Banks lächelte. »Wir nannten ihn immer Dirty Dick Burgess.«
»Warum?«
»Das wirst du schon merken. Mit seinen Sexualpraktiken hatte es auf jeden Fall nichts zu tun. Obwohl er den Ruf hatte, auch in der Sache nichts anbrennen zu lassen.«
»Wie auch immer«, sagte Gristhorpe, »er soll so gegen Mittag hier ankommen. Er hat den frühen Intercity nach York genommen. Damit er nicht zu lange auf einen Anschlusszug warten muss, habe ich Craig losgeschickt, um ihn in York vom Bahnhof abzuholen.«
»Da wird sich Craig aber freuen.«
Gristhorpe runzelte die Stirn. Banks bemerkte seine tiefen Augenringe. »Mach das Beste draus, Alan. Wenn Superintendent Burgess aus der Reihe tanzt, dann kannst du dich an mich wenden. Noch haben wir hier das Sagen. Übrigens, bevor sie abgereist ist, hat Honoria Winstantley angerufen - das heißt, einer ihrer Begleiter. Er sagte, dass alles in Ordnung sei, entschuldigte sich für seine Schroffheit letzte Nacht und dankte dir dafür, alles so beherzt geregelt zu haben.«
»Es geschehen noch Zeichen und Wunder.«
»Ich habe Burgess im Castle Hotel in der York Road einquartiert. Das ist nicht so schick und teuer wie das Riverview, aber Burgess ist ja schließlich auch kein Parlamentsabgeordneter, oder?«
Banks nickte. »Wie sieht es mit einem Büro aus?«
»Wir stecken ihn für die Zeit in ein Verhörzimmer. Da hat er wenigstens einen Schreibtisch und einen Stuhl.«
»Er wird sich wahrscheinlich beschweren. Leute wie Burgess sind pingelig, was Büros und Titel angeht.«
»Soll er«, sagte Gristhorpe und machte eine Handbewegung durch den Raum. »Dieses Büro wird er nicht kriegen.«
»Gibt es Neuigkeiten aus dem Krankenhaus?«
»Nichts von Bedeutung. Die meisten Verletzten sind nach Hause geschickt worden. Susan Gay ist für den Rest der Woche krankgeschrieben.«
»Als du die Aussagen durchgegangen bist«, fragte Banks, »bist du da auf den Namen Dennis Osmond gestoßen?«
»Der Name kommt mir bekannt vor. Ich schau mal nach.« Gristhorpe blätterte durch den Stapel. »Ja, dachte ich mir doch. Ich habe ihn selbst verhört. Einer der Letzten. Was ist mit ihm?«
Banks erzählte ihm von Jennys Besuch.
»Ich nahm seine Aussage auf und schickte ihn nach Hause.« Gristhorpe überflog das Blatt. »Das ist er. Streitlustiger junger Teufel. Er drohte damit, die Polizei anzuklagen und eine eigene Ermittlung durchzuführen. Gesehen hatte er allerdings nichts. Jedenfalls behauptete er das. Nach den Unterlagen ist er Mitglied der Kampagne für atomare Abrüstung, außerdem ist er in der örtlichen Anti-AtomkraftBewegung aktiv. Bei Amnesty International mischt er auch mit, und du weißt, was Maggie Thatcher heutzutage von denen hält. Er hat auch Verbindungen zu verschiedenen anderen Gruppierungen, unter anderem zur Sozialistischen Internationale. Ich könnte mir vorstellen, dass Superintendent Burgess bestimmt mit ihm reden will.«
»Mmmh.« Banks fragte sich, wie Jenny das aufnehmen würde. So wie er sie und Burgess kannte, würden mit Sicherheit die Fetzen fliegen. »Hat sich durch die Aussagen etwas ergeben?«
»Niemand hat die Messerstecherei miterlebt. Drei Leute meinten, während des Handgemenges ein Messer auf der Straße gesehen zu haben. Es muss eine ganze Weile da rumgelegen haben. Nichts, was ich bisher gehört habe, bringt Ordnung in das Chaos. Die schwache Beleuchtung hilft auch nicht gerade. Du weißt, wie schlecht diese Straße beleuchtet ist. Dorothy Wycombe hat uns deswegen schon seit Wochen in den Ohren gelegen. Ich habe sie an den Stadtrat verwiesen, aber vergeblich. Sie sagt, es wäre eine Einladung zur Vergewaltigung, besonders bei den ganzen unbeleuchteten Nebengassen, aber der Stadtrat meint, die Gaslaternen sind gut für den Tourismus. Wie auch immer, Constable Gill wurde direkt vor den Stufen zum Gemeindezentrum gefunden, wenn uns das weiterhelfen sollte. Vielleicht kommen wir weiter, wenn wir die Namen von den Leuten rauskriegen, die in der vordersten Reihe gestanden haben.«
Banks erzählte Gristhorpe, was er durch Jenny über die anderen Organisatoren herausgefunden hatte.
»Die Friedensgruppe der Kirche war auch beteiligt«, fügte Gristhorpe hinzu. »Habe ich richtig gehört, dass du Maggie's Farm erwähnt hast, diesen Hof in der Nähe von Relton?«
Banks nickte.
»Hatten wir nicht vor einem Jahr oder so Ärger mit denen?«
»Ja«, sagte Banks. »Aber es war ein Sturm im Wasserglas. Für mich war das ein ziemlich harmloser Haufen.«
»Worum ging es damals? Eine Drogenrazzia?«
»Genau. Aber wir haben nichts gefunden. Wenn sie etwas dahatten, waren sie so klug, es zu verstecken. Wir hatten einen Hinweis von einigen Sozialarbeitern des Krankenhauses. Ich glaube, die haben überreagiert.«
»Wie auch immer«, sagte Gristhorpe, »das war es dann auch schon. Der Rest der Leute, die wir aufgelesen haben, waren nur einfache Bürger, die sich gegen Atomkraft oder die Regierungspolitik im Allgemeinen engagieren.«
»Und was machen wir jetzt?«
»Schau dir am besten mal diese Aussagen an«, sagte Gristhorpe und schob den Papierberg zu Banks hinüber, »und warte auf den großen Mann. Sergeant Hatchley befragt die Leute, deren Wohnungen auf die Straße rausgehen. Obwohl ich nicht glaube, dass sich dabei viel ergibt. Sie werden kaum mehr gesehen haben als ein Meer von Köpfen. Wenn wenigstens ein paar verdammte Fernsehkameras da gewesen wären, sodass wir alles auf Video hätten. Wenn man sie braucht, sind diese Medienärsche nie da.«
»Genau wie Polizisten«, sagte Banks grinsend.
Das Telefon klingelte. Gristhorpe nahm ab, hörte zu und wendete sich wieder an Banks. »Sergeant Rowe sagt, dass Dr. Glendenning auf dem Weg nach oben ist. Er hat die Voruntersuchungen abgeschlossen. Wäre besser, wenn du solange noch hier bleibst.«
Banks lächelte. »Dass der gute Doktor sich hierher bequemt, ist wirklich eine seltene Ehre. Ich wusste gar nicht, dass er auch Hausbesuche macht.«
»Das habe ich genau gehört«, sagte eine schroffe Stimme mit einem ausgeprägten Edinburgher Akzent hinter ihm. »Sollte das ein Witz sein oder was?«
Der große, weißhaarige Doktor schaute mit funkelnden blauen Augen streng auf Banks hinab. Sein Schnurrbart war vom Nikotin gelb gefärbt, eine Zigarette hing in seinem Mundwinkel. Vom Treppensteigen schnaufte er.
»Hier drinnen wird nicht geraucht«, sagte Gristhorpe. »Sie als Doktor sollten es eigentlich besser wissen.«
Glendenning brummte. »Dann gehe ich woanders hin.«
»Gehen wir in mein Büro«, sagte Banks. »Ich könnte auch eine Zigarette vertragen.«
»Sehr gut, mein Junge. Gehen Sie voraus.«
»Verdammter Verräter.« Gristhorpe seufzte und folgte den beiden.
Nachdem sie Kaffee und einen zusätzlichen Stuhl organisiert hatten, legte der Doktor los. »Laienhaft ausgedrückt«, sagte er, »wurde Constable Gill erstochen. Das Messer trat unterhalb der Rippen ein und verursachte genügend Schaden, um den Tod durch innere Blutungen herbeizuführen. Die Klinge war mindestens fünfzehn Zentimeter lang, und es sieht so aus, als wäre sie vollständig eingedrungen. Es handelte sich um eine einschneidige Klinge mit sehr scharfer Spitze. Der Wunde nach zu urteilen, würde ich sagen, es war eine Art feststellbares Klappmesser.«
»Klappmesser?«, wiederholte Banks.
»Genau, mein Junge. Sie wissen, was ein Klappmesser ist, oder? Es gibt sie in allen Formen und Größen. Hier sind sie natürlich illegal, aber auf dem Kontinent kann man sie ganz einfach bekommen. Die Schneide war genau wie die Spitze außerordentlich scharf.«
»Was ist mit Blut?«, fragte Gristhorpe. »Wahrscheinlich hat uns niemand den Gefallen getan, praktischerweise mit Gills Blutgruppe voll gespritzt zu sein, oder?«
Dr. Glendenning zündete sich eine neue Senior Service an und schüttelte den Kopf. »Nein. Ich habe die Untersuchungen aller Leute überprüft. Und ich wäre sehr überrascht gewesen, wenn ich etwas gefunden hätte«, sagte er. »Sofern man nämlich nicht eine Hauptvene oder -arterie öffnet - die Karotis oder die Drosselvene zum Beispiel kommt es bei Stichwunden meistens nur zu sehr geringen äußerlichen Blutungen. Ich würde sagen, in diesem Fall gab es so gut wie keine Blutung, und das bisschen Blut, das austrat, wurde fast vollständig von der Kleidung des Mannes aufgesogen. Der Schlitz schließt sich hinter der Klinge, müssen Sie wissen - besonders ein so schmaler -, und der größte Teil der Blutung erfolgt innerlich.«
»Können Sie sagen, ob es die Tat eines Fachmannes war?«, wollte Gristhorpe wissen.
»Ich möchte keine Spekulationen aufstellen. Möglich ist es, aber es könnte genauso gut ein Zufallstreffer gewesen sein. Der Stich wurde mit der rechten Hand nach oben geführt. Bei so einem Hieb in einer dunklen Nacht bezweifle ich, dass irgendjemand Notiz davon genommen hat, es sei denn, jemand hat die funkelnde Klinge gesehen, aber dafür ist die North Market Street zu schlecht beleuchtet. Wahrscheinlich hat es eher wie ein Schlag auf den Solarplexus ausgesehen, und soweit ich gehört habe, hat es davon eine Menge gegeben. Wenn er allerdings seine Hand über den Kopf erhoben und nach unten gestoßen hätte ...«
»Den Gefallen tun uns die Leute normalerweise nicht«, sagte Banks.
»Wenn wir die Art des Messers, das benutzt wurde, in Betracht ziehen«, spekulierte Gristhorpe, »könnte es eine spontane Tat gewesen sein. Profis benutzen normalerweise keine Klappmesser - das sind Waffen der Straße.«
»Okay«, sagte Glendenning und stand auf, »das herauszufinden ist Ihre Aufgabe. Ich sage Ihnen Bescheid, wenn ich bei der Obduktion mehr herausfinden sollte.«
»Wer hat die Leiche identifiziert?«, fragte Banks.
»Die Schwester. War ziemlich betrübt. Ein paar von Ihren Jungs haben den Papierkram erledigt. Glücklicherweise hatte Gill weder Frau noch Kinder.« Ein halber Zentimeter Asche fiel auf das Linoleum. Glendenning schüttelte langsam seinen Kopf. »Überall Schmutz. Wir sehen uns.«
Nachdem der Doktor gegangen war, stand Gristhorpe auf und fuchtelte theatralisch mit seiner Hand vor dem Gesicht herum. »Furchtbare Angewohnheit. Ich gehe wieder zurück in mein Büro, da gibt es wenigstens frische Luft. Raucht dieser Burgess auch?«
Banks lächelte. »Zigarren, wenn ich mich richtig erinnere.«
Gristhorpe fluchte.