch kam am frühen Freitagmorgen. Das Rossghyll-Gästehaus erwies sich als Sackgasse, die gesamte Belegschaft der aus York abfahrenden Züge war zu beschäftigt gewesen, um sich an irgendjemanden zu erinnern, doch aus Edinburgh meldete sich ein Frisör, der Paul Boyd auf dem Foto in der Morgenzeitung wiedererkannt hatte. Obwohl Banks den Akzent des Mannes nur schwer verstehen konnte, erfuhr er von ihm, wie Pauls neue Frisur aussah. Noch viel wichtiger aber war die Erkenntnis, dass Paul den roten Anorak gegen einen neuen grauen Dufflecoat eingetauscht hatte.

  Sobald er aufgelegt hatte, orientierte sich Banks auf der Landkarte. Paul war statt nach London oder Liverpool nach Norden gereist. Das war ein cleverer Schritt gewesen, durch den er Zeit gewonnen hatte. Doch jetzt, wo sein Foto auf den ersten Seiten aller Boulevardzeitungen war, lief seine Zeit ab. Banks und seine Männer hatten nicht nur sein Foto so schnell wie möglich in die Zeitungen gebracht, sondern auch eine Beschreibung von Boyd an die Polizei aller größeren Städte, Häfen und Flughäfen verteilt. Das war reine Routine und alles, was sie bei ihrem begrenzten Erkenntnisstand tun konnten, aber nun gab es einen konkreten Anhaltspunkt.

  In der Annahme, dass Paul mit Sicherheit das Land würde verlassen wollen, holte Banks seine nationale Straßenkarte hervor, fuhr mit dem Finger die schottische Küstenlinie entlang und suchte nach Wegen, die von dort wegführten. An der Ostküste konnte er nur zwei Fährverbindungen nördlich von Edinburgh entdecken. Mit der ersten, von Aberdeen nach Lerwick auf den Shetlandinseln, könnte Boyd weiter nach Bergen und Torshavn in Norwegen oder nach Seydhisfjördhur auf Island gelangen. Doch als er das Kleingedruckte las, bemerkte Banks, dass diese Fähren nur im Sommer verkehrten. Und wie der graue Himmel und der Nieselregen draußen belegten, war es mit Sicherheit nicht Sommer.

  Eine weitere Fähre fuhr noch weiter nördlich von Scrabster nach Stromness auf die Hauptinsel der Orkneys, aber das schien kaum der richtige Fluchtort zu sein. Boyd würde dort auffallen wie ein Eskimo in den Tropen.

  An der Westküste sah Banks Dutzende von roten, gestrichelten Linien, die zu Orten wie Brodick auf der Insel Arran, Port Ellen auf Isley oder Stornaway auf Lewis, einer Insel der Äußeren Hebriden, führten. Die gesamte Karte war ein einziges Gewirr aus kleinen Inseln und Fährverbindungen. Aber keiner dieser abgelegenen Orte würde für Boyd infrage kommen, dachte Banks. Auf jeder schottischen Insel, besonders zu dieser Jahreszeit, würde er nicht nur in der Falle sitzen, sondern auch furchtbar auffallen.

  Die einzige Route, die in dieser Gegend irgendeinen Sinn ergab, war die von Stranraer nach Larne. Dann wäre Boyd in Nordirland. Von dort brauchte er keinen Pass, um die Grenze nach Irland zu überqueren. Boyd stammte aus Liverpool, erinnerte sich Banks, und wahrscheinlich hatte er irische Freunde.

  Nachdem er Richmond und Hatchley beauftragt hatte, zur Sicherheit die anderen schottischen Fährhäfen zu informieren, rief er die Polizei in Stranraer an. Ihm wurde gesagt, dass am vergangenen Tag wegen starken Sturms auf See keine Fähre ausgelaufen war, es aber diesen Morgen ruhig war. Die Fähren fuhren um 11.30, 15.30, 19.00 sowie 3.00 Uhr ab und waren alle leicht per Zug von Edinburgh oder Glasgow aus zu erreichen. Banks gab eine Beschreibung von Boyd durch und bat darum, dass die Leute vor Ort ein besonderes Augenmerk auf ihn hatten, vor allem beim Besteigen der Fähren. Als Nächstes übermittelte er der Polizei von Edinburgh, Glasgow, Inverness, Aberdeen und Dundee die neue Beschreibung und gab eine Liste der kleineren Orte an die Constables Craig und Tolliver im Erdgeschoss weiter. Dann rief er Burgess an, der seit ihrer gemeinsamen Saufnacht sein Hotelzimmer nicht mehr verlassen hatte, und informierte ihn über die Neuigkeiten.

  Banks wusste aus Erfahrung, dass es eine Frage von Minuten oder aber Tagen sein könnte, bis solche Spuren zu Ergebnissen führten. Er konnte es nicht mehr abwarten, Boyd vor sich zu haben und die Wahrheit aus ihm herauszukriegen, um damit genauso sehr seine eigenen Theorien zu überprüfen wie alles andere. Aber es brachte ihn auch nicht weiter, wenn er die ganze Zeit wie ein Tiger durch sein Büro marschierte. Also ließ er sich einen Kaffee bringen und ging die Akten durch, die Richmond zusammengestellt hatte.

  Informationen sind der Lebensnerv eines Polizisten. Er kann sie aus vielen Quellen erhalten: Befragungen, Tratsch, Polizeiberichte, Informanten, Arbeitgeber, Zeitungsreporter und Standesämter. In der Hoffnung, dass sie sich eines Tages als nützlich erweisen werden, müssen sie verglichen, gespeichert und mit Querverweisen versehen werden. Constable Richmond war der beste Schnüffler in Eastvale, zudem war er praktisch unsichtbar bei einer Überwachung und geschickt bei einer Verfolgung. Sergeant Hatchley, obwohl hart, beharrlich und gut bei Verhören, war zu faul und nachlässig, wenn es darum ging, Verknüpfungen herzustellen. Er übersah vermeintlich unbedeutende Details und wählte immer die einfachste Lösung. Kurz gesagt, Richmond hatte Spaß daran, Daten zu sammeln und zu vergleichen, und Hatchley nicht. Das war der feine Unterschied.

  Banks breitete die Blätter vor sich aus. Über Seth Cotton wusste er bereits ein bisschen, aber er musste alles noch einmal gründlich durchgehen. Trotzdem war die einzige zusätzliche Information, die er am Ende in Erfahrung gebracht hatte, dass Seth Cotton in Dewsbury geboren worden war und sich Mitte der siebziger Jahre in Hebden Bridge niedergelassen hatte, wo er, soweit es die örtliche Polizei betraf, ein ruhiges Leben geführt hatte. Richmond hatte den Unfallbericht über Alison Cotton bekommen, der nicht besonders viel aussagte. Banks nahm sich vor, ihn später noch einmal genauer durchzusehen.

  Auch über Rick Trelawney gab es nichts Neues, nur den Namen und die Adresse der Schwester seiner Frau in London. Ein Anruf könnte sich lohnen, um weitere Einzelheiten über die Scheidung zu erhalten.

  Zoe Hardacre war ein Mädchen aus der Gegend. Zumindest beinahe. Wie Jenny gesagt hatte, stammte sie aus Whitby an der Ostküste, nicht weit von Gills Heimatstadt Scarborough. Nach der Schule hatte sie sich als Sekretärin versucht, war aber nicht dabei geblieben. Die Arbeitgeber hatten beklagt, dass sie sich nicht auf die ihr angetragenen wichtigen Aufgaben konzentrieren konnte und dass sie immer in einer anderen Welt zu sein schien. Diese andere Welt war das Okkulte: Astrologie, Handlesen und Tarotkarten. Sie hatte sich mit diesen Themen gründlich genug auseinander gesetzt, um von denen, die sich mit solchen Dingen auskannten, als eine Art Expertin angesehen zu werden. Jetzt, wo das Okkulte unter den New-Age-Yuppies anscheinend in Mode gekommen war, konnte man sagen, dass sie davon lebte, detaillierte Geburtstabellen anzulegen und Tarotsitzungen zu geben. Jeder schien darin übereinzustimmen, dass Zoe harmlos war, ein wahres Blumenkind, obwohl zu jung, um die Blütezeit der Hippies miterlebt zu haben. Sie schien auch so politisch wie eine Blume zu sein: Sie unterstützte die Menschenrechte und war gegen Atomwaffen, aber weiter ging es auch nicht.

  Soweit für Banks ersichtlich, hatte sie niemals Kontakt mit Constable Gill gehabt. Banks stellte sich vor, wie er mit gezücktem Schlagstock ihren Stand in Whitby stürmte, um sie wegen Scharlatanerie zu verhaften; oder vielleicht hatte sie ihm aus der Hand gelesen und gesagt, er wäre latent homosexuell. Die Absurdität von Banks' Theorien diente nur als Maßstab seiner Frustration wegen eines fehlenden Motivs. Irgendwo gab es eine Verbindung zwischen einem der Verdächtigen und Gills Ermordung, aber Banks hatte noch nicht genug Informationen, um sie zu erkennen. Er kam sich vor, als würde er versuchen, ein Bild, bei dem erst tausend kleine Punkte miteinander verbunden werden mussten, mit zu wenig Punkten auszumalen.

  Obwohl Banks ziemlich sicher war, dass Mara Delacey zu der Zeit, als Constable Gill erstochen wurde, auf der Farm war und auf die Kinder aufgepasst hatte, blätterte er ihre Akte durch. Sie hatte als gescheites Mädchen begonnen, war eine viel versprechende Studentin und hatte einen guten Abschluss in Englisch erzielt. Als jedoch LSD, Acidrock, Bandanas und grelle Kaftane der letzte Schrei waren, hatte sie sich den Hippies angeschlossen. Die Polizei wusste, dass sie Drogen nahm, verdächtigte sie aber nie, damit zu handeln. Außer bei ein oder zwei Razzien in Wohnungen, in denen sie gerade lebte, war sie nie mit Drogen aufgegriffen worden.

  Wie Zoe hatte Mara gelegentlich als Sekretärin gearbeitet, meistens als Aushilfskraft. Ihre Universitätsausbildung hatte sie nie praktisch genutzt. In den späten siebziger Jahren hatte sie einige Zeit in den USA verbracht, hauptsächlich in Kalifornien. Zurück in England hatte sie sich eine Weile treiben lassen, bekam dann Kontakt zu einem Guru und lebte schließlich für ein paar Jahre in einem seiner Ashrams in Muswell Hill. Danach zog sie auf die Farm. Nichts verband Mara mit Constable Gill, es sei denn, sie waren sich während der zwei Jahre, die sie in Swainsdale lebte, zufällig über den Weg gelaufen.

  Um seine Augen auszuruhen, ging Banks zum Fenster und zündete sich eine Zigarette an. Draußen blieben zwei ältere Touristen, Reiseführer in den Händen, staunend vor dem normannischen Kirchturm stehen und gingen dann in die Kirche.

  Nichts von dem, was Banks gelesen hatte, schien ihn weiterzubringen. Wenn Gill in irgendeiner Beziehung zu jemandem von der Farm gestanden hatte, dann war es gut verborgen und Banks musste tief danach graben. Seufzend setzte er sich wieder hin und schlug den nächsten Ordner auf.

  Tim Fenton war in Ripon geboren worden und studierte mittlerweile im zweiten Jahr am Eastvale College. Gemeinsam mit Abha Sutton leitete er die dortige Studentenvertretung. Es war eine kleine Vertretung, die sich normalerweise mit collegeinternen Themen beschäftigte, doch waren die Studenten verärgert über die Gesundheits- und Bildungspolitik der Regierung - besonders, wenn Stipendien in Gefahr waren - und nutzten jede Gelegenheit, um ihr Missfallen zu demonstrieren. Tim, Sohn eines Buchhalters, war erst neunzehn Jahre alt und hatte eine weiße Weste, allerdings hatte er eben an dem Seminar teilgenommen, durch das er bei der Special Branch aktenkundig geworden war.

  Abha Sutton war in Bradford als Tochter einer Inderin und eines Einheimischen geboren worden. Auch sie entstammte der anständigen Mittelklasse, und wie bei Tim - Richmond hatte versucht, es Burgess beizubringen - gab es in ihrer Vergangenheit weder Gewaltdelikte noch hatte sie mit extremistischen Gruppen zu tun. Seit sechs Monaten lebte sie nun mit Tim zusammen, gemeinsam hatten sie die Marxistische Gesellschaft am College gegründet, die jedoch nur wenige Mitglieder hatte. Viele Studenten waren hier ansässige Bauernsöhne, die Landwirtschaft studierten. Doch die sozialwissenschaftliche Abteilung und die Fakultät für Kunst wuchsen, außerdem hatten sie ein paar Mitglieder aus den literarischen Kreisen rekrutiert.

  Als er zu Dennis Osmonds Akte kam, las Banks noch etwas gründlicher. Osmond war fünfunddreißig, geboren in Newcastle-on-Tyne. Sein Vater hatte dort bei den Werften gearbeitet, doch als Osmond zehn Jahre alt war, wurde er entlassen und die Familie war gezwungen wegzuziehen. Mr. Osmond hatte einen Job in der Schokoladenfabrik gefunden, wo er als strammer Gewerkschafter bekannt und in seinen letzten Jahren in die erbitterten und manchmal gewaltsamen Tarifverhandlungen verwickelt gewesen war. Obwohl Osmond anfänglich nach geistig Anspruchsvollerem gestrebt hatte, war er politisch in die Fußstapfen seines Vaters getreten.

  Ein Radikaler das ganze Studium hindurch, war er nach seinem dritten Jahr mit der Begründung von der Universität abgegangen, dass die dort vermittelte Bildung nichts weiter war als eine Indoktrination mit bürgerlichen Werten. Danach hatte er als Sozialarbeiter in Eastvale begonnen und machte diesen Job seit mittlerweile zwölf Jahren. Während dieser Zeit war er gemeinsam mit Dorothy Wycombe zum wichtigsten Sprecher in der Stadt für die Unterdrückten, Vernachlässigten und ungerecht Behandelten geworden. Außerdem hatte er Ellen Ventner, eine ehemalige Lebensgefährtin, zusammengeschlagen. Einige seiner Freunde gehörten genau zu der Sorte Menschen, die Burgess am liebsten auf der Stelle erschossen hätte: Vertrauensleute der Gewerkschaft, Feministinnen, Dichter, Anarchisten und Intellektuelle.

  Wie viel Gutes Osmond auch für diese Gegend getan haben mochte, Banks konnte immer noch nicht anders, als den Mann abzulehnen und in ihm irgendwie einen Scharlatan zu sehen. Er konnte nicht verstehen, was Jenny zu ihm hinzog, es sei denn, es war etwas rein Körperliches. Und natürlich wusste Jenny immer noch nicht, dass Osmond einmal gegen eine Frau tätlich geworden war.

  Es war nach ein Uhr, Zeit für eine Pastete und ein Pint im Queen's Arms. Doch kaum hatte es sich Banks in seinem Lieblingssessel am Kamin gemütlich gemacht, um den Guardian zu lesen, da kam Constable Craig in den Pub gestürmt.

  »Sie haben ihn, Sir«, sagte er atemlos. »Boyd. Sie haben ihn geschnappt, als er gerade auf die Fähre um halb zwölf nach Larne wollte.«

  Banks schaute auf seine Uhr. »Hat ja lange gedauert, bis sie sich bei uns gemeldet haben. Halten sie ihn fest?«

  »Nein, Sir. Sie bringen ihn her. Sie sagten, sie wären so am späten Nachtmittag hier.«

  »Na, dann haben wir ja keine Eile, oder?« Banks zündete sich eine Zigarette an und raschelte mit der Zeitung. »Scheint also alles vorbei zu sein.«

  Aber er hatte nicht das Gefühl, als wäre alles vorbei. Vielmehr hatte er das Gefühl, dass jetzt erst alles begann.

 

* II

 

Burgess lief durch das Büro wie ein werdender Vater, paffte seine Zigarre und schaute alle zehn Sekunden auf die Uhr.

  »Wo zum Teufel bleiben die denn?«, wollte er, so erschien es Banks, zum hundertsten Mal an diesem Nachmittag wissen.

  »Bald. Es ist eine lange Fahrt, und die Straßenverhältnisse können bei dem Wetter unangenehm sein.«

  »Sie sollten doch längst hier sein.«

  Die zwei warteten in Banks' Büro auf Paul Boyd. Da er die Beute witterte, schien sich Burgess nicht mehr entspannen zu können. Banks fühlte sich dagegen ungewöhnlich ruhig. Entlang der Market Street machten die Ladenbesitzer Feierabend, es wurde bereits dunkel. Im Büro keuchte die Heizung, Leuchtstoffröhren brummten.

  Banks drückte seine Zigarette aus. »Ich hole mir einen Kaffee«, sagte er. »Wollen Sie auch einen?«

  »Ich bin so schon nervös genug. Ach, zum Teufel. Warum nicht? Schwarz, drei Stück Zucker.«

  Im Flur traf Banks auf Sergeant Hatchley, der gerade nach unten gehen wollte. »Und?«, fragte er.

  »Nichts«, sagte Hatchley. »Ich warte auch noch und wollte gerade runter zu Sergeant Rowe. Mal sehen, ob irgendwelche Nachrichten eingegangen sind.«

  Banks ging mit zwei Bechern Kaffee zurück in sein Büro und musste lächeln, als Burgess beim Öffnen der Tür sofort aufsprang. »Alles okay«, sagte Banks. »Keine Aufregung. Ich bin's nur.«

  »Glauben Sie, dass sich die dämlichen Kerle verfahren haben?«, fragte Burgess und machte ein finsteres Gesicht. »Oder ob sie eine Panne hatten?«

  »Ich bin mir sicher, dass die sich genauso gut auskennen wie jeder andere.«

  »Bei den verdammten Schotten weiß man nie«, klagte Burgess. Weiter nördlich als Eastvale war er nie gewesen, und er hatte bereits ziemlich klar gemacht, dass er sich auch nicht weiter vorwagen würde. »Wenn sie das Arschloch entkommen lassen haben ...«

  Doch er wurde vom Telefon unterbrochen. Es war Sergeant Rowe. Boyd war eingetroffen.

  »Sie sollen ihn hochbringen.« Burgess holte eine neue Tom Thumb hervor. Er zündete sie an, wischte etwas Asche von seinem Hemd und nahm den Kaffee entgegen.

  Wenige Augenblicke später klopfte es an der Tür, und zwei uniformierte Männer traten mit Paul Boyd in ihrer Mitte ein. Er sah blass und eingeschüchtert aus - wozu er auch allen Grund hatte, dachte Banks.

  »Tut mir Leid, Sir«, sagte der Fahrer. »Es hat eine Verzögerung gegeben. Wir mussten erst warten, bis der Doktor fertig war.«

  »Der Doktor?«, sagte Burgess. »Warum, was war los? Unser Schwachkopf wird doch wohl niemanden verletzt haben, oder?«

  »Verletzt? Nein.« Der Constable schaute Paul verächtlich an. »Fiel in Ohnmacht, als er geschnappt wurde, das war alles. Als er wieder zu sich kam, schrie er etwas von Mauern, die immer näher kommen. Ein Arzt wurde geholt und musste ihm ein Beruhigungsmittel geben.«

  »Mauern kommen näher?«, meinte Burgess. »Interessant. Klingt mir nach einem Anflug von Klaustrophobie. Na, egal. Setzen Sie ihn hin, dann können Sie beide wieder abzischen.«

  »Fragen Sie unten den Dienst habenden Sergeant wegen Spesen und Übernachtung«, sagte Banks zu den beiden Schotten. »Ich nehme nicht an, dass Sie heute Abend gleich wieder zurückfahren wollen, oder?«

  Der Fahrer lächelte. »Nein, Sir. Vielen Dank, Sir.«

  »Ich danke Ihnen«, sagte Banks. »Gleich über die Straße ist ein guter Pub. Das Queen's Arms. Können Sie nicht verfehlen.«

  »Ja, Sir.«

  Burgess konnte es kaum abwarten, die Tür hinter ihnen zu schließen. Paul saß in einem Metallröhrenstuhl mit Holzsitzfläche und -rückenlehne gegenüber von Banks. Burgess zog die Bewegungsfreiheit und den Vorteil einer erhöhten Position vor, lehnte sich lieber gegen die Wand oder schritt beim Reden auf und ab.

  »Holen Sie den Sergeant, ja?«, bat er Banks. »Er soll sein Notizbuch mitbringen.«

  Banks schickte nach Hatchley, der nach einer Minute mit erhitztem Gesicht und atemlos erschien. »Schon wieder diese verfluchten Treppen«, brummte er. »Die bringen mich noch mal um.«

  Burgess deutete auf einen Stuhl in der Ecke, auf den sich Hatchley folgsam setzte. Er fand eine leere Seite in seinem Notizbuch und holte einen Stift hervor.

  »Okay«, sagte Burgess und schlug in die Hände. »Legen wir los.«

  Paul sah ihn an, Hass und Angst flammten in seinen Augen auf.

  Wenn Burgess beruflich einen Fehler machte, dachte Banks, dann war es seine Verhörmethodik. Er schien dabei nicht anders zu können, als seine plumpe, aggressive Seite auszuspielen. Mit der Guter-Bulle-böser-Bulle-Taktik, die Banks und Hatchley entwickelt hatten, würden sie bei Boyd wesentlich weiter kommen, aber jetzt hatten sie keine andere Wahl. Banks wusste, dass er wieder bis zum Ende in die Rolle des netten Kerls und Beichtvaters gezwungen wurde.

  »Warum erzählst du uns nicht einfach alles?«, begann Burgess. »Dann müssen wir nicht auf die chinesische Wasserfolter zurückgreifen.«

  »Es gibt nichts zu erzählen.« Boyd blinzelte nervös aus dem Fenster. Die Jalousie war hochgezogen und ließ das graue Licht von der Straße herein.

  »Warum hast du ihn getötet?«

  »Ich habe niemanden getötet.«

  »Hast du nur die Beherrschung verloren, war es so? Oder hat dich jemand bezahlt? Na los, wir wissen, dass du es warst.«

  »Ich habe gesagt, ich habe niemanden getötet.«

  »Wie kommt es dann, dass auf dem Messer neben Constable Gills Blut auch deine Fettfinger waren? Willst du mir erzählen, dass du es nie berührt hast?«

  »Das habe ich nicht gesagt.«

  »Was willst du dann sagen?«

  Paul fuhr mit der Zunge über seine Lippen. »Kann ich eine Zigarette haben?«

  »Nein, Scheiße noch mal, kannst du nicht«, knurrte Burgess. »Erst wenn du uns erzählt hast, was passiert ist.«

  »Ich habe nichts getan, ehrlich. Ich habe noch nie jemanden getötet.«

  »Warum bist du dann abgehauen?«

  »Ich hatte Angst.«

  »Wovor?«

  »Ich hatte Angst, dass Sie es mir trotzdem anhängen. Sie wissen, dass ich schon mal gesessen habe.«

  »Glaubst du, das ist unsere Art, Paul?«, fragte Banks sanft. »Glaubst du das wirklich? Da liegst du falsch. Wenn du uns einfach die Wahrheit erzählst, hast du nichts zu befürchten.«

  Burgess ignorierte ihn. »Wie sind deine Fingerabdrücke auf das Messer gekommen?«

  »Ich muss es in der Hand gehabt haben, nehme ich an.«

  »Das klingt schon besser. Und wann hast du es in der Hand gehabt? Und warum?«

  Paul zuckte mit den Achseln. »Könnte jederzeit gewesen sein.«

  »Jederzeit?« Burgess schüttelte mit übertriebener Langsamkeit den Kopf. »Nein, es könnte nicht jederzeit gewesen sein, Freundchen. Nein. Willst du wissen warum? Deine Fingerabdrücke waren ganz oben drauf, numero uno, glasklar. Du warst die letzte Person, die das Messer in der Hand hatte, bevor wir es gefunden haben. Wie erklärst du dir das?«

  »Na gut, dann hatte ich es eben in der Hand, nachdem es benutzt worden war. Das bedeutet aber noch lange nicht, dass ich jemanden getötet habe.«

  »Doch, das bedeutet es, solange du keine bessere Erklärung hast. Und bisher habe ich noch keine gehört.«

  »Woher wusstest du, dass wir das Messer gefunden haben?«, fragte Banks.

  »Ich habe gesehen, wie dieser Schafhirte es im Heidemoor gefunden hat, deshalb bin ich abgehauen.«

  Er lügt, dachte Banks. Mara hatte es ihm erzählt. Doch im Moment ging er nicht weiter darauf ein.

  Paul verstummte. Der Boden knarrte, als Burgess im Büro auf und ab marschierte. Banks zündete sich eine Silk Cut an, die Letzte in der Packung, und lehnte sich auf seinem Stuhl zurück. »Hör zu, Paul«, sagte er, »denk mal an die Fakten. Erstens: Auf dem Messer war Constable Gills Blut, und der Doktor bestätigt, dass es die Tatwaffe ist. Zweitens: Auf dem Griff sind deine Fingerabdrücke. Drittens: Wir wissen, dass du auf der Demo warst, du wurdest gesehen. Viertens: Sobald wir uns die Dinge zusammenreimen, haust du nach Schottland ab. Jetzt erzähl du mir, welche Schlüsse man daraus ziehen soll. Was würdest du an meiner Stelle denken?«

  Paul sagte immer noch nichts.

  »Ich habe die Schnauze voll«, knurrte Burgess. »Sperren wir das Arschloch einfach ein. Er ist auf Haftbefehl hier. Wir haben genug Beweise. Wir brauchen kein Geständnis. Scheiße, wir brauchen noch nicht mal ein Motiv.«

  »Nein!«, schrie Paul.

  »Nein was? Du willst nicht, dass wir dich einsperren? Es ist dunkel da unten, nicht wahr? Selbst ein normaler Mensch spürt da unten im Dunklen, wie die Mauern immer näher kommen.«

  Paul war jetzt ganz blass geworden und begann zu schwitzen. Sein Mund war so fest zusammengepresst, dass die Muskeln seines Kiefers zuckten.

  »Na los«, sagte Banks. »Warum erzählst du es uns nicht einfach? Das würde uns allen eine Menge Ärger ersparen. Du sagst, du hast nichts verbrochen. Wenn das stimmt, musst du nichts befürchten. Warum hältst du den Mund?«

  »Hören Sie auf, ihn zu verhätscheln«, sagte Burgess. »Er wird nicht reden, das wissen Sie genauso gut wie ich. Er ist schuldig, und er weiß es.« Er wandte sich an Hatchley. »Sergeant, schicken Sie ein paar Leute her, die unseren Schwachkopf hier runter in die Zelle bringen.«

  »Nein!« Paul beugte sich nach vorn und krallte sich an der Tischkante fest, bis seine Knöchel weiß wurden.

  Burgess gab Hatchley ein Zeichen, dass er sich wieder hinsetzen sollte. Das Kommando war etwas voreilig, denn der Sergeant bewegte sich sehr langsam und hatte gerade erst sein Notizbuch beiseite gelegt.

  »Ich versuche, es dir leichter zu machen, Paul«, sagte Banks. »Ich werde dir erzählen, was meiner Meinung nach passiert ist, und du sagst mir, ob es stimmt. Okay?«

  Paul holte tief Luft und nickte.

  »Du hast das Messer von der Farm an dich genommen. Es lag normalerweise immer nur in der Wohnung herum. Mara hat es gelegentlich benutzt, um eine Schnur oder Wolle abzuschneiden. Vielleicht hat Seth es manchmal benutzt, um ein Stück Holz zu schnitzen. Aber an dem Tag hast du es eingesteckt, bist damit zur Demo gegangen und hast Constable Gill getötet. Dann hast du es wieder zusammengeklappt, hast dich bis zum Rand der Menge durchgekämpft und bist in eine Seitenstraße geflohen. Du bist bis zum Stadtrand gelaufen und dann durchs Heidemoor zurück zur Farm - fast sechs Kilometer. Ungefähr auf halbem Wege ist dir in den Sinn gekommen, was du getan hast, du bist in Panik geraten und hast das Messer "weggeworfen. Habe ich Recht, Paul?«

  »Ich habe niemanden getötet«, wiederholte Paul.

  »Aber mit allem anderen habe ich Recht?«

  Stille.

  »Sieht so aus, als wären jetzt die Daumenschrauben an der Reihe, Freundchen.« Burgess beugte sich vor, sein Gesicht war nur noch Zentimeter von Pauls entfernt. »Mir wird langweilig. Ich habe die Schnauze voll vom Norden und diesem beschissenen Wetter hier. Ich will zurück nach London, in die zivilisierte Welt. Kapiert? Und du stehst mir dabei im Wege. Ich mag Leute nicht, die mir im Wege stehen, und wenn sie das zu lange machen, dann geraten sie unter die Räder. Klaro?«

  Paul wandte sich an Banks. »Sie haben mit allem anderen Recht«, sagte er. »Aber ich habe das Messer nicht mitgenommen. Ich habe den Bullen nicht getötet.«

  »Polizeibeamter heißt das, du Schwachkopf«, bellte Burgess.

  »Wie bist du dann dazu gekommen?«, fragte Banks.

  »Ich wurde niedergeschlagen«, sagte Paul. »Bei der Demo. Und ich krümmte mich zusammen, wie ... mit meinen Händen hinter dem Kopf und angezogenen Knien, wie ein ... ein ... wie heißt das?«

  »Fötus?«

  »Ja, wie ein Fötus. Drumherum waren überall Leute, es war furchtbar. Ich wurde die ganze Zeit getreten. Dann wurde dieses Messer zu mir gekickt. Ich hob es auf und bin dann abgehauen, genau wie Sie sagten. Aber ich wusste nicht, dass damit jemand getötet wurde. Ich dachte nur, es ist ein gutes Messer, zu gut, um es liegen zu lassen, deshalb habe ich es mitgenommen. In der Heide habe ich dann gesehen, dass Blut darauf war, und da habe ich es weggeworfen. So ist es passiert.«

  »Du bist ein verdammter Lügner«, sagte Burgess. »Glaubst du, ich bin ein Idiot? Ist es das, wofür du mich hältst? Ich bin vielleicht ein Stadtjunge, aber selbst ich weiß, dass es in der beschissenen Heide kein Licht gibt. Und selbst du bist nicht so bescheuert, dass du da auf der Straße rumliegst, die Stiefel fliegen dir um die Ohren, überall Polizei, und denkst: >Oh, was für ein schönes, blutverschmiertes Messer. Das muss ich mit nach Hause nehmen!< Du hast Märchen erzählt.« Er drehte sich zu Banks um. »Das haben Sie nun davon, wenn Sie ihn mit Samthandschuhen anfassen. Da fängt er an, den Märchenonkel zu spielen.«

  Unvermittelt packte er von hinten Pauls Nacken und drückte fest zu. Paul baumelte zappelnd vor der Tischkante und stieß fast seinen zerbrechlichen Stuhl um. Dann ließ ihn Burgess genauso abrupt wieder los und lehnte sich lässig gegen die Wand.

  »Noch mal von vorn«, sagte er.

  Paul massierte seinen Hals und schaute flehend Banks an, der gelassen blieb.

  »Es stimmt, wirklich«, sagte Paul. »Ich schwöre. Ich habe ihn nicht getötet. Ich habe nur das Messer aufgehoben.«

  »Nehmen wir an, wir glauben dir«, sagte Banks. »Dann haben wir immer noch ein Problem, oder? Und das Problem lautet: Warum? Warum hast du die Mordwaffe aufgehoben und sie vom Tatort weggeschmuggelt? Verstehst du, was ich meine? Das passt nicht zusammen.«

  Paul rutschte auf seinem Stuhl umher und warf immer wieder nervöse Blicke auf Burgess, der in seiner Beobachterposition verharrte. »Ich wusste ja nicht mal, dass dort ein Mord passiert ist«, sagte er.

  »Wen deckst du, Paul?«, fragte Banks.

  »Niemanden.« Doch Pauls Antwort war so schnell und laut erfolgt, dass selbst der leichtgläubigste Mensch auf Erden gemerkt hätte, dass das eine Lüge war. Als er seinen Patzer bemerkte, wurde er rot und starrte auf seine Knie hinab.

  »Die Leute von Maggie's Farm haben dich aufgenommen und sich um dich gekümmert, nicht wahr?«, sagte Banks. »Sie waren wahrscheinlich die ersten Menschen, die das getan haben. Deine Lage war aussichtslos, du warst gerade aus dem Gefängnis gekommen, hattest keinen Job, wusstest nicht wohin, du warst am Ende, und dann bist du ihnen begegnet. Es ist keine Überraschung, dass du sie in Schutz nehmen willst, Paul, aber verstehst du nicht, wie durchschaubar du bist? Wen verdächtigst du?«

  »Keine Ahnung. Niemanden.«

  »Osmond, Tim Fenton, Abha Sutton? Würdest du so weit gehen, sie zu schützen?«

  Paul sagte nichts.

  Burgess haute auf den Metalltisch. »Antworte!«

  Paul zuckte erschreckt zusammen. »Vielleicht«, sagte er und starrte Burgess zornig an. »Vielleicht würde ich jemanden in Schutz nehmen, der ein Schwein getötet hat.«

  Burgess schlug ihm mit dem Handrücken ins Gesicht. Paul wurde von dem Schlag zurückgeworfen und wäre fast vom Stuhl gefallen.

  »Noch mal von vorn, Schwachkopf.«

  Banks packte Burgess am Ellbogen und zog ihn zum Fenster hinüber. »Glauben Sie nicht«, sagte er mit zusammengepressten Zähnen, »dass es besser wäre, wenn Sie mal Ihren Kopf gebrauchen statt Ihrer verdammten Fäuste?«

  »Was ist los mit Ihnen, Banks? Weich geworden? Sind Sie deshalb hier hochgeschickt worden?«

  Banks deutete mit einem kurzen Nicken auf Paul. »Er ist an harte Schläge gewöhnt. Die machen ihm überhaupt nichts aus, und Sie sollten das verdammt noch mal wissen. Sie befriedigen nur Ihre sadistischen Triebe, mehr nicht.«

  Burgess rümpfte seine Nase und ging zurück zu Paul, der sich mit dem Handrücken das Blut vom Mund wischte und die beiden spöttisch angrinste. Er hatte mitgehört, wie Banks bemerkte, und dachte wahrscheinlich, dass die ganze Szene nur inszeniert worden war, um ihn aus dem Gleichgewicht zu bringen. »Du gibst zu, dass du das Messer, als du es auf dem Boden gefunden hast, wiedererkannt hast, richtig?«, fragte Banks.

  »Ja.«

  »Und du möchtest nicht, dass einer deiner Freunde von der Farm Ärger bekommt.«

  »Stimmt.«

  »Deshalb hast du es mitgenommen und weggeworfen.«

  »Ja. Ich bin ein paar Mal zurück in die Heide gegangen, um es zu suchen. Mir war klar, dass es dumm war, es wegzuwerfen, ohne es abzuwischen oder so, aber ich war in Panik gewesen. Ich hätte es zurück zur Farm nehmen und säubern sollen, damit es wieder blank aussieht. Jetzt ist mir das klar. Ich bin kilometerweit gelaufen, um das verfluchte Ding zu suchen, aber ich konnte es einfach nicht finden. Und dann taucht dieser Schafhirte damit auf.«

  »Wen glaubst du also zu schützen?«

  »Ich weiß es nicht.« Paul holte ein zerknülltes Taschentuch hervor und tupfte es auf das schmale Blutrinnsal an seinem Mundwinkel. »Ich habe Ihnen schon gesagt, ich habe nicht gesehen, wer das Messer mitgenommen hat, und ich habe nicht gesehen, wer es benutzt hat.«

  »Dann belassen wir es jetzt dabei.« Banks sah zu Burgess hinüber. »Was glauben Sie?«

  »Ich glaube immer noch, dass er lügt. Vielleicht ist er gar nicht so doof, wie er aussieht. Er versucht ganz raffiniert die Schuld auf seine Kumpels zu schieben.«

  »Da bin ich mir nicht so sicher«, sagte Banks. »Er könnte die Wahrheit sagen. Das Problem ist nur, er hat keinen Beweis, nicht wahr? Ich meine, er könnte uns alles erzählen.«

  »Und von uns erwarten, dass wir es glauben. Sperren wir ihn trotzdem für eine Weile ein. Soll er ein bisschen Däumchen drehen. Wir verhören ihn später noch einmal und gucken, ob er bei seiner Geschichte bleibt.«

  Paul, der mit offenem Mund von einem zum anderen geschaut hatte, ließ einen Schrei los. »Nein! Ich habe Ihnen gesagt, dass es die Wahrheit ist. Was wollen Sie noch von mir?«

  Burgess zuckte mit den Schultern und lehnte sich gegen die Wand. Banks griff nach seinen Zigaretten, aber die Packung war leer. »Tja, ich neige dazu, ihm zu glauben. Auf jeden Fall vorläufig. Bist du sicher, dass du nicht gesehen hast, wer das Messer eingesteckt hat, Paul?«

  »Ja. Es hätte jeder tun können.«

  »Dann haben wir also sieben Verdächtige, habe ich Recht?« Banks zählte sie mit den Fingern ab. »Seth, Rick, Zoe, Mara, Osmond, Tim und Abha. War sonst jemand während der Woche vor der Demo bei euch oben? Jemand, von dem wir noch nicht wissen?«

  »Nein. Und Mara war nicht dabei.«

  »Aber die anderen schon, oder? Zoe auch?«

  Er nickte.

  »Hatte jemand von ihnen einen Grund, Constable Gill zu töten?«, fragte Banks. »Kannte ihn jemand? War jemand schon mal mit ihm aneinander geraten?«

  Paul schüttelte den Kopf. »Vielleicht die Studenten. Ich weiß nicht.«

  »Aber ich glaube nicht, dass du so weit gehen würdest, sie zu schützen, Paul, das glaube ich wirklich nicht. Wurde an diesem Nachmittag über Gill geredet?«

  »Habe ich nicht gehört.«

  »Das klingt alles immer noch nicht sehr wahrscheinlich«, sagte Banks. »Jemand steckt absichtlich das Messer ein und nimmt es mit, so als wüsste derjenige, der es getan hat, dass er einen Mord begehen würde. Vorsätzlich nennt man das.«

  »Ich weiß nicht, worauf Sie hinauswollen.«

  »O doch, ich glaube schon.« Banks lächelte und stand auf. »Ich hole nur eben Zigaretten«, sagte er zu Burgess. »Ich bezweifle, dass wir noch viel mehr aus ihm rauskriegen.«

  »Vielleicht«, stimmte ihm Burgess zu. »Bringen Sie mir eine Dose Thumbs mit?«

  »Klar.«

  »Und liebe Grüße an Glenys.«

  Banks war dankbar für die kalte, frische Luft vor dem Revier. Er blieb einen Moment stehen, atmete tief durch und überquerte dann die Market Street zum Queen's Arms.

  »Eine Schachtel Silk Cut und eine Dose Tom Thumbs, bitte, Cyril«, sagte er.

  »Sind die für Ihren Kumpel?«, wollte Cyril wissen, als er die Zigarren auf den Tresen knallte.

  »Bitte nennen Sie ihn nicht immer meinen Kumpel. Sie bringen mich noch in Verruf.«

  »Tja, meine Glenys ist in letzter Zeit ein bisschen komisch gewesen. Sie lässt sich leicht beeindrucken, wenn Sie wissen, was ich meine, außerdem ist sie dickköpfig. Das hat sie von ihrer verfluchten Mutter. Es sind nur Kleinigkeiten, die man nur als Ehemann bemerkt, aber wenn ich herausfinde, dass Ihr Kumpel dahinter steckt, dann ... Na ja, ich muss es nicht aussprechen, oder, Mr. Banks?«

  »Nicht nötig, Cyril, nein. Nicht nötig. Ich werde ihn von Ihrer Sorge in Kenntnis setzen.«

  »Wenn Sie das bitte tun würden.«

  Draußen fiel Banks auf, dass das Licht in seinem Bürofenster ausgegangen war. Bestimmt hatten sie Boyd nach unten in eine Zelle geschickt und waren einen Kaffee trinken gegangen. Als er die Straße überquerte, hörte er einen Schrei. Er kam von oben, da war er sicher, aber genau lokalisieren konnte er ihn nicht. Verunsichert lief er die Treppen hinauf und öffnete die Tür. Das Büro war dunkel, aber es war nicht leer.

  Als er das Neonlicht anknipste, sah Banks, dass Sergeant Hatchley weggeschickt worden war und nur Boyd und Burgess zurückgeblieben waren. Die Jalousie war vollständig geschlossen und ließ kein Straßenlicht mehr herein, ein Kunststück, das Banks in all der Zeit, die er jetzt in Eastvale war, noch nie zustande gebracht hatte.

  Wimmernd saß Boyd auf dem Stuhl, er war schweißgebadet und rang nach Atem. In panischer Angst schaute er hoch zu Banks. »Er hat das Licht ausgemacht«, sagte er, wobei er die Worte nur mühsam hervorbrachte, »und die Jalousien runtergezogen, das Arschloch.«

  Zornig starrte Banks Burgess an, der wie ein Unschuldsengel zurückblickte. »Ich glaube, er hat die Wahrheit erzählt«, sagte er. »Wenn nicht, dann hat er gerade die überzeugendste Vorstellung seines Lebens gegeben.«

  »Unter Zwang.« Banks warf ihm die Zigarren zu. Burgess fing die Dose geschickt auf, machte sie auf und bot Banks eine Zigarre an. »Feiern Sie mit mir?«

  »Ich ziehe diese vor.« Banks zündete sich eine Silk Cut an.

  »Jetzt kannst du rauchen, wenn du willst, Junge«, sagte Burgess zu Paul. »Obwohl ich bei deinem Atmungsproblem ein bisschen aufpassen würde.«

  Paul zündete sich eine Zigarette an und hustete, bis sein Gesicht rot war. Burgess lachte.

  »Und was jetzt?«, fragte Banks.

  »Wir sperren ihn ein und gehen nach Hause.« Burgess schaute Paul an. »Du wirst eine Menge Zeit haben, um mit dem Seelenklempner des Gefängnisses deine Klaustrophobie zu bequatschen«, sagte er. »Eigentlich tun wir dir ja einen Gefallen. Sagt man nicht, dass man Phobien am besten kuriert, wenn man sich ihnen stellt? Und diese Behandlung ist umsonst. Was kann man mehr verlangen? Für so einen Service müsstest du bei der Krankenkasse Jahre warten.«

  Pauls Kiefer lockerte sich. »Aber ich habe es nicht getan. Sie sagten, dass Sie mir glauben.«

  »So leicht kann man mich nicht überzeugen. Außerdem haben wir da noch Missbrauch von Beweismaterial, Beihilfe zum Mord, Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte. Du wirst dich mit einer ganzen Reihe von Anklagen auseinander setzen müssen.«

  Burgess rief im Erdgeschoss an, zwei Constables kamen herauf und führten Paul in eine Zelle. Diesmal wehrte er sich nicht, er schien zu wissen, dass es keinen Sinn hatte.

  Als sie allein im Büro waren, knöpfte sich Banks Burgess vor. »Wenn Sie noch mal so eine miese Show in meinem Revier abziehen«, sagte er, »dann reiße ich Ihnen den Arsch auf, Scheiß-Superintendent hin oder her.«

  Burgess hielt seinem Blick stand, doch Banks spürte, dass er diese Drohung ernster nahm als die von Rick Trelawney.

  Nachdem sie diese eisigen Blicke ausgetauscht hatten, lächelte Burgess. »Gut«, sagte er, »ich bin froh, dass wir das geklärt haben. Kommen Sie, ich könnte ein Bier um die Ecke bringen.«

  Er legte einen Arm um Banks' Schulter und lotste ihn zur Tür.