* NEUN

 

* I

 

Der bewölkte Himmel schien Banks' hämmernde Kopfschmerzen noch zu verstärken, als er sich am nächsten Vormittag um halb zwölf auf den Weg zu Maggie's Farm machte. Burgess hatte eine Weile vorher angerufen, um zu sagen, dass er im Hotelzimmer etwas Schreibarbeit erledigen und nicht gestört werden wollte, es sei denn, Boyd tauchte auf. Das passte Banks gut, er wollte mit Mara Delacey sprechen, und je weniger Dirty Dick davon wusste, desto besser.

  Er stellte den Wagen vor dem Bauernhaus ab und klopfte. Es überraschte ihn nicht, als Mara die Tür öffnete und »Nicht schon wieder!« stöhnte.

  Widerwillig ließ sie ihn herein. Sonst war niemand in der Wohnung. Wahrscheinlich arbeiteten die anderen.

  Banks wollte Mara aus dem Haus kriegen, auf neutralen Boden. Er hoffte, dass sie dann vielleicht etwas gesprächiger wurde.

  »Ich möchte nur gerne mit Ihnen reden, mehr nicht«, sagte er. »Das ist kein Verhör, nichts Offizielles.«

  Sie sah verblüfft aus. »Bitte.«

  Banks tippte auf seine Uhr. »Es ist fast Mittagszeit und ich habe noch nichts gegessen«, sagte er locker. »Hätten Sie Lust auf einen Abstecher runter ins Black Sheep?«

  »Wozu? Ist das ein raffinierter Versuch, mich aufs Revier zu kriegen?«

  »Keine Tricks. Ehrenwort. Was ich zu sagen habe, könnte auch für Sie von Nutzen sein.«

  Sie betrachtete ihn immer noch misstrauisch, aber der Köder war zu verlockend, um abzulehnen. »In Ordnung.« Sie nahm einen Anorak und zog ihn über Pullover und Jeans. »Ich gehe heute Nachmittag sowieso in den Laden.« Sie strich ihr dichtes, walnussfarbenes Haar zurück und band es zu einem Pferdeschwanz.

  Im Wagen beugte sich Mara nach vorn und untersuchte die Kassetten, die Banks in dem Gestell aufbewahrte, das ihm Brian zu seinem Geburtstag im vergangenen Mai geschenkt hatte, seinem achtunddreißigsten. Dort befanden sich neben Zemlinskys Der Zwerg, Mozarts Zauberflöte, Dowlands Lachrymae und Purcells Airs Kassetten von Lightning Hopkins, Billie Holiday, Muddy Waters, Robert Wilkins und eine Reihe von Bluessamplern.

  Mara nahm die Billie-Holliday-Kassette und brachte ein dünnes Lächeln zustande. »Ein Polizist, der Blues mag, kann kein so schlechter Kerl sein«, sagte sie.

  Banks lachte. »Ich mag so ziemlich jede Musik«, sagte er, »außer Country & Western und Schnulzen - Sie wissen schon, Frank Sinatra, Engelbert Humperdinck und Konsorten.«

  »Sogar Rockmusik?«

  »Sogar Rockmusik. Auf jeden Fall einiges davon. Ich muss zugeben, was das anbelangt, bin ich in den sechziger Jahren stehen geblieben. Nachdem sich die Beatles aufgelöst haben, habe ich das Interesse verloren. Aber ich weiß immerhin, woher der Name Ihres Hofes kommt.«

  Banks freute sich, dass er so mühelos mit Mara ins Gespräch gekommen war. Es war das erste Mal, dass sein Interesse an Musik eine Art Eintracht erzeugt hatte, die er bei Zeugen brauchte. Häufig hielten es die Leute nur für eine Marotte, doch jetzt half sie ihm bei einer wichtigen Ermittlung. Das gemeinsame Interesse an Jazz und Blues hatte ja auch schon geholfen, die Spannung zwischen ihm und Burgess ein wenig zu lockern. Wenn sie allerdings seine ganzen Fragen über sich ergehen lassen musste, dachte er, würde sie wohl schnell ihre Unbeschwertheit verlieren.

  Im Pub fanden sie eine ruhige Ecke in der Nähe des gekachelten Kamins. In einem Glaskasten an der Wand neben ihnen befand sich eine Sammlung Schmetterlinge, die mit Nadeln auf ein Brett geheftet worden waren. Banks holte von der Theke ein kleines Bier für Mara und ein Pint Black Sheep Bitter für sich. Vielleicht könnte er seinen Kater kurieren, wenn er weitermachte, womit er aufgehört hatte. Er bestellte einen Ploughman's Lunch, eine kalte Platte; Mara wollte Lasagne.

  »Der Ploughman's Lunch wurde in den Siebzigern für die Touristen erfunden«, sagte Mara.

  »Kein ursprüngliches Gericht?«

  »Kein bisschen.«

  »Na ja, ich kann mir schlimmere Erfindungen vorstellen.«

  »Ich nehme an, Sie wollen gleich zur Sache kommen, oder?«, sagte Mara. »Hat Ihnen Jenny Füller von unserem Treffen erzählt?«

  »Nein, ich habe es herausgefunden. Ich glaube, sie macht sich Sorgen um Sie.«

  »Das muss sie nicht. Mir geht es gut.«

  »Wirklich? Ich dachte, Sie sind krank vor Sorge um Paul Boyd.«

  »Und wenn ich es wäre?«

  »Glauben Sie, er ist schuldig?«

  Nachdenklich nahm Mara ihr Glas und trank einen Schluck Bier. Bevor sie antwortete, strich sie eine einzelne Haarsträhne von ihrer Wange. »Vielleicht dachte ich es zuerst, ein bisschen«, sagte sie. »Auf jeden Fall machte ich mir Sorgen. Ich meine, wir wissen nicht viel von ihm. Ich schätze, ich habe ihn plötzlich mit anderen Augen gesehen. Aber jetzt nicht, nein. Und es ist mir egal, welche Beweise Sie gegen ihn haben.«

  »Warum haben Sie Ihre Meinung geändert?«

  »Es ist ein Gefühl, mehr nicht. Nichts Konkretes, nichts, was Sie verstehen würden.«

  Banks beugte sich vor. »Ob Sie's glauben oder nicht, Mara, aber auch Polizisten haben solche Gefühle. Wir nennen sie Ahnungen, oder wir sagen, wir verlassen uns auf unsere Nase, auf unseren Instinkt für die Wahrheit. Sie könnten in der Sache mit Boyd Recht haben. Ich sage nicht, Sie haben Recht, aber es besteht die Möglichkeit. Die Dinge liegen nicht so klar, wie es den Anschein hat. Irgendwie ist Paul als Täter zu offensichtlich.«

  »Kommt Ihnen das nicht gerade gelegen? Weil es so leicht ist, ihn zu beschuldigen?«

  »Nicht für mich, nein.«

  »Aber ... ich meine ... Ich dachte, Sie wären sich sicher und hätten Beweise?«

  »Das Messer?«

  »Genau.«

  »Sie haben es erkannt, nicht wahr, als Jack Crocker es gestern Mittag hier hereingebracht hat?«

  Mara sagte nichts. Bevor Banks weitersprechen konnte, kam das Essen an, und die beiden ließen es sich schmecken.

  »Schauen Sie«, sagte Banks, nachdem er den größten Teil des Stückes Wensleydale-Käses und eine eingelegte Zwiebel verputzt hatte, »nehmen wir rein theoretisch an, Boyd ist unschuldig.« Mara sah ihn an, doch ihr Ausdruck war schwer zu deuten. Misstrauen? Hoffnung? Welche Reaktion auch immer, sie war nur zu verständlich. »Wenn er unschuldig ist«, fuhr Banks fort, »dann ergeben sich daraus mehr Fragen als Antworten. Für jeden ist es einfacher, wenn sich Boyd als schuldig herausstellt. Außer für ihn selbst natürlich. Aber der einfachste Weg muss nicht unbedingt der richtige sein. Verstehen Sie, was ich meine?«

  Mara nickte. Ein Lächeln huschte kurz über ihre Lippen. »Klingt wie der Achtteilige Pfad«, sagte sie.

  »Wie was?«

  »Der Achtteilige Pfad. Das ist der buddhistische Weg zur Erleuchtung.«

  Banks spießte noch eine eingelegte Zwiebel auf. »Also, ich habe keine Ahnung von Erleuchtung«, sagte er, »aber ein bisschen mehr Licht könnten wir bei diesem Fall schon gebrauchen.« Er erzählte ihr von dem Blut und den Fingerabdrücken auf dem Messer. »Das ist alles, was wir wissen«, sagte er. »Das sind die Beweise, die Fakten, wenn Sie so wollen. Boyd war am Tatort, und wir können beweisen, dass er die Mordwaffe in der Hand hatte. Superintendent Burgess glaubt, das ist genug, um ihn zu verurteilen, aber ich bin mir da nicht so sicher. Was allerdings den politischen Aspekt angeht, hat er wohl Recht. Wenn Boyd schuldig gesprochen wird, stehen wir gut da. Außerdem würde es jeden diskreditieren, der ein bisschen anders zu sein scheint.«

  »Ist das nicht genau das, was Sie wollen?«

  »Wäre schön, wenn Sie damit aufhören könnten, solche Unterstellungen von sich zu geben. Sie hören sich an wie ein bekiffter Hippie auf einem Rockfestival. Vielleicht nennen Sie mich jetzt noch Bullenschwein und lassen es dann damit gut sein? Oder Sie werden endlich erwachsen!«

  Mara sagte nichts, aber Banks sah, wie eine leichte Röte über ihr Gesicht strömte.

  »Ich will die Wahrheit«, fuhr Banks fort. »Ich will nicht irgendeine Gruppe oder Person drankriegen, ich will einzig und allein den Mörder. Wenn wir annehmen, dass Boyd es nicht getan hat, warum sind dann seine Fingerabdrücke auf dem Messer und warum wurde es ungefähr auf halbem Weg zwischen Eastvale und Maggie's Farm im Heidemoor gefunden?«

  Mara schob ihre halb aufgegessene Lasagne beiseite und drehte sich eine Zigarette. »Ich bin kein Detektiv«, sagte sie, »aber vielleicht hat er es aufgehoben und auf dem Nachhauseweg weggeworfen, als ihm klar wurde, was er da mitgenommen hatte.«

  »Aber warum? Hätten Sie etwas derart Dummes getan? Hätten Sie sich auf der Demonstration gebückt, um ein blutverschmiertes Messer aufzuheben? Überlegen Sie sich das mal. Boyd hatte keinerlei Garantie wegzukommen. Was wäre gewesen, wenn er am Tatort mit dem Messer geschnappt worden wäre?«

  »Er hätte wahrscheinlich noch Zeit gehabt, das Messer fallen zu lassen, wenn er die Polizisten auf sich zukommen gesehen hätte.«

  »Ja, aber trotzdem wären seine Fingerabdrücke drauf gewesen. Ich bezweifle, dass er ruhig genug gewesen wäre, es noch abzuwischen, bevor sie ihn gegriffen hätten. Und selbst wenn, wahrscheinlich hätte er etwas von Gills Blut abbekommen.«

  »Das ist alles schön und gut«, sagte Mara, »aber ich habe keine Ahnung, worauf Sie hinauswollen.«

  »Das werde ich Ihnen gleich sagen.« Banks ging zur Theke und bestellte noch zwei Bier. Seit sie hereingekommen waren, hatte sich der Pub einigermaßen gefüllt. Am Kamin ruhten sogar zwei warm eingepackte Wanderer ihre Beine aus.

  Banks setzte sich wieder an den Tisch und trank einen Schluck. Die Kur gegen den Kater schlug wunderbar an. »Das Messer hat eine Schlüsselrolle«, sagte er. »Sie haben es wiedererkannt, und Paul muss es auch erkannt haben. Es stammt von der Farm, nicht wahr?«

  Mara drehte sich zur Seite und studierte die Schmetterlinge.

  »Sie helfen niemandem, wenn Sie etwas verheimlichen. Ich möchte nur, dass Sie bestätigen, was wir bereits wissen.«

  Mara drückte ihre Zigarette aus. »Na gut, dann stammt es also von der Farm. Na und? Wenn Sie es bereits wissen, warum fragen Sie mich dann noch?«

  »Weil Paul jemanden geschützt haben könnte, oder nicht? Wenn er das Messer gefunden und mitgenommen hat, dann muss er gedacht haben, es wäre ein Beweis gegen jemanden, und zwar gegen jemanden von der Farm. Es sei denn, Sie glauben, er ist einfach durch und durch dumm.«

  »Einer von uns, meinen Sie?«

  »Ja. Wen würde er am ehesten schützen wollen?«

  »Das weiß ich nicht. An dem Nachmittag waren einige Leute oben auf der Farm.«

  »Ja, ich weiß, wer dort war. Könnte jemand das Messer eingesteckt haben?«

  Mara zuckte mit den Achseln. »Es lag auf dem Kaminsims, jeder konnte es sehen.«

  »Wem gehört das Messer?«

  »Keine Ahnung. Es ist immer da gewesen.«

  »Na gut, auch egal. Dann war es eben das Gemeinschaftsklappmesser. Könnten Sie sich vorstellen, dass es Paul aufgehoben hat, um Dennis Osmond zu schützen? Oder Tim und Abha?«

  Mara zwirbelte eine lose Haarsträhne. »Weiß ich nicht«, sagte sie. »Er kannte sie nicht besonders gut.«

  »Welche Rolle hat er an dem Nachmittag gespielt? War er dabei?«

  »Ja, die meiste Zeit, aber er hat nicht viel gesagt. Paul hat einen Minderwertigkeitskomplex, wenn es um Studenten oder politische Gespräche geht. Er hat keine Ahnung von Karl Marx und so weiter, außerdem fehlt ihm das Selbstvertrauen, um seine eigenen Ideen einbringen zu können.«

  »Also war er dabei, aber nicht besonders engagiert?«

  »Stimmt. Im Prinzip war er mit allem einverstanden. Ich meine, er war nicht nur auf der Demo, um ... um ...«

  »Ärger zu machen?«

  »Genau. Er war dort, um zu demonstrieren. Er hatte nie einen Job, wissen Sie. Er hat keinen Grund, der ThatcherRegierung dankbar zu sein.«

  »Sie sagen, das Messer hat immer auf dem Kaminsims gelegen. Haben Sie an dem Nachmittag gesehen, dass es jemand genommen hat, vielleicht nur um damit zu spielen?«

  »Nein.«

  »Wann haben Sie bemerkt, dass es weg ist?«

  »Was?«

  »Sie müssen bemerkt haben, dass das Messer weg ist. Haben Sie es bemerkt, bevor Sie gestern sahen, dass Jack Crocker damit hier reingekommen ist?«

  »Ich ... ich ...«

  Banks machte eine abwehrende Handbewegung. »Vergessen Sie es. Ich glaube, ich habe verstanden. Sie haben bemerkt, dass es fehlt, und aus irgendeinem Grund glaubten Sie, dass es Paul letzten Freitag mitgenommen haben könnte.«

  »Nein!«

  »Warum sind Sie dann losgerannt und haben ihn gewarnt?«

  »Weil ich dachte, Sie nehmen ihn in die Mangel, wenn das Messer in dieser Gegend gefunden wurde. Jack Crocker arbeitet im Heidemoor. Als ich ihn sah, wusste ich, dass er es hier in der Nähe gefunden haben muss.«

  »Klingt plausibel«, sagte Banks. »Aber überzeugt bin ich nicht. Sie waren nicht bei der Demo, oder?«

  »Nein. Es ist nicht so, dass ich nicht an die Sache glauben würde, aber jemand musste zu Hause bleiben und auf die Kinder aufpassen.«

  »Sie haben sie nicht etwa früh ins Bett gesteckt und sind dann rausgeschlichen?«

  »Beschuldigen Sie mich?«

  »Ich frage Sie.«

  »Also, ich weiß nicht, wie Sie darauf kommen. Die anderen hatten den Wagen genommen, und bis nach Eastvale sind es gut sechs Kilometer durchs Moor.«

  »Also bleiben Paul, Zoe, Seth und Rick. Seth und Rick sind verhaftet worden, aber wenn Paul das Messer bei der Demo aufgehoben hat, kann auch einer von ihnen Gill erstochen haben.«

  »Das glaube ich nicht.«

  »Hat Osmond oder einer der anderen eine so große Abneigung gegen Sie, dass er einem von Ihnen die Schuld anhängen würde?«

  »Glaube ich nicht. Niemand hat Grund, uns so sehr zu hassen.«

  »Wenn Sie das Messer wirklich eine ganze Zeit lang nicht bemerkt haben, dann könnte es doch jemand schon früher weggenommen haben, oder nicht? Hatten Sie während der Woche Besuch?«

  »Ich ... ich kann mich nicht erinnern.«

  »Schließen Sie das Haus immer gut ab?«

  »Sie machen wohl Witze. Wir besitzen überhaupt nichts Wertvolles.«

  »Denken Sie mal darüber nach. Sie verstehen mein Problem, oder? Es wird immer dann kompliziert, wenn wir Boyd außen vor lassen. Und wenn jemand das Messer weggenommen hat, dann ist Vorsatz im Spiel. Kennen Sie jemanden, der Grund hätte, Constable Gill zu ermorden?«

  »Nein.«

  »Wurde er an dem Nachmittag oben auf der Farm erwähnt?«

  »Habe ich nicht gehört. Aber ich saß auch nicht die ganze Zeit dabei. Ich habe Tee gekocht, abgeräumt und so weiter.«

  Banks trank noch einen Schluck Black Sheep Bitter. »Sagt Ihnen die Nummer 1139 etwas?«

  Mara runzelte die Stirn. Die Falten begannen auf beiden Seiten ihrer Stirn und liefen am Nasenansatz zusammen.

  »Nein«, sagte sie. »Glaube ich wenigstens. Warum? Wo haben Sie die her?«

  »Könnte sie nicht zum Beispiel Teil einer Adresse oder Telefonnummer sein?«

  »Wie gesagt, nein. Nicht dass ich wüsste. Sie kommt mir irgendwie bekannt vor, aber ich weiß nicht, woher.«

  »Haben Sie jemals vom Rossghyll-Gästehaus gehört?«

  »Ja, es ist am Talende. Warum?«

  Banks studierte eingehend ihren Gesichtsausdruck, konnte aber kein Anzeichen dafür erkennen, dass das Haus ihr etwas Besonderes bedeutete. »Egal. Benachrichtigen Sie mich, wenn Ihnen irgendetwas einfällt. Es könnte wichtig sein.«

  Mara trank ihr Bier aus und rutschte unruhig auf ihrem Stuhl hin und her. »Sonst noch was?«

  »Nur eine Sache. Da er weggelaufen ist, sieht es schlecht für Paul aus. Mir ist klar, dass ich Sie nicht darum bitten kann, ihn zu verpfeifen, selbst wenn Sie wissen, wo er steckt. Aber es wäre wirklich das Beste für ihn, wenn er sich stellt. Sehen Sie da eine Chance?«

  »Unwahrscheinlich. Er hat Angst vor der Polizei, besonders vor diesem Arschloch von Superintendent.« Sie schüttelte den Kopf. »Ich glaube nicht, dass er sich von allein stellen wird.«

  »Wenn Sie von ihm hören, erzählen Sie ihm, was ich gesagt habe. Erzählen Sie ihm, dass ich ihm eine faire Behandlung verspreche.«

  Mara nickte langsam. »Aber ich glaube nicht, dass es viel bringen wird«, sagte sie. »Er würde mir nicht glauben. Er traut uns jetzt genauso wenig wie Ihnen.«

  »Warum?«

  »Er weiß, dass ich ihn verdächtigt habe, wenn auch nur für eine Weile. Paul hat in seinem Leben so wenig Liebe bekommen, dass es ihm sowieso schon schwer fällt, anderen Menschen zu vertrauen. Wenn sie ihn dann auch noch im Stich lassen, und sei es nur für einen Moment, dann war es das.«

  »Trotzdem«, sagte Banks, »wenn Sie die Möglichkeit haben, legen Sie ein Wort ein.«

  »Ich werde es ihm sagen. Aber ich halte es für unwahrscheinlich, dass einer von uns noch mal von ihm hört. Kann ich jetzt gehen?«

  »Wenn Sie einen Moment warten, fahre ich Sie.« Banks' Glas war noch halb voll und er machte sich daran, es auszutrinken.

  Mara stand auf. »Nein, ich werde zu Fuß gehen. Der Laden ist nicht weit, und ein bisschen frische Luft wird mir gut tun.«

  »Sicher?«

  »Ja.«

  Nachdem sie gegangen war, entspannte sich Banks und ließ sich den Rest des Bieres schmecken. Das Treffen war besser verlaufen, als er erwartet hatte, und er hatte tatsächlich etwas über das Messer erfahren. Mara hatte ausweichende Antworten gegeben, hauptsächlich um sich nicht selbst zu belasten, aber damit war nur zu rechnen gewesen. Das konnte er ihr nicht verübeln.

  Banks beschloss, Burgess seine Erkenntnisse eine Weile zu verheimlichen. Er wollte nicht, dass Dirty Dick in gewohnter Manier wie ein Elefant im Porzellanladen losstürmte und jeden in sein Schlupfloch zurückscheuchte. Banks war es gelungen, Maras generelle Abneigung gegen die Polizei zum Teil zu überwinden, ob nun durch Jennys Einfluss, seinen Musikgeschmack oder durch bloßen Charme. Wenn jedoch Burgess wieder auftauchte, würde Maras Hass auf ihn bestimmt auch auf Banks abfärben.

  Als er sich auf den Rückweg nach Eastvale machte, waren seine Kopfschmerzen verschwunden, sodass er sich wieder dazu in der Lage fühlte, etwas Musik zu ertragen. Aber er hatte den Eindruck, dass ihm etwas Offensichtliches entgangen war. Er hatte das seltsame Gefühl, dass zwei unwichtige Dinge, die entweder er oder Mara gesagt hatten, sich zu einer Wahrheit verbinden müssten. Wenn sie aufeinander trafen, würde eine kleine Glühbirne aufleuchten und er wäre der Lösung des Falles um einiges näher. Ohne sich darum zu kümmern, sang Billie Holiday:

  Sad am I, glad am I For today I'm dreaming of Yesterdays.

 

* II

 

Mit gesenktem Kopf ging Mara die Straße entlang und dachte an ihr Gespräch mit Banks. Wie jeder Polizist hatte er nur furchtbar unangenehme Fragen gestellt. Und Mara hatte genug von unangenehmen Fragen. Warum konnte nicht alles wieder normal werden, damit sie endlich in Ruhe ihr Leben weiterführen konnte?

  »Hallo, meine Liebe«, grüßte Elsbeth, als sie den Laden betrat.

  »Hallo. Wie geht's Dottie?«

  »Sie will nichts essen. Ich weiß wirklich nicht, wie sie gesund werden will, wenn sie nichts isst.«

  Sie wussten beide, dass Dottie nicht mehr gesund werden würde, aber niemand sprach darüber.

  »Und was ist mit dir los?«, fragte Elsbeth. »Du machst ein Gesicht wie drei Tage Regenwetter.«

  Mara erzählte ihr von Paul.

  »Ich will ja jetzt nicht damit anfangen, dass ich dir das immer gesagt habe«, sagte Elsbeth und strich ihr dunkles Tweedkleid glatt, »aber ich dachte sofort, dass der Junge nur Ärger macht. Es ist das Beste für euch alle, wenn ihr ihn los seid.«

  »Du hast wohl Recht.« Mara war anderer Meinung, aber es hatte keinen Sinn, mit Elsbeth über Paul zu streiten. Sie hatte auch gar nicht mit Verständnis gerechnet.

  »Geh nach hinten und setz dich ans Töpferrad, Liebes«, sagte Elsbeth. »Dann kommst du wieder auf andere Gedanken.«

  Der vordere Teil des Ladens war voll gestopft mit Artikeln für Touristen. Auf den Regalen an der Wand lagen die für die Gegend typischen Strickpullover, auf Tischen stand Töpferware - einiges davon aus Maras Produktion - und in Auslagekästchen befanden sich kleine Schmuckstücke wie Schlüsselringe, die mit dem Emblem der Nationalparks verziert waren, dem schwarzen Gesicht eines Schafes aus Swaledale. Und als wäre das noch nicht genug, wurde der Rest des Raumes von feinem Briefpapier, gläsernen Briefbeschwerern, Kuscheltieren und Kühlschranktürmagneten in Form von Erdbeeren oder Comicfiguren eingenommen.

  Im hinteren Teil herrschten allerdings ganz andere Zustände. In der kleinen Töpferwerkstatt stand die Töpferscheibe neben zahlreichen Behältern mit brauner oder schwarzer Metalloxidglasur, dahinter war der Trockenraum mit einem kleinen elektrischen Ofen. Die Werkstatt war staubig und unaufgeräumt, alles war mit einer harten Schicht alten Tons überzogen, eine Atmosphäre, die zu einem Teil zu Maras Charakter passte. Eigentlich zog sie Sauberkeit und Ordentlichkeit vor, doch hatte es für ihr Gefühl etwas Besonderes, schöne Dinge in einer chaotischen Umgebung zu schaffen.

  Sie band sich die Schürze um, nahm einen Klumpen Ton aus dem Eimer und wog die Menge ab, die sie für eine kleine Vase brauchte. Der Ton war zu feucht, deshalb walkte sie ihn auf einer flachen Betonplatte, welche die austretende Feuchtigkeit aufsaugte. Sie drückte kräftig mit ihren Händen und zog den Ton dann auseinander, um alle Luft herauszubekommen, aber heute schien sie sich nicht wie sonst in dieser Tätigkeit verlieren zu können. Die ganze Zeit musste sie an ihr Gespräch mit Banks denken.

  Stirnrunzelnd teilte sie den Klumpen mit einem Käseschneider in zwei Hälften, um ihn nach Luftblasen zu untersuchen, dann knallte sie die beiden Teile mit ungewöhnlicher Wucht wieder zusammen. Ein Tonkrümel löste sich und traf ihre Stirn genau über dem rechten Auge. Sie legte den Ton hin, holte ein paar Mal tief Luft und versuchte sich nur auf das zu konzentrieren, was sie gerade tat.

  Doch es ging nicht. Natürlich war das Banks' Schuld. Er hatte ihr gegenüber Spekulationen angestellt, die nichts anderes als Sorgen verursachten. Richtig, sie wollte nicht, dass Paul schuldig war, aber wenn Banks' Worte bedeuteten, dass jemand anderes, den sie kannte, den Polizisten getötet hatte, dann wurde alles nur noch schlimmer.

  Seufzend startete sie mit dem Fußpedal die Töpferscheibe und knallte den Ton so nah wie möglich auf die Mitte zu. Dann befeuchtete sie sowohl den Ton als auch ihre Hände mit Wasser aus der Schüssel neben sich. Als sie die Scheibe drehte, floss mit Ton vermischtes Wasser herunter und spritzte auf ihre Schürze.

  Sie konnte nicht glauben, dass einer ihrer Freunde Gill erstochen hatte. Dann wäre es schon besser, wenn es Osmond oder einer der Studenten aus politischen Motiven getan hätte. Tim und Abha machten einen ziemlich netten, wenn auch etwas naiven und schwärmerischen Eindruck. Osmond jedoch hatte Mara nie über den Weg getraut, er war ihr immer zu schmierig und rechthaberisch erschienen.

  Aber was war mit Rick? Er vertrat radikale politische Ansichten, viel radikalere als Seth oder Zoe. Oft hatte er gesagt, jemand sollte einen Anschlag auf Margeret Thatcher verüben, woraufhin Seth gemeint hatte, dass dann nur jemand genauso Übles ihren Platz einnehmen würde. Aber es war ja auch nur ein Polizist ermordet worden, kein Politiker. Auch wenn Rick immer behauptete, dass Polizisten nichts als Handlanger des Staates wären, bezahlt, um für die Einhaltung der Gesetze zu sorgen, konnte sie nicht glauben, dass er deshalb tatsächlich einen von ihnen töten würde.

  Sie beugte sich mit angewinkelten Ellbogen nach vorn und drückte den Ton mit aller Kraft in die Mitte der Scheibe. Als sie es schließlich geschafft hatte, gestattete sie sich ein zufriedenes Lächeln. Dann hielt sie ihren Daumen oben an die Spitze des Tonklumpens und drückte ihn wenige Zentimeter nach unten. Sie füllte das Loch mit Wasser, fuhr mit dem Daumen hinein und begann den Vasenboden festzulegen.

  Während sie die Innenseite mit einem Finger hielt, verlangsamte sie die Scheibe und fing an, am Boden einen äußeren Rand zu modellieren und von dort den Ton auf die gewünschte Höhe zu ziehen. Dafür benötigte sie ein paar Versuche, sie zog jedes Mal nur ein kleines Stückchen weiter und beobachtete, wie auf der Außenseite des Tons Wellen entstanden und wieder verschwanden.

  Sie durfte sich von Banks nicht aus der Bahn werfen lassen. Auf keinen Fall würde sie damit anfangen, Rick auf die gleiche Weise zu verdächtigen, wie sie Paul verdächtigt hatte. Sie hatte gute Gründe gehabt, sich um ihn Sorgen zu machen, sagte sie sich. Seine gewalttätige Vergangenheit, die vermeintliche Wunde. Außerdem waren seine Fingerabdrücke auf dem Messer. Aber sie hatte überhaupt keine Gründe, jemand anderen zu verdächtigen. Hoffentlich war Paul weit fort und ließ sich nie wieder sehen. Das wäre am besten. Wenn die Polizei weiterhin glauben würde, dass er es getan hatte, ohne ihn jemals zu finden.

  Draußen im Laden konnte sie Elsbeth hören, die versuchte, einen Pullover an einen Kunden zu verkaufen. »Traditionelles Dalesmuster ... selbstverständlich Wolle aus der Gegend ... handgestrickt, natürlich ...«

  Sie hatte es fast geschafft. Aber ihre Hände waren unruhig, und als sie in ihre Gedanken abgetaucht war, hatte sie unkonzentriert den Druck ihres rechten Fußes verstärkt und die Scheibe beschleunigt. Plötzlich begann der Ton wie wild aus der Mitte herauszuquellen. Verrückte Formen entstanden, wie auf einem Gemälde von Salvador Dali. Der Ton sah aus wie Plastik, das in einem Feuer schmolz. Schließlich brach der ganze Klumpen auf der Scheibe in sich selbst zusammen. Und das war es dann. Mit dem Käseschneider schnitt Mara die Sauerei auseinander. Mit dem Rest hätte man vielleicht noch einen Eierbecher töpfern können, aber sie konnte sich nicht dazu aufraffen, noch einmal von vorne zu beginnen. Dieser verfluchte Banks hatte ihr den ganzen Tag ruiniert.

  Angewidert riss sie sich die Schürze herunter und säuberte die Scheibe vom Rest des Tons. Dann zog sie wieder ihren Anorak an und ging nach vorne in den Laden.

  »Tut mir Leid, Elsbeth«, sagte sie, »ich kann mich heute einfach nicht konzentrieren. Vielleicht mache ich einen Spaziergang.«

  Elsbeth runzelte die Stirn. »Ist auch wirklich alles in Ordnung?«

  »Ja. Mach dir keine Sorgen, mir geht's gut. Grüß Dottie von mir.«

  »Mach ich.«

  Als sie den Laden verließ, dröhnte die Klingel laut hinter ihr her.

  Anstatt nach Hause zu gehen, kletterte sie am Ende der Mortsett Lane über den Zaunübertritt und machte sich auf in das Heidemoor. In Gedanken ging sie die Ereignisse des letzten Freitagnachmittags oben auf der Farm durch.

  Die meiste Zeit hatte sie in der Küche zugebracht, um einen Eintopf zum Abendessen vorzubereiten, der sie alle gegen Regen und Kälte stärken sollte, und um Tee zu kochen. Zudem waren die Kinder eine Plage gewesen, erinnerte sie sich. Aufgedreht, weil so viele Erwachsene da waren, hatten sie sie nicht in Ruhe gelassen und die ganze Zeit an ihren Schürzenzipfeln gehangen. Den Gesprächen der anderen hatte sie selbst dann nicht viel Aufmerksamkeit geschenkt, wenn sie dabeigesessen hatte. Ihr war auch nicht aufgefallen, dass jemand irgendetwas vom Kaminsims genommen hatte.

  Nur die Nummer, die Banks erwähnt hatte, rief etwas in ihr wach. 1139 lautete sie, oder? Kürzlich war sie erwähnt worden, bildete sie sich ein. Sie hatte nur mit einem Ohr hingehört, denn in dem Moment hatte sie an etwas anderes gedacht. An den Ashram, genau. Sie hatte sich daran erinnert, wie sie alle nach dem Abendessen, das wie jeden Tag aus wildem Reis und Gemüse bestand, im Schneidersitz im Meditationszimmer vor dem Schrein des Gurus gesessen hatten. In der Luft lag ein intensiver Geruch nach Räucherstäbchen. Sie hatten darüber gesprochen, wie leer ihr Leben für sie alle gewesen war, bevor sie den Wahren Weg gefunden hatten. Wie sie an den falschen Orten nach den falschen Dingen gesucht hatten. Und dann hatten sie händehaltend miteinander gesungen. »Amazing Grace« war damals eines ihrer Lieblingslieder. Aus irgendeinem Grund hatte sie bei der Versammlung an dem Nachmittag auf der Farm an jene Zeit denken müssen, obwohl so gut wie nichts daran erinnerte.

  Das war ihr durch den Kopf gegangen, als die Nummer erwähnt worden war. Und sie war in der Küche gewesen, denn sie konnte sich noch deutlich an das erdige Gefühl des Kartoffelnschälens erinnern. Es war schon komisch, wie die Erinnerung funktionierte. Jedes Einzelteil des Ereignisses war ihr gegenwärtig, aber sie konnte sich nicht daran erinnern, wer die Nummer erwähnt hatte oder in welchem Zusammenhang sie genannt worden war. Und den ganzen Nachmittag waren die Leute in der Küche ein und aus gegangen.

  Während sie sich wieder Sorgen um Paul machte und sich fragte, wo er jetzt war, senkte sie den Kopf gegen den Wind und marschierte weiter durch das struppige Gras und Heidekraut.

 

* III

 

Es gab nicht viel mehr zu tun, als darauf zu warten, dass Boyd auftauchte. Egal, welchen Verdacht Banks hatte, ihm fehlten konkrete Anhaltspunkte und die würde er wahrscheinlich nicht erhalten, bevor er Boyd verhört hatte. Dirty Dick schlief in seinem Hotelzimmer immer noch den Rausch der letzten Nacht aus, und Richmond rannte herum und versuchte, so viel Informationen wie möglich über die Verdächtigen zu sammeln. Polizeiberichte reichten da nicht aus, sie neigten dazu, die Kleinigkeit des menschlichen Faktors auszulassen, aber der war eben wichtig, wollte man Hinweise auf die Motivation bekommen oder ein Verhaltensmuster erkennen.

  Banks rauchte eine nach der anderen und starrte meistens düster aus seinem Fenster auf den grauen Marktplatz. Um vier Uhr hörte er ein Klopfen an der Tür. »Herein«, rief er.

  Constable Craig stand da und freute sich wie ein Schneekönig. »Wir haben eine Spur, Sir«, sagte er und schob eine korpulente Frau mittleren Alters mit Lockenwicklern in den Haaren herein.

  Banks schob ihr einen Stuhl hin.

  »Das ist Mrs. Evans«, sagte Craig. »Ich habe an jeder Haustür in der Cardigan Road geklopft, um jemanden zu finden, der Boyd gesehen hat. Und Mrs. Evans behauptet, ihn gesehen zu haben. Sie ist freundlicherweise gleich mit mir gekommen, um mit Ihnen zu reden, Sir.«

  »Gute Arbeit«, sagte Banks. Craig lächelte und ging.

  Banks fragte Mrs. Evans, was sie gesehen hatte.

  »Es war ungefähr drei Uhr gestern Nachmittag«, begann sie. »Ich kann mich noch genau an die Zeit erinnern, weil ich mit dem Einkauf von Tesco's kam und mich damit aus dem Bus kämpfen musste.«

  »Welcher Bus war das?«

  »Der Vierundvierziger. Fährt um zwei Uhr sechsundvierzig vom Busbahnhof ab.«

  Banks kannte die Route. Der Bus nahm den einheimischen Passagieren zuliebe den langen Weg über die Cardigan Road und fuhr dann weiter nach York.

  »Und Sie haben Paul Boyd gesehen?«

  »Ich sah einen Jungen, der dem auf dem Foto ähnelt.«

  Constable Craig hatte bei seinem Rundgang allen Leuten ein Gefängnisfoto von Boyd gezeigt. »Er trägt sein Haar jetzt anders, aber ich weiß, dass er es war. Ich habe ihn schon früher gesehen.«

  »Wo?«

  »In der Stadt. Er kam häufig aus dem Arbeitsamt. Wenn ich ihn gesehen habe, habe ich immer meine Handtasche an mich gepresst. Ich weiß, dass es nicht fair ist, nur nach dem Äußeren zu gehen, aber für mich sah er nach einem schlimmen Finger aus.«

  »Wo haben Sie ihn diesmal gesehen?«

  »Er kam von den Wiesen und rannte Gallows View hoch.«

  »Von Relton her?«

  »Genau, querfeldein.«

  »Und wo ist er hingegangen?«

  »Gegangen? Er ist nirgendwo hingegangen. Er ist zum Bus gelaufen. Hat ihn gerade noch so erwischt. Mich hat er fast umgestoßen, und ich hatte zwei schwere Einkaufstaschen in der Hand.«

  »Was hat er angehabt? Erinnern Sie sich?«

  »Natürlich erinnere ich mich. Einen roten Anorak. Das ist mir aufgefallen, weil er ihm irgendwie zu klein war. Die Ärmel waren ein bisschen kurz und an den Achseln hat er gespannt.«

  Warum, fragte sich Banks, war er kein bisschen überrascht, dass ihn Mara in Bezug auf Boyds Sachen angelogen hatte?

  »Hat er etwas bei sich gehabt?«

  »Eine von diesen Taschen einer Fluglinie - British Airways, glaube ich.«

  »Erinnern Sie sich sonst noch an etwas?«

  »Nur dass er ganz schön in Eile zu sein schien und ziemlich besorgt geguckt hat. Ich meine, wie gesagt, normalerweise bin ich diejenige, die Angst vor ihm hat, aber diesmal hat er ausgesehen, als wenn er zu Tode erschreckt wäre.«

  Banks ging zur Tür und rief Craig zurück. »Danke, Mrs. Evans«, sagte er. »Es war sehr nett von Ihnen, dass Sie gleich vorbeigekommen sind. Constable Craig wird Sie nach Hause fahren.« Mrs. Evans nickte ernst, und Craig begleitete sie hinaus.

  Sobald er wieder allein war, kontrollierte Banks den Busfahrplan und fand heraus, dass der Bus, der um zwei Uhr sechsundvierzig von Eastvale abfuhr, tatsächlich die regelmäßige Verbindung nach York war. Vor vier Uhr neun kam er dort nicht an. Als Nächstes telefonierte er mit dem Bahnhof in York. Nachdem er mit einer Reihe missmutiger Angestellter gesprochen hatte, wurde er schließlich mit einer freundlichen Frau verbunden, die für Informationen zuständig war. Durch sie stellte er fest, dass Boyd fast jeden Zug zwischen vier Uhr fünfzehn und fünf Uhr genommen haben konnte, Züge nach Leeds, London, Newcastle, Liverpool sowie Edinburgh. Natürlich könnte er mitten auf einer dieser Verbindungen ausgestiegen sein und Anschlusszüge nach überallhin genommen haben. Auch wenn es aussichtslos zu sein schien, rief er Sergeant Hatchley zu sich und beauftragte ihn damit, die Belegschaften der Zugrestaurants und die Zugschaffner ausfindig zu machen. Das bedeutete eine Fahrt nach York und könnte einige Zeit in Anspruch nehmen, aber wenigstens taten sie etwas. Natürlich machte Hatchley ein langes Gesicht - anscheinend hatte er bereits Pläne für den Abend -, aber Banks kümmerte sich nicht darum. Hatchley war mit keiner anderen Arbeit beschäftigt. Und warum sollte man mit dem eigenen Schwanz wedeln, wenn man einen Hund hat?

  Am Abend aß Banks zu Hause eine Dose Irish Stew und trabte in Erwartung eines Anrufes von Hatchley ruhelos durchs Haus. Um neun Uhr, unfähig, sich aufs Lesen zu konzentrieren und beinahe voller Reue, dass er nicht selbst nach York gefahren war, schaltete er den Fernseher ein und sah einer schönen, blonden Polizistin zu, die gemeinsam mit ihrem großmäuligen amerikanischen Partner durch London jagte und die Stadt mit Blei übersäte. Es war nur Hintergrundlärm, mit dem er versuchte, die Leere des Hauses zu füllen. Schließlich hielt er es mit sich selbst nicht mehr aus und telefonierte mit Sandra.

  Dieses Mal fühlte er sich nach dem Telefonat noch einsamer als sonst. Aber das Gefühl dauerte nicht lange an. Zwanzig Minuten später meldete sich Hatchley aus York. Er hatte es geschafft, die Adressen der meisten Zugschaffner und Restaurantmitarbeiter aus den von York abfahrenden Zügen zu bekommen, aber niemand von ihnen wohnte in der näheren Umgebung. Alles in allem schien diese erste Spur im Sande zu verlaufen. Das konnte vorkommen. Banks forderte Hatchley auf, das Revier der Kriminalpolizei von York aufzusuchen und von dort mit möglichst vielen Bahnangestellten zu telefonieren. Für den Fall, dass dabei etwas herauskam, sollte er ihn zurückrufen. Aber er meldete sich nicht mehr. Um halb zwölf ging Banks ins Bett. Vielleicht würden sie morgen früh, wenn Boyds Foto in allen Tageszeitungen des Landes erschien, den Durchbruch erzielen, den sie brauchten.