* DREIZEHN

 

* I

 

Vielleicht lag es am Frühlingswetter, aber die getoasteten Teacakes des Golden Grill schmeckten Banks an diesem Sonntagmorgen außergewöhnlich gut. Burgess nahm einen mit Erdbeermus gefüllten und mit Puderzucker bestreuten Doughnut, den er in seinen Kaffee tunkte. »Auf den Geschmack bin ich in Amerika gekommen«, erklärte er, als er Banks entsetzten Blick sah. »Dunkin Donuts heißt da ein Laden. Großartig.«

  »Was ist mit Boyd?«, wollte Banks wissen.

  »Ich habe noch mal mit ihm gesprochen. Hat zu nichts geführt. Ich habe ihn heute Morgen laufen lassen, so wie Sie wollten. Jetzt schauen wir mal, was passiert.«

  »Was haben Sie getan? Haben Sie ihn noch mal gefoltert?«

  »Tja, es gibt nicht viele, die bei ihren Lügengeschichten bleiben, wenn sie mit ihrer größten Angst konfrontiert werden. So wie die Dinge jetzt liegen, könnten wir meiner Meinung nach eine Verurteilung von Boyd erreichen, ohne Probleme, aber wir würden wahrscheinlich aus dem Gerichtssaal geschmissen werden, wenn wir einen von den anderen drankriegen wollten - Osmond, zum Beispiel. Ich würde sagen, wenn wir in den nächsten paar Tagen nichts mehr rauskriegen, klagen wir Boyd einfach wegen Mordes an, und ich haue als glücklicher Mann wieder ab.«

  »Was ist mit der Wahrheit?«

  Burgess schenkte Banks einen Blick aus seinen Schlitzaugen. »Wir wissen nicht, dass Boyd es nicht getan hat, oder? Den Burgess-Test mal außen vor gelassen. Der ist ja auch nicht unfehlbar. Auf jeden Fall habe ich langsam die Nase davon voll, dass Sie sich die ganze verdammte Zeit als Moralapostel der Wahrheit aufspielen. Die Wahrheit ist relativ. Sie hängt von der Perspektive ab. Denken Sie daran, wir sind weder Richter noch Geschworene. Die haben nämlich zu entscheiden, wer schuldig ist und wer nicht. Wir legen nur die Beweise vor.«

  »Einverstanden, aber es liegt an uns, eine Anklage einzureichen, die hieb- und stichfest ist. Allein schon deshalb, um vor Gericht nicht wie Vollidioten dazustehen.«

  »Ich glaube, wenn es drauf ankommt, sind unsere Beweise gegen Boyd stichhaltig. Wie gesagt, warten wir noch ein paar Tage ab. Haben Sie noch was Interessantes auf Maggie's Klapsmühle rausgefunden?«

  »Nein.«

  »Diese Studenten sind mir ein Rätsel. Das sind ja noch Scheißkinder, wenn auch ziemlich freche Arschlöcher. Ihre kleinen Köpfe sind voll gestopft mit Marx, Trotzki, Marcuse und dem ganzen Scheiß. Die haben sogar ein Poster von Che Guevara an der Wand. Für mich ist Che Wichser Guevara ein brutaler, mordender, geldgeiler Schläger, der einen auf Jesus gemacht hat. Die meiste Zeit wusste ich überhaupt nicht, wovon die eigentlich rumgelabert haben, echt nicht. Und ich glaube, die hatten selbst keinen Schimmer. Andererseits sind die beiden ein ziemlich harmloses Pärchen. Ich kann mir bei beiden nicht vorstellen, dass sie den Mumm haben, Gill ein Messer zwischen die Rippen zu schieben. Das Mädchen ist allerdings nicht übel. Ein bisschen pummelig um die Hüfte, aber dafür ein Paar herrliche Titten.«

  »Gestern Abend ist in Osmonds Wohnung eingebrochen worden«, sagte Banks.

  »Ach?«

  »Er hat es offiziell nicht gemeldet.«

  »Das sollte er aber. Haben Sie mit ihm gesprochen?«

  »Ja.«

  »Dann hätten Sie eine Meldung machen sollen. Sie kennen die Bestimmungen.« Er grinste. »Außer Sie glauben natürlich, Bestimmungen sollten nur Leute wie ich befolgen und können von Strahlemännern wie Ihnen ignoriert werden.«

  »Hören Sie«, sagte Banks und beugte sich vor, »ich mag Ihre Methoden nicht. Ich mag keine Gewalt. Wenn nötig, dann wende ich sie an, aber es gibt eine Menge subtilerer und effektiverer Wege, um Antworten von den Leuten zu kriegen.« Er lehnte sich wieder zurück und griff nach einer Zigarette. »Davon mal abgesehen, habe ich nie behauptet, ich wäre weniger schonungslos als Sie.«

  Mit dem Mund voll gerade eingetunktem Doughnut prustete Burgess los.

  »Egal«, fuhr Banks fort, »Osmond schien sich einen Dreck um den Einbruch zu scheren. Obwohl das ein bisschen übertrieben ist. Er dachte jedenfalls nicht daran, etwas deswegen zu unternehmen.«

  »Er hat wahrscheinlich Recht. Was haben Sie getan?«

  »Ich habe ihm gesagt, er soll sein Schloss austauschen. Gestohlen wurde nichts.«

  »Nichts?«

  »Nur ein Buch. Die Wohnung wurde durchsucht, aber anscheinend haben sie nicht gefunden, was sie gesucht haben.«

  »Und was war das?«

  »Osmond glaubt, sie könnten hinter ein paar Papieren oder Akten her gewesen sein, die mit seiner Abrüstungskampagne zu tun haben. Er wittert da eine mysteriöse Geschichte. Wie auch immer, er lagert die meisten seiner Akten im Büro der Kampagne, und Tim und Abha haben das Material über die Demo. So wie's aussieht, treffen sie sich heute Nachmittag auf der Farm, um ihre Beschwerdestrategie zu planen. Scheint so, als hätten die Diebe ihre Zeit verschwendet, wer immer es war.«

  »Wen hält er denn für die Täter? Den KGB? Die CIA?«

  Banks lachte. »Irgendwen in der Kategorie, ja. Er hält sich für superwichtig, unser Mr. Osmond.«

  »Er geht mir auf den Sack«, sagte Burgess und stand auf. »Aber ich werde das Arschloch noch mal aufsuchen, bevor ich fertig bin. Jetzt muss ich los und etwas Schreibarbeit aufholen. Die Idioten bei Scotland Yard wollen immer alles gleich doppelt und dreifach.«

  Banks blieb noch mit seinem restlichen Kaffee sitzen und fragte sich, warum so viele Leute aus Amerika zurückkamen, wo Burgess vor ein paar Jahren an einer Konferenz teilgenommen hatte, und seltsame Essgewohnheiten und merkwürdige Redewendungen mitbrachten. Das ging einem wirklich auf den Sack!

  Draußen auf der Marktstraße bummelten Touristen vor den Schaufenstern voll polierter Antiquitäten und gestrickter Wollwaren. Wann immer die Leute auf eine schnelle Tasse Tee hereinkamen, bimmelte die Klingel des Golden Grill.

  Banks hatte sich um ein Uhr im Queen's Arms mit Jenny zum Essen verabredet. Also musste er noch eine Stunde totschlagen. Er trank seinen Kaffee aus und ging hinüber ins Revier. Zuerst musste er Richmonds Hilfe für eine sehr delikate Angelegenheit gewinnen.

 

* II

 

Mara war gerade damit beschäftigt, Rosinenbrötchen für das Treffen am Nachmittag zu backen, als Paul in die Küche kam. Sie hob ihre mit Mehl bedeckten Hände, um zu zeigen, dass sie ihn umarmen würde, wenn sie könnte. Seth schloss ihn sofort in die Arme und drückte ihn. Mara konnte sein Gesicht über Pauls Schulter sehen und bemerkte Tränen in seinen Augen. Rick klopfte ihm auf den Rücken, und Zoe küsste seine Wange. »Ich habe die Karten gelegt«, erzählte sie ihm. »Ich wusste, dass du unschuldig bist und sie dich gehen lassen müssen.« Selbst Julian und Luna wurden von der Aufregung der Erwachsenen mitgerissen. Sie führten einen kleinen Tanz um ihn herum auf und sangen seinen Namen.

  »Setz dich«, sagte Seth. »Erzähl uns, wie es dir ergangen ist.«

  »Hey! Lass mich das erst zu Ende machen.« Mara deutete auf die halb fertigen Brötchen. »Die sind gleich fertig. Und außerdem war es deine Idee.«

  »Wisst ihr was?«, meinte Paul. »Ich könnte eine Tasse Tee vertragen. Die Gefängnispisse war furchtbar.«

  »Ich mache welchen.« Seth griff nach dem Kessel. »Dann gehen wir alle nach vorne.«

  Mara machte mit den Brötchen weiter und bereitete sie für den Ofen vor. Seth setzte den Kessel auf. Die anderen gingen ins Wohnzimmer. Nur Paul blieb nervös hinter Mara stehen.

  »Es tut mir Leid«, sagte er. »Ich habe ...«

  Sie drehte sich um und lächelte ihn an. »Vergiss es. Ich bin einfach nur froh, dass du zurück bist. Ich hätte dir vor allem nicht misstrauen sollen.«

  »Ich war ein bisschen ... tja, ich habe gelogen. Danke, dass du mich trotzdem gewarnt hast. Wenigstens hatte ich eine Chance.«

  Das Wasser im Kessel begann zu kochen, und Seth lief zurück, um Tee zu machen. Mara schob das Blech mit den Brötchen in den Ofen und wusch sich die Hände.

  »Okay«, sagte sie und trocknete sie sich an der Schürze ab. »Ich bin fertig.«

  Im Wohnzimmer schenkte Seth allen Tee ein.

  »Na, dann mal los«, drängte er Paul.

  »Womit denn?«

  »Erzähl uns, was passiert ist.«

  »Wo soll ich anfangen?«

  »Wohin bist du gegangen?«

  Paul zündete sich eine Players an und zupfte Tabakkrümmel von seiner Unterlippe. »Edinburgh«, sagte er. »Ich wollte zu einem alten Kumpel.«

  »Hat er dir geholfen?«, fragte Mara.

  Paul schnaubte. »Einen Scheiß hat er. Das Arschloch hat sich total verändert. Das Haus habe ich ganz leicht gefunden. Es war mal eines dieser miesen alten Mietshäuser, aber jetzt ist es total aufgemotzt. Pflanzenkübel im Treppenhaus und so. Egal, Ray machte die Tür auf und erkannte mich erst mal nicht. Auf jeden Fall hat er so getan. Ich erkannte ihn auch kaum wieder. Einen beschissenen Anzug hat er angehabt. Wir begrüßten uns und dann kam diese Tussi raus. Mit aufgetürmten Haaren und einem schwarzen Kleid, das bis zum Bauchnabel ausgeschnitten war. Sie hielt so ein langstieliges Weinglas mit Weißwein in der Hand, nur zur Show. >Wer ist das, Raymond?<, fragte sie, völlig affektiert. Da bin ich wieder die Treppen runter.«

  »Du bist nicht geblieben?«, meinte Mara.

  »Machst du Witze?«

  »Heißt das, dein alter Freund wollte dich nicht reinlassen?«

  »Der gute Raymond hat sich etabliert. Sah so aus, als hätte er gerade seinen Boss und dessen Frau eingeladen. Er ist jetzt in die Computerbranche eingestiegen und hat keinen Bock auf Leute, die ihn an seine Vergangenheit erinnern. Früher war er mal ein echt wilder Typ, aber ... Egal, ich bin gegangen. Wenn ich lange genug gedrängelt hätte, hätte er mich vielleicht reingelassen und mich in einen Schrank oder so gesteckt, damit mich keiner sieht. Aber das wollte ich nicht.«

  »Wohin bist du dann gegangen?«, wollte Seth wissen.

  »Eine Weile lang bin ich einfach rumgelaufen, bis ich einen Pub gefunden habe.«

  »Du bist doch nicht die ganze Nacht durch die Straßen gelaufen, oder?«, fragte Mara.

  »Und ob! Es war saukalt da oben. Wir reden hier über Scheiß-Schottland. Am nächsten Morgen habe ich mir als Erstes einen Dufflecoat gekauft, nur damit ich mich nicht zu Tode friere.«

  »Was hast du getan, nachdem du den Pub verlassen hast?«

  »Ich habe dort so einen Kerl kennen gelernt«, sagte Paul und wurde rot. »Er sagte, ich könnte mit zu ihm kommen. Hey, ich weiß, was ihr denkt. Ich bin kein Scheiß-Schwuler. Aber wenn man auf der Straße ist und irgendwie versucht, sich durchzuschlagen, dann tut man, was man muss, oder? Es war auf jeden Fall ein ganz netter Kerl und er hat mir keine blöden Fragen gestellt. Außerdem war er vorsichtig, wenn ihr wisst, was ich meine.

  Am nächsten Tag wollte ich nach Glasgow zu einem anderen alten Kumpel, aber dann dachte ich, scheiß drauf, am besten fahre ich direkt nach Irland. Ich habe Kumpels dort und ich glaube nicht, dass die sich verändert haben. Wenn ich bis Belfast gekommen wäre, hätte mich niemand gefunden.«

  »Was ist denn schief gelaufen?«, wollte Seth wissen.

  Paul lachte bitter auf. »Der verfluchte Fährhafen. Ich bin an so einen Kiosk gegangen und habe Kippen gekauft. Als ich weitergehe, ruft der Kerl hinter mir her. Ich kann kein Wort verstehen, wahrscheinlich wegen des schottischen Akzents, aber ein Bulle hat uns gesehen und starrt mich an. Ich werde nervös und haue ab, und das Arschloch schnappt mich.«

  »Hat dich der Kioskbesitzer erkannt?«, fragte Mara. »Dein Bild war ja in den Zeitungen.«

  »Nee. Ich hatte ihm nur zu viel Geld gegeben, das war alles. Er hat gerufen, weil er mir mein Scheiß-Wechselgeld geben wollte.« Paul lachte und die anderen lachten mit ihm. »In dem Moment war das gar nicht so komisch«, fügte er hinzu.

  »Was hat die Polizei gemacht?«, fragte Rick.

  »Sie haben mich als Komplizen angeklagt. Ich muss vor Gericht.«

  »Und dann?«, fragte Mara.

  Paul zuckte mit den Achseln. »Bei meiner Vorstrafe muss ich wohl wieder in den Knast. Der Bulle mit der Narbe scheint zu glauben, dass ich bei wohlwollenden Geschworenen so davonkommen könnte. Na ja, manchmal respektiert man Leute, die zu ihren Kumpels halten, oder? Er meint, er könnte die Anklage vielleicht auf Falschaussage und Widerstand gegen die Staatsgewalt runterschrauben. Dann würde ich maximal nur sechs Monate kriegen. Aber der andere Kerl hat mir gesagt, dass ich mit zehn Jahren rechnen muss. Wem glaubt ihr?«

  »Wenn du Glück hast«, sagte Mara, »ist Burgess bis dahin schon weg, und Banks ist nicht so hart zu dir.«

  »Was ist los mit dem? Ist er ein Weichei oder was?«

  Seth schüttelte den Kopf. »Irgendwie glaube ich nicht daran. Er hat nur eine andere Technik.«

  »Wenn es drauf ankommt, sind alle Bullen Arschlöcher«, meinte Rick.

  Paul stimmte ihm zu. »Und was war hier los?«, fragte er.

  Seth erzählte ihm von den Polizeibesuchen. »Ansonsten ist nicht viel los. Die meiste Zeit haben wir uns alle Sorgen um dich gemacht.« Er zerzauste Pauls Haar. »Ich bin froh, dass du zurück bist, Junge. Nette neue Frisur übrigens.«

  Paul errötete. »Ach, verpiss dich! Also, es hat sich nichts verändert, oder?«

  »Was meinst du?«, fragte Mara.

  »Na, sie haben ihren Mörder immer noch nicht und sie hören nicht auf, bis sie ihn haben. Und wenn sie keinen anderen kriegen, bleibe ich die erste Wahl. Das hat dieses Arschloch von Burgess mir ziemlich klar gemacht.«

  »Mach dir keine Sorgen deswegen«, sagte Seth. »Wir werden nicht zulassen, dass sie dich zur Verantwortung ziehen.«

  Paul schaute auf seine Uhr. »Der Pub macht gleich auf«, sagte er. »Ich könnte ein Bier und etwas Futter vertragen.«

  »Wir müssen heute sowieso auswärts essen«, sagte Mara. »Ich habe kein Mittagessen gemacht. Was ist mit dem Treffen und ...«

  »Welches Treffen?«, fragte Paul.

  »Wir treffen uns heute Nachmittag, um über die Demo zu sprechen«, sagte Rick. »Dennis kommt mit Tim und Abha so um drei vorbei. Wir wollen uns die Aussagen ansehen, um die Brutalität der Polizei zu beweisen.«

  »Ohne mich«, sagte Paul. »Ich habe genug von dieser verdammten Demo und diesen beschissenen Weltverbesserern. Alles Ärsche.«

  »Du musst ja nicht dabei sein«, meinte Mara. »Wenn du nicht willst.«

  »Ich glaube, ich mache einen Spaziergang«, sagte Paul und regte sich wieder ab. »In dieser Zelle eingepfercht zu sein, hat mir nicht gerade gut getan.«

  »Und ich muss arbeiten«, sagte Seth. »Ich muss heute endlich diesen Sekretär fertig machen. Er hätte längst fertig sein sollen.«

  »Was ist denn hier los?«, meinte Rick. »Bleibt alles an uns hängen?«

  »Ich bin ja am Anfang noch dabei, keine Sorge«, sagte Seth. »Aber dann muss ich arbeiten. Außerdem hat Paul Recht. Im Black Sheep gibt es ein gutes Sonntagsessen, und ich verhungere gleich.«

  Seth legte einen Arm um Paul. Die anderen standen auf und holten ihre Mäntel. Dann gingen die sieben in der frischen Frühlingsluft den Pfad hinunter nach Relton, zum letzten Mal glücklich vereint.

  Nur Mara war nicht glücklich. Den anderen fiel es wohl auch auf, dachte sie, aber niemand sagte etwas. Wenn Paul nicht schuldig war, dann war es ein anderer von ihnen.

 

* III

 

Jenny wartete bereits, als Banks mittags ins Queen's Arms kam. Hungrig bestellte er bei Cyril ein paar Scheiben gebratener Lammkeule. Glenys war nicht da, und Cyril schien, auch wenn er nichts sagte, besorgt zu sein.

  »Also«, sagte Jenny, stützte die Ellbogen auf den Tisch und legte das Kinn in die Hände, »was gibt's Neues? Dennis hat mir erzählt, dass du vorbeigekommen bist. Danke.«

  »Er hat mir nicht gedankt.«

  Jenny lächelte. »Nun, das passt auch nicht zu ihm, oder?«

  »Du hast mir vor allem nicht gesagt, dass du ihn erst dazu überredet hast, mit mir zu sprechen.«

  Die Lachfältchen an ihren Augen zeigten sich. »Habe ich das nicht? Tut mir Leid. Aber hast du etwas herausgefunden?«

  »Eigentlich nicht.«

  »Was bedeutet das?«

  »Das bedeutet nein, schätze ich. Ist dir in der Nähe von Osmonds Wohnung jemals ein blauer Escort mit zwei kräftigen Männern drin aufgefallen?«

  »Nein. Hast du denn gar keine Idee, Alan?«

  »Na ja, vielleicht. Sie scheint ein bisschen weit hergeholt, aber wenn ich Recht habe ...«

  »Womit?«

  »Es ist nur so eine Idee, mehr nicht.«

  »Erzählst du sie mir?«

  »Lieber nicht. Warten wir besser ab. Richmond arbeitet daran.«

  »Wann weißt du Bescheid?«

  »Morgen, hoffe ich.«

  Das Essen wurde serviert. »Ich sterbe vor Hunger«, sagte Jenny, und beide aßen schweigend.

  Als sie fertig waren, holte Banks eine neue Runde Getränke und zündete sich eine Zigarette an. Dann erklärte er seine Zweifel an Paul Boyds Schuld.

  »Bist du dem wirklichen Mörder denn auf den Fersen?«, fragte Jenny.

  »Sieht nicht so aus. Mit Boyd waren wir der Sache bisher am nächsten.«

  »Dass Dennis ein Mörder ist, kann ich nicht glauben.«

  »Ist das deine berufliche Meinung?«

  »Nein. Meine Meinung als Frau.«

  »Ich glaube, ich würde der Meinung mehr vertrauen, wenn sie beruflich bedingt wäre.«

  Jenny wölbte ihre Augenbrauen. »Was willst du damit sagen?«

  »Werde nicht wütend, das steht dir nicht. Ich will sagen, dass die Menschen - Männer wie Frauen - dazu neigen, diejenigen besonders zu schützen, zu denen sie eine Beziehung haben. Das ist ganz natürlich, und du weißt es genauso gut wie ich. Und nicht nur das, manchmal haben sie bewusst Scheuklappen oder lügen sogar, wenn es um ihre Nächsten geht. Schau, was Boyd getan hat. Wenn er den Mord wirklich nicht begangen hat, dann hat er verteufelt viel riskiert. Und erinnere dich daran, wie sich Mara verhalten hat. Egal, von welcher Seite man die Sache jetzt betrachtet, alles läuft auf Seth, Rick oder Zoe hinaus. Und Mara, Tim, Abha und dein Dennis kommen gleich danach.«

  »Na gut. Meine berufliche Meinung ist, dass Dennis es nicht getan hat.«

  »Aber was weißt du überhaupt von ihm?«

  »Wie meinst du das?«

  »Vergiss es.«

  »Was? Komm schon. Heraus damit. Wenn ich etwas wissen sollte, dann sag es mir.«

  Banks holte tief Luft. »Würdest du sagen, dass Osmond jemand ist, der Frauen schlägt?«

  »Was?«

  Stockend erzählte er ihr von Ellen Ventner. Je mehr er sagte, desto bleicher wurde sie. Selbst beim Reden war sich Banks seiner Beweggründe nicht sicher. Erzählte er es ihr, weil er sich Sorgen wegen ihres Umgangs mit Osmond machte, oder tat er es aus purer Eifersucht?

  »Das glaube ich nicht«, wisperte sie.

  »Glaube es. Es stimmt.«

  »Warum erzählst du mir das?«

  »Ich wollte es dir nicht erzählen. Du hast mich dazu gedrängt.«

  »Du hast mich dazu veranlasst, dich zu drängen. Du musst gewusst haben, wie furchtbar demütigend das für mich ist.«

  Banks zuckte mit den Achseln. Er konnte spüren, wie sich ihre Wut allmählich gegen ihn richtete. »Es tut mir Leid, das war nicht meine Absicht. Er könnte gefährlich sein, Jenny. Ich weiß nicht, wie das bei dir ist, aber ich habe Probleme, Menschen zu verstehen, die in der Öffentlichkeit schutzlose Frauen vor der Brutalität der Polizei retten und sie im Privaten verprügeln.«

  »Du hast gesagt, es ist nur einmal passiert. Es besteht kein Grund, gleich ein Monster aus ihm zu machen. Was erwartest du jetzt von mir? Soll ich mit ihm Schluss machen, nur weil er einen Fehler gemacht hat?«

  »Ich erwarte von dir, dass du vorsichtig bist, mehr nicht. Osmond hat einmal eine Frau geschlagen und sie ins Krankenhaus gebracht. Außerdem ist er ein Verdächtiger in einer Mordermittlung. Obendrein scheint er zu glauben, dass die CIA oder der KGB hinter ihm her sind. Ich würde sagen, das rechtfertigt ein bisschen Vorsicht, oder nicht?«

  Jennys Augen funkelten. »Du hast Dennis von Anfang an nicht gemocht, stimmt's? Du hast ihm nicht einmal eine Chance gegeben. Und kaum, dass du ein bisschen Dreck über ihn herausfindest, wirfst du ihn mir vor die Füße. Was zum Teufel willst du nur damit erreichen, Alan? Du bist nicht mein Aufpasser. Ich kann auf mich selbst aufpassen. Ich brauche keinen großen Bruder, der mich beschützt.«

  Sie nahm ihren Mantel, stieß ihr Glas beim Aufstehen um und rauschte aus dem Pub. Jeder drehte sich um und starrte die beiden an. Banks spürte, wie er rot wurde. Gut gemacht, Alan, sagte er zu sich, das hast du ja wirklich großartig hingekriegt.

  Er folgte ihr nach draußen, aber sie war nirgendwo mehr zu sehen. Fluchend ging er zurück in sein Büro und versuchte, sich mit Arbeit abzulenken.

  Nach ein paar Fehlversuchen erhielt er schließlich eine Verbindung mit Ricks Schwägerin in ihrer Wohnung in Camden Town. Sie war ausweichend, und Banks musste ihr erst versichern, dass sein Anruf nichts mit dem Vormundschaftskampf zu tun hatte. Selbst danach klang sie nicht so, als würde sie ihm glauben.

  »Ich benötige nur ein paar Informationen über Ricks Frau, das ist alles«, sagte er. »Kamen Sie immer gut mit Ihrer Schwester aus?«

  »Ja«, antwortete sie. »Unser Altersunterschied ist nicht groß, deshalb haben wir uns immer unterstützt, selbst nachdem sie Rick geheiratet hat. Übrigens möchte ich nicht den Eindruck erwecken, ich hätte irgendwas gegen ihn. Er ist durch und durch egoistisch, aber das sind die meisten Männer. Künstler umso mehr. Und ich bin mir sicher, dass er ein guter Vater ist. Als sie sich getrennt haben, war Pam sicherlich unfähig, sich um Julian zu kümmern.«

  »Und jetzt?«

  »Sie kommt voran. Aber der Weg aus dem Alkoholismus ist weit.«

  »Hatte Pam jemals Bekannte im Norden?«

  »Im Norden? Guter Gott, nein. Ich glaube, sie war nie weiter nördlich als Hendon.«

  »Nicht mal für einen Besuch?«

  »Nein. Was kann man dort auch schon besuchen? Da gibt es doch nur Kanäle und Schlackenhalden, oder?«

  »Also hat sie den größten Teil ihres Lebens entweder in London oder Cornwall verbracht?«

  »Genau. Vor einigen Jahren waren sie für ein paar Monate in Frankreich. Die meisten Maler werden auf kurz oder lang von Frankreich angezogen. Aber das war's auch schon.«

  »Haben Sie jemals gehört, dass sie einen Polizisten namens Gill erwähnt hat, PC Edwin Gill, Nummer 1139?«

  »Ich habe sie überhaupt nie einen Polizisten erwähnen hören. Halt, da lüge ich! Sie sagte, der Dorfpub in Cornwall blieb die ganze Nacht auf, wenn der Bobby da war. Aber ich glaube nicht, dass das Ihr PC Gill war.«

  »Nein«, sagte Banks, »allerdings nicht. Hat sie jemals an politischen Demonstrationen teilgenommen? In Greenham oder beim Marsch von Aldermaston oder so was?«

  »Pam ist nie besonders politisch gewesen. Klugerweise, wenn Sie mich fragen. Worum geht es dabei? Man kann dem einen Haufen genauso wenig vertrauen wie dem anderen. Ist das alles, Chief Inspector?«

  »Ist sie eigentlich da? Kann ich mit ihr sprechen?«

  Es folgte eine kurze Pause, in der Banks am anderen Ende der Leitung gedämpfte Geräusche vernahm. Schließlich konnte er hören, wie der Hörer die Hände wechselte. Die neue Stimme war rau und matt und klang wie unter Drogen oder krank.

  »Ja?«

  Banks stellte ihr dieselben Fragen, die er ihrer Schwester gestellt hatte, und erhielt auch dieselben Antworten. Sie sprach zögernd und machte zwischen den einzelnen Sätzen lange Pausen.

  »Ist die Polizei in diesen Kampf um die Vormundschaft verwickelt?«, fragte Banks.

  »Oh, nein«, entgegnete sie. »Nur ... Sie wissen schon ... Anwälte.«

  Logisch, dachte Banks. »Und Sie haben nie von Constable Gill gehört?«

  »Nie.«

  »Hat Ihre Schwester kürzlich Yorkshire besucht?« Banks stellte die Frage in dem Moment, in dem sie ihm einfiel. Schließlich hätte die Schwester sich irgendwie einmischen können.

  »Nein. Sie war hier ... hat sich um mich gekümmert. Kann ich jetzt auflegen? Ich muss ... Ich weiß nichts.«

  »Ja«, sagte Banks. »Das war alles. Danke, dass Sie sich Zeit genommen haben.«

  Er legte auf und machte sich Notizen von dem Gespräch, solange es noch frisch im Kopf war. Was ihm seltsam vorkam, war, dass keine der beiden Frauen sich nach Julian erkundigt hatte und wissen wollte, wie es ihm ging. Warum, fragte er sich, wollte Ricks Frau die Vormundschaft, wenn sie sich nicht mal so sehr um das Kind sorgte? Boshaftigkeit? Rache? Julian war wahrscheinlich besser dort aufgehoben, wo er jetzt war.

  Als Nächstes rief er die Polizei in Hebden Bridge an und ließ sich mit Constable Brooks verbinden.

  »Tut mir Leid, dass ich Sie noch mal störe, Constable«, sagte er. »Ich hätte Sie das alles wahrscheinlich schon früher fragen sollen, aber hier ist einfach zu viel los. Können Sie mir etwas über Alison Cotton erzählen, die Frau, die bei dem Autounfall getötet wurde?«

  »Ich kann mich ganz genau an sie erinnern, Sir«, sagte Brooks. »Es war mein erster Unfall und ich ... tja ... ich, äh ...«

  »Ich weiß, was Sie meinen. Das geht uns allen so. Kannten Sie sie schon vor dem Unfall?«

  »O ja. Sie war schon ein paar Jahre hier, seit diese Künstlertypen uns entdeckt haben, könnte man sagen.«

  »Und Alison war so ein Künstlertyp?«

  »Genau. Sie hat bei der Organisation von Festivals, Lesungen und solchen Sachen mitgeholfen. Sie leitete die Buchhandlung. Ich schätze, das wissen Sie bereits.«

  »Was für ein Mensch war sie?«

  »Sie war ein recht temperamentvolles Mädchen. Außerdem war sie richtig schön. Sie hat geschrieben. Sie wissen schon, Gedichte, Geschichten, so'n Kram. Ich habe mal versucht, einen Text von ihr in der Lokalzeitung zu lesen, aber ich wurde nicht schlau daraus. >Miami Vice< oder >Denver Clan< sind eher mein Ding.«

  »War sie jemals in politische Angelegenheiten verwickelt - Märsche, Demos oder so etwas?«

  »Tja«, sagte Brooks, »bei uns war nie viel los in dieser Richtung. Ein paar Sachen, aber nicht viel. Hauptsächlich >Rettet die Wale< und >Atomkraft? Nein danke!<. Ich weiß nicht, inwieweit sie darin verwickelt war, aber manchmal hat sie für die Zeitung darüber geschrieben, dass man Tiere nicht wegen ihres Fells töten oder Labormäuse nicht fünfhundert Kippen am Tag rauchen lassen darf. Und über diese Frauen vor dieser Raketenbasis.«

  »Die Sache in Greenham?«

  »Genau. Wenn es drauf ankam, nehme ich an, war sie wohl wie die anderen. Wenn ein Zug vorbeigefahren kommt, springen alle mit drauf.«

  »Jemals von einem PC Gill, 1139, aus Scarborough gehört?«

  »Nur das, was ich in den Zeitungen gelesen habe, Sir. Ich hoffe, Sie schnappen das Schwein, das es getan hat.«

  »Das hoffe ich auch. Wie sieht es mit Elizabeth Dale aus, einer Freundin der Cottons? Mal von ihr gehört?«

  »O ja. Liz Dale hing die ganze Zeit mit den Cottons zusammen. Dicke Freunde. Mir persönlich tat es Leid um sie. Ich meine, wenn man das Zeug immerzu braucht, ist das irgendwie eine Krankheit, oder?«

  »War sie aktenkundig als Abhängige?«

  »Ja. Aber sie hat uns nie Probleme gemacht. Wir haben die Drogentypen nur im Auge behalten, mehr nicht, damit sie nicht die Hälfte von dem, was sie auf Rezept kriegen, verkaufen.«

  »Was war sie für ein Mensch?«

  »Launisch«, sagte Brooks. »Sie kam von den Drogen los, aber danach war sie nie wieder ganz normal. Einen Tag war sie oben, den nächsten unten. Wie ein Jo-Jo. Aber sie war ein Mädchen mit festen politischen Überzeugungen.«

  »Liz Dale war politisch aktiv?«

  »Ja. Zumindest eine Weile lang. Bis die Sache für sie gegessen war. Wie gesagt, die sind alle auf den fahrenden Zug gesprungen.«

  »Aber sie war stärker interessiert als die anderen?«

  »Würde ich sagen, ja. Also Seth war immer nur teilweise interessiert. Der hat lieber an einem Stück Holz rumgewerkelt. Und Alison, wie gesagt, tja, sie besaß eine Menge Energie und sie musste irgendwo hin damit. Aber sie war mehr der private, künstlerische Typ. Doch Liz Dale mischte damals voll mit.«

  »Standen sich Liz Dale und Alison Cotton besonders nahe?«

  »Wie Schwestern.«

  Banks dachte an die Beschwerde, die Liz Dale gegen Constable Gill eingelegt hatte. Dadurch wusste er bereits, dass sie wenigstens an einer Demonstration teilgenommen hatte und ihm über den Weg gelaufen war. Vielleicht hatte es noch andere Gelegenheiten gegeben. Alison Cotton könnte sie begleitet haben. Vielleicht war das die Verbindung, die er suchte. Aber was brachte sie ihm? Alison war tot; Reginald Lee hatte sie überfahren, ein Unfall. Es fügte sich immer noch nicht zusammen, es sei denn, sie logen alle und Liz Dale war auf Maggie's Farm und auf der Demonstration in Eastvale gewesen. Banks kannte sie nicht, aber wenn sie drogenabhängig gewesen war, bestand die Möglichkeit, dass sie auch mal durchdrehen könnte.

  »Vielen Dank«, sagte Banks. »Sie waren mir eine große Hilfe.«

  »Wirklich? Na dann ...«

  »Nur noch eine Sache. Wissen Sie, wo Liz Dale wohnt?«

  »Tut mir Leid, da muss ich Sie enttäuschen, Sir. Sie ist vor ein paar Jahren von hier weggezogen. Ich habe überhaupt keine Ahnung.«

  »Macht nichts. Trotzdem danke.«

  Banks beendete das Gespräch und ging hinüber zum Fenster. Auf der gegenüberliegenden Seite des Platzes, genau vor der National Westminster Bank, war ein rostiger, blauer Mini hinten auf einen BMW geknallt, und die beiden Fahrer stritten miteinander. Automatisch rief Banks im Erdgeschoss an und bat Sergeant Rowe, jemanden hinüberzuschicken. Dann zündete er sich eine Zigarette an und begann nachzudenken.

  Er musste auf jeden Fall mehr über Liz Dale erfahren. Wenn er beweisen könnte, dass sie zur Zeit der Demo in der Gegend gewesen war, dann hatte er noch jemand anderen mit einem Motiv, Gill zu schaden. Liz Dale könnte problemlos einen Tag vorher in jener Woche die Farm besucht und das Messer genommen haben. Mara sagte, in der Regel verschwendete niemand irgendeinen Gedanken an das Messer. Wenn sie von niemandem gesehen worden war, dann war sie vielleicht in das Haus gegangen und hatte es eingesteckt, als gerade alle unterwegs waren. Aber war sie überhaupt bei der Demo? Und warum sollte sie Seths Messer benutzen?

  Hatte sie ein anderes Motiv als Rache? Es lag auf der Hand, dass diese Fragen am besten geklärt werden könnten, wenn man Liz Dale selbst ausfindig machte. Das dürfte sich als nicht besonders schwierig erweisen.

  Als sich Constable Craig auf dem Marktplatz den beiden Autofahrern näherte, ging Banks hinüber zu seinem Aktenschrank.

 

* IV

 

Mara stand mit Rick und Zoe unter dem Vordach und winkte zum Abschied Dennis Osmond und den anderen hinterher. Im Westen verdunkelte sich der Himmel, die Glut der Abenddämmerung, die sie so sehr liebte, verzauberte das Tal und breitete sich wie ein Mantel der Stille über der Landschaft aus. Am Himmel zogen Vogelschwärme vorüber, und in den Häusern unten in Relton und auf der anderen Talseite in Lyndgarth gingen auf einen Schlag die Lichter an.

  »Was denkst du?«, fragte sie Rick, als sie wieder hineingingen. Der Abend war kühl. Sie rieb sich die Arme, zog dann einen Pullover an und setzte sich auf den Schaukelstuhl.

  Ricks Gelenke krachten, als er sich vor den Kamin kniete, um das Feuer anzuzünden. »Ich glaube, es wird hinhauen«, sagte er. »Wir müssen die Zeitungen auf uns aufmerksam machen, vielleicht sogar das Fernsehen. Die Polizei wird wahrscheinlich versuchen, uns in Misskredit zu bringen, aber die Leute werden kapieren, worum es geht.«

  Mara drehte eine Zigarette. »Ich bin froh, wenn alles vorbei ist«, sagte sie. »Die ganze Sache hat uns nichts als Ärger eingehandelt.«

  »Sieh's mal positiv«, sagte Rick und drehte sich um, damit er sie anschauen konnte. »Es ist ein Schlag gegen die Polizei und ihre stümperhafte Vorgehensweise. Selbst diese Frau von der Friedensgruppe der Kirche beschimpft sie jetzt schon als Schweine.«

  »Trotzdem«, sagte Mara bestimmt, »für uns alle wäre es besser gewesen, wenn nichts von alledem passiert wäre.«

  »Jetzt ist ja alles in Ordnung«, sagte Zoe. »Paul ist zurück und wir sind wieder alle zusammen.«

  »Ich weiß, aber ...«

  Mara kam nicht gegen ihre innere Unruhe an. Es stimmte, Pauls Rückkehr hatte sie alle unendlich aufgemuntert, besonders Seth, der die ganze Zeit, seit Paul verschwunden war, mit einer Jammermiene herumgelaufen war. Aber es bedeutete keineswegs das Ende. Die Polizei würde nicht ruhen, bis sie jemanden wegen des Mordes verhaftet hatte, und sie hatten die Farm im Visier. Paul könnte immer noch als Mitschuldiger im Gefängnis landen, was eine schwer wiegende Anklage war, wie Mara nun begriff. Sie fragte sich, ob Banks auch sie anklagen würde. Er war nicht dumm; er musste wissen, dass sie Paul gewarnt hatte, als Crocker das Messer gefunden hatte. Alles war ins Wanken geraten. Es bestand die Möglichkeit, alles zu verlieren, ihren Seelenfrieden und die Ausgeglichenheit, nach der sie so lange gesucht hatte. Und auch die Kinder. Daran durfte man gar nicht denken.

  »Lass den Kopf nicht hängen!« Rick kroch auf allen vieren zu ihr und schob ihr Kinn hoch. »Lass uns eine Party machen, um Pauls Entlassung zu feiern! Wir laden jeden ein, den wir kennen, und bringen mal wieder Musik und Lachen ins Haus, was meinst du?«

  Mara lächelte. »Vielleicht hast du Recht.«

  »Wo ist Paul überhaupt?«, wollte Zoe wissen.

  »Er ist in der Heide spazieren«, sagte Mara. »Ich nehme an, er genießt einfach nur seine Freiheit.« Fast hätte sie hinzugefügt, »solange er sie noch hat«, aber sie sagte sich, dass Rick Recht hatte. Sie sollte wenigstens versuchen, sich zu amüsieren, solange alles gut ging.

  »Seth wollte heute Nachmittag auch nicht viel mit uns zu tun haben«, klagte Rick.

  »Sag doch nicht so was«, meinte Mara. »Er ist mit seiner Arbeit in Verzug geraten. Die Sache mit der Polizei hat auch ihm zu schaffen gemacht. Hast du nicht gemerkt, wie bedrückt er war? Und du weißt, was für ein Perfektionist er ist und wie gewissenhaft er Termine einhält. Nein, ich glaube, er ist sehr erleichtert, dass Paul zurück ist. Er hat von den Nachwirkungen dieser verfluchten Demonstration genauso die Nase voll wie ich.«

  »Wir müssen uns bemühen und etwas Gutes daraus machen«, behauptete Rick und legte Kohlen auf das aufgeschichtete Zeitungspapier und die Holzspäne. »Verstehst du das nicht?«

  »Doch. Ich glaube nur, dass wir uns alle ein wenig davon erholen müssen, das ist alles.«

  »Der Kampf geht weiter. Erholung gibt es nicht.« Rick zündete das Feuer an verschiedenen Stellen an und stellte ein Stück Sperrholz davor, um es zu trocknen. Hinter dem Brett prasselten die Flammen hoch wie ein Wirbelwind. An den Rändern konnte es Mara rot züngeln sehen.

  »Sei vorsichtig«, sagte sie. »Du weißt, wie wild es bei dem Wind hier oben brennt.«

  »Ernsthaft«, sagte Rick und behielt das Sperrholzschild im Auge, »wir können jetzt nicht aufhören. Ich kann deine fehlende Begeisterung verstehen, aber du musst einfach mal alles abschütteln. Seth und Paul auch. Man erreicht gegen die Unterdrücker überhaupt nichts, wenn man alles hinschmeißt, weil man die Nase voll hat.«

  »Manchmal frage ich mich, ob man überhaupt jemals etwas erreicht«, murmelte Mara.

  Ihr war bewusst, dass sie sich jetzt, da sie mit Maggie's Farm ihre Heimat gefunden hatte, weniger Sorgen um die Leiden der Welt machte. Sie war nicht uninteressiert geworden und wäre immer noch ziemlich glücklich damit gewesen, Aufrufe für Amnesty International zu schreiben oder Petitionen zu unterzeichnen, aber die Teilnahme an Kundgebungen, Versammlungen und Demonstrationen war nicht ihr Lebensinhalt. Verglichen mit der Farm, den Kindern und ihrer Töpferei erschien ihr das alles weit entfernt und zwecklos. Die Menschen würden nie damit aufhören, grausam miteinander umzugehen. Aber hier gab es einen Ort, der ihr Platz für Liebe ließ. Warum sollte er durch die verkommene Welt der Politik und Gewalt verpestet werden?

  »Woran denkst du?«

  »Was? Oh, entschuldige, Zoe. Ich habe nur geträumt.«

  »Träume sind in Ordnung.«

  »Solange man nicht erwartet, dass sie ohne harte Arbeit wahr werden«, fügte Rick hinzu.

  »Ach, sei still!«, sagte Mara. »Komm doch einfach mal zur Ruhe, Rick. Tun wir wenigstens für ein paar Stunden so, als wäre alles in Ordnung.«

  Ricks Kinnlade klappte herunter. »Habe ich das nicht von Anfang an gesagt?« Dann schüttelte er den Kopf und brummte etwas Abfälliges über Frauen. Mara hatte keine Lust, sich ihn deshalb vorzuknöpfen.

  In dem Augenblick flog die Küchentür auf und Paul stand da, kreideweiß und zitternd. Mara sprang auf. »Paul! Was ist? Was ist los?«

  Zuerst konnte er nicht sprechen. Er lehnte nur gegen den Türpfosten und versuchte, Worte hervorzupressen. Mittlerweile stand Rick neben ihm, und Zoe hatte seine Hand genommen.

  »Was ist denn, Paul?«, fragte sie ihn sanft. »Hol erst mal tief Luft. Und dann erzähl es uns.«

  Paul folgte ihrem Rat, machte ein paar Schritte und ließ sich auf die Kissen fallen. »Es geht um Seth«, sagte er schließlich und zeigte hinaus zum Garten. »Ich glaube, er ist tot.«