* VIER

 

* I

 

Als es am Sonntagmorgen dämmerte, war es klar und kalt. Zu einer frischen Märzbrise schien zaghaft die Sonne und tauchte die unteren Berghänge in die zarten Farben des Frühlings. Frauen hielten ihre Hüte fest und Männer schlugen die Kragen ihrer besten Anzüge hoch, während sie sich über die Mortsett Lane in Relton zur Kirche kämpften. Der Polizeiwagen, ein weißer Fiesta Popular mit den offiziellen roten und blauen Streifen auf beiden Seiten, bog auf die holprige Römerstraße in Richtung Maggie's Farm ein. Constable McDonald fuhr, Craig saß schweigend neben ihm und Banks eingepfercht auf der Rückbank.

  Der Blick über das Tal war großartig. In der Talsohle konnte Banks Fortford und auf dem gegenüberliegenden Hang unterhalb von Lyndgarth die Devraulx-Abtei ausmachen. Dahinter erhob sich die nördliche Talwand, aus deren verschneiten Gipfeln Kalksteinfelsen hervorragten, die im Licht funkelten wie Zahnreihen.

  Nach einem Abend zu Hause, wo er Madame Bovary gelesen hatte, und der darauf folgenden gut durchschlafenen Nacht fühlte sich Banks erholt. Glücklicherweise hatte Dirty Dick angerufen, um ihren Kneipenbummel abzusagen. Angeblich war er zu müde. Banks vermutete, dass er lieber von seinem Hotel aus gleich um die Ecke ins Queen's Arms gegangen war, um Glenys zu bearbeiten, doch Burgess sah am Morgen relativ unversehrt aus. Dennoch erschien er müde, und seine grauen Augen waren trübe wie Champagner, der sein Perlen verloren hatte. Banks fragte sich, wie er mit Dorothy Wycombe zurechtkommen würde.

  Als der Wagen auf dem Schotter vor dem Bauernhaus hielt, spähte jemand aus dem Fenster. Banks stieg aus und hörte, wie das Windspiel wie ein Stück experimenteller Musik zu klimpern schien, ein Klang, der seltsam mit dem Wind harmonierte, der ihm um die Ohren blies. Er hatte vergessen, wie hoch Maggie's Farm gelegen war.

  Auf sein Klopfen hin tauchte eine große, schlanke Frau auf, die Mitte bis Ende dreißig war und eine Jeans sowie einen rostfarbenen Pullover trug. Banks meinte, sie von seinem früheren Besuch wiederzuerkennen. Gewelltes, walnussfarbenes Haar fiel ihr auf die Schultern und rahmte ein blasses, herzförmiges und ungeschminktes Gesicht ein. Vielleicht war ihr Kinn etwas zu spitz und ihre Nase ein wenig zu lang, aber der Gesamteindruck war angenehm. Ihre klaren, braunen Augen schauten gleichzeitig unschuldig und wissend.

  Banks präsentierte seinen Durchsuchungsbefehl, und die Frau trat lustlos zur Seite. Sie wussten, dass wir irgendwann kommen würden, dachte er, und nun wollen sie es einfach hinter sich bringen.

  »Wäre schön, wenn die beiden nichts kaputtmachen würden«, sagte sie und deutete auf McDonald und Craig.

  »Keine Sorge, das werden sie nicht. Sie werden nicht mal merken, dass sie hier gewesen sind.«

  Mara rümpfte ihre Nase. »Ich hole die anderen.«

  Während die zwei Uniformierten die Durchsuchung begannen, setzte sich Banks in den Schaukelstuhl am Fenster. Er neigte seinen Kopf zur Seite und überflog die Titel der Bücher in dem Kiefernschrank neben ihm. Hauptsächlich Romane - Hardy, die Brontes, John Cowper Powys, Fay Weldon, Graham Greene dazwischen ein paar esoterische Werke wie eine Einführung in die Psychologie Jungs und ein Überblick über das Okkulte. In den unteren Fächern standen ein paar alte, zerlesene Taschenbücher - Die Lehren des Don Juan, Naked Lunch, Herr der Ringe. Außerdem gab es die obligatorischen politischen Texte: Marcuse, Fanon, Marx und Engels.

  Auf dem Boden neben Banks lag eine Ausgabe von George Eliots Die Mühle am Floß. Er hob das Buch auf. Das Lesezeichen steckte bei der zweiten Seite. Weiter als bis dahin war er mit George Eliot auch nie gekommen.

  Mara kehrte mit den anderen aus der Scheune zurück, an drei von ihnen konnte er sich von seinem Besuch vor achtzehn Monaten noch dunkel erinnern: Zoe Hardacre, eine zierliche Frau mit Sommersprossen, krausem, kupferrotem Haar und dunklen Wurzeln; Rick Trelawney, ein Bär von einem Mann in einem weiten, farbverschmierten T-Shirt und zerrissenen Jeans; sowie Seth Cotton, der in einem sandfarbenen Kittel aus seiner Werkstatt kam, ein großer, dünner Mann mit traurigen, braunen Augen, ordentlich gestutztem dunklem Haar und ebensolchem Bart, der ein dunkelhäutiges Gesicht einrahmte. Zu guter Letzt kam ein dürrer, feindselig dreinschauender Jugendlicher herein, den Banks noch nie gesehen hatte.

  »Wer sind Sie?«, fragte er.

  »Paul wohnt noch nicht lange hier«, sagte Mara schnell.

  »Und der Nachname?«

  Paul sagte nichts.

  »Das muss er nicht sagen«, behauptete Mara. »Er hat nichts getan.«

  Seth schüttelte den Kopf. »Sag es ihm besser gleich«, meinte er zu Paul gewandt. »Er kriegt es sowieso heraus.«

  »Er hat Recht«, sagte Banks.

  »Boyd, Paul Boyd.«

  »Schon mal Ärger gehabt, Paul?«

  Paul lächelte. Oder es war eine finstere Grimasse, Banks konnte es nicht sagen. »Und wenn? Ich habe keine Bewährung oder so. Ich muss mich nicht jedes Mal bei der örtlichen Wache melden, wenn ich wo hingehe, oder?« Er zog eine Zigarette aus einer schmuddeligen Zehnerpackung Players. Banks fiel auf, dass seine kurzen Finger leicht zitterten.

  »Ich möchte einfach nur wissen, wer neu in der Gemeinde ist«, sagte Banks freundlich. Er musste der Sache nicht weiter nachgehen. Wenn Boyd eine Vorstrafe hatte, würde ihn der Polizeicomputer mit allen Informationen versorgen, die er brauchte.

  »Also, wozu soll das jetzt hier gut sein?«, sagte Rick und lehnte sich gegen den Kaminsims. »Wenn ich fragen dürfte?«

  »Ihnen ist bekannt, was Freitagabend passiert ist. Sie wurden wegen Behinderung eines Polizeibeamten festgenommen.«

  Rick lachte.

  Banks ignorierte ihn und fuhr fort. »Ihnen ist auch bekannt, dass bei dieser Demonstration ein Polizist ermordet wurde.«

  »Wollen Sie sagen, Sie glauben, einer von uns hätte es getan?«

  Banks schüttelte den Kopf. »Ach, kommen Sie«, sagte er. »Sie kennen die Regeln genauso gut wie ich. In einer solchen Situation überprüfen wir alle politischen Gruppen.«

  »Wir sind nicht politisch«, entgegnete Mara.

  Banks schaute sich im Zimmer um. »Seien Sie nicht so naiv. Alles hier, alles, was Sie sagen und tun, ist eine politische Aussage. Es spielt keine Rolle, ob jemand von Ihnen einer offiziellen Partei angehört oder nicht. Das wissen Sie genauso gut wie ich. Außerdem müssen wir auf Hinweise reagieren, die wir erhalten.«

  »Was für Hinweise?«, wollte Rick wissen. »Wer hat da geredet?«

  »Das spielt keine Rolle. Wir haben nur gehört, dass Sie an der Sache beteiligt waren, das ist alles.« Burgess' Trick schien immerhin einen Versuch wert zu sein.

  »Wir waren also dort«, sagte Rick. »Seth und ich. Sie wissen das bereits. Wir haben ausgesagt. Wir haben Ihnen alles erzählt, was wir wissen. Warum kommen Sie jetzt her und belästigen uns? Was suchen Sie?«

  »Alles, was wir finden können.«

  »Hören Sie«, fuhr Rick fort, »ich verstehe immer noch nicht, warum Sie uns verfolgen. Ich kann mir nicht vorstellen, wer Ihnen etwas erzählt hat oder was das gewesen sein soll, aber Sie sind falsch informiert. Nur weil wir unser Recht in Anspruch nehmen, für eine Sache zu demonstrieren, an die wir glauben, haben Sie noch lange nicht das Recht, hier mit Ihren Gestapomethoden einzufallen und uns zu schikanieren.«

  »Die Gestapo hat keinen Durchsuchungsbefehl gebraucht.«

  Rick setzte ein spöttisches Lächeln auf und kratzte sich den wilden Bart. »Mit einem derartigen Friedensstifter, wie Sie ihn in Ihrer Tasche haben, halte ich das kaum für ein stichhaltiges Argument.«

  »Außerdem«, fuhr Banks fort, »verfolgen oder schikanieren wir Sie nicht. Glauben Sie mir, wenn wir es täten, würden Sie es merken. Erinnert sich jemand von Ihnen noch an etwas in Bezug auf Freitagnacht?«

  Seth und Rick schüttelten beide den Kopf. Banks schaute die anderen an. »Kommen Sie, ich nehme mal an, Sie waren alle dort. Keine Angst, beweisen kann ich es nicht. Ich werde Sie nicht verhaften, wenn Sie es zugeben. Es geht mir nur darum, dass jemand von Ihnen vielleicht etwas Wichtiges gesehen hat. Es handelt sich hier um eine Ermittlung in einem Mordfall.«

  Stille. Banks seufzte. »Schön. Geben Sie nicht mir die Schuld, wenn die Angelegenheit ungemütlicher wird. Ein Beamter aus London ist angereist. Ein Spezialist. Dirty Dick nennen ihn seine Freunde. Er ist wesentlich gemeiner als ich.«

  »Ist das eine Art Drohung?«, fragte Mara.

  Banks schüttelte den Kopf. »Ich gebe Ihnen nur Ihre Optionen bekannt, mehr nicht.«

  »Wie können wir Ihnen etwas erzählen, wenn wir nichts gesehen haben?«, warf Paul zornig ein. »Sie sagen, Sie wissen, dass wir dort waren. Okay. Vielleicht waren wir es. Ich sage nicht, dass wir dort waren, aber vielleicht. Das bedeutet nicht, dass wir etwas gesehen haben oder etwas Falsches getan haben. Wie Rick gesagt hat, wir hatten das Recht, dort zu sein. Noch ist das hier kein Scheiß-Polizeistaat.« Er wendete sich mürrisch ab und zog an seiner Zigarette.

  »Niemand bestreitet Ihr Recht, dort gewesen zu sein«, sagte Banks. »Ich möchte nur wissen, ob Sie etwas gesehen haben, das uns helfen könnte, diesen Mord aufzuklären.«

  Stille.

  »Besitzt jemand von Ihnen ein Klappmesser?«

  Rick verneinte, die anderen schüttelten den Kopf.

  »Ist Ihnen hier mal eines unter die Augen gekommen? Kennen Sie jemanden, der eines hat?«

  Wieder nichts. Banks meinte, er hätte gesehen, wie ein Anflug von Überraschung über Maras Gesicht huschte, aber es hätte auch eine Lichttäuschung sein können.

  In der darauf folgenden Stille kamen Craig und McDonald die Treppen herab, schüttelten den Kopf und gingen raus, um die Außengebäude zu durchsuchen. Zwei kleine Kinder liefen aus der Küche herein und stürmten auf Mara zu, jedes klammerte sich an eine Hand. Banks lächelte sie an, aber sie starrten nur am Daumen nuckelnd zurück.

  Er versuchte sich vorzustellen, dass Brian und Tracy, seine eigenen Kinder, unter solchen Bedingungen, isoliert von anderen Kindern, aufwuchsen. Auf jeden Fall schien es in der Wohnung keinen Fernseher zu geben. Banks war generell gegen das Fernsehen und er versuchte immer darauf aufzupassen, dass Brian und Tracy nicht zu viel guckten. Aber wenn Kinder überhaupt nicht fernsahen, dann konnten sie bei ihren Freunden nicht mitreden. Man musste einen Kompromiss finden, heutzutage konnte man die verdammte Glotze nicht einfach ignorieren, so sehr man es sich auch wünschte.

  Andererseits machten diese Kinder nicht im Mindesten einen verwahrlosten Eindruck, und es gab keinen Grund anzunehmen, dass Rick und die anderen keine guten Eltern waren. Banks wusste, dass Seth Cotton im Ruf stand, ein guter Tischler zu sein, und Maras Töpferware verkaufte sich gut in der Gegend. Sandra besaß sogar ein Stück von ihr, eine wohlgeformte Vase, die in einer Mischung aus Grün, Ultramarin und dergleichen glasiert war. Er wusste nicht, von welcher Qualität Rick Trelawneys Gemälde waren, aber wenn die heimatliche Landschaft über dem Kamin von ihm war, dann war auch er gut. Nein, er hatte keine Veranlassung, seine beschränkte Sichtweise über ihre zu erheben. Wenn die Kinder zu kreativen, aufgeschlossenen Erwachsenen heranwuchsen, wenn ihr Geist nicht vom Fernsehen und der Massenkultur verschmutzt wurde, was konnte so falsch daran sein?

  Abgesehen von den Klängen des Windspiels saßen sie in völliger Stille da, bis Rick schließlich sprach. »Wissen Sie«, sagte er zu Banks, »wie viele Kinder in den Gebieten um Sellafield und anderen Atomkraftwerken mit Leukämie und seltenen Krebsarten zur Welt kommen? Haben Sie auch nur die leiseste Ahnung?«

  »Hören Sie«, sagte Banks. »Ich bin nicht hier, um Ihre Ansichten anzuprangern. Es ist Ihr gutes Recht, so zu denken. Vielleicht bin ich sogar Ihrer Meinung. Doch was Freitagabend passiert ist, hat damit nichts zu tun. Ich bin nicht hier, um über Politik oder Philosophie zu diskutieren, ich untersuche einen Mordfall. Warum kriegen Sie das nicht in Ihren Kopf?«

  »Vielleicht kann man das nicht so fein säuberlich trennen, wie Sie glauben«, behauptete Rick. »Politik, Philosophie, Mord - das hängt alles zusammen. Schauen Sie sich Lateinamerika, Israel, Nicaragua oder Südafrika an. Außerdem hat die Polizei angefangen. Erst haben sie uns wie Tiere eingepfercht, dann sind sie mit ihren Schlagstöcken auf uns losgegangen. Genau wie so ein chilenisches Schlägerkommando. Wenn auch ein paar Polizisten verletzt wurden, dann haben sie es verdammt noch mal verdient.«

  »Einer von ihnen wurde ermordet. Ist das auch in Ordnung?«

  Rick wendete sich angewidert ab. »Ich habe nie behauptet, ein Pazifist zu sein«, brummte er und schaute Seth an. »Jetzt gibt es eine Untersuchung durch die hiesige Polizei«, fuhr er fort, »und die ganze Sache wird manipuliert. Sie können von uns nicht erwarten, dass wir dabei noch an Objektivität glauben. Wenn es darauf ankommt, haltet ihr Arschlöcher immer zusammen.«

  »Glauben Sie, was Sie wollen«, sagte Banks.

  Craig und McDonald kamen durch die Küche zurück.

  Sie hatten nichts gefunden. Mittlerweile war es elf Uhr. Um zwölf sollte Banks Burgess, Hatchley und Richmond im Queen's Arms treffen, um die Ergebnisse zu vergleichen. Es hatte keinen Zweck, noch länger über nukleare Ethik mit Rick zu diskutieren, also stand Banks auf und ging zur Tür.

  Als er sich die Jacke zuhielt und sich gegen den Wind zum Wagen schob, spürte er, wie ihm jemand durchs Fenster hinterherstarrte. Im Haus hatte eine spürbare Angst in der Luft gelegen. Nicht nur die Angst vor einer Polizeirazzia, die sie erwartet hatten, sondern noch eine andere. Die Atmosphäre war nicht so harmonisch, wie ihm vorgespielt wurde. Doch erst einmal legte er sein unruhiges Gefühl zu den Akten, um es sich später durch den Kopf gehen zu lassen - gemeinsam mit den tausend anderen Dingen, konkreten und nebulösen, die sich während einer Ermittlung von selbst einstellten.

 

* II

 

»Nichts«, knurrte Burgess und drückte seine Zigarre im Aschenbecher in der Mitte der Kupfertischplatte aus, als wollte er ihr den Hals umdrehen. »Alles absolute Arschlöcher. Und diese Frau ist total verrückt. Ich schwöre, sie war kurz davor, mich zu beißen.«

  Zum ersten Mal überhaupt spürte Banks einen plötzlichen Anflug von Zuneigung für Dorothy Wycombe.

  Doch alles in allem war der Vormittag für jeden enttäuschend verlaufen. Wie nicht anders zu erwarten, hatten die Durchsuchungen weder die Mordwaffe noch Dokumente zu Tage befördert, die den von Burgess vermuteten terroristischen Hintergrund belegten. Keiner der Zeugen hatte seine Aussage widerrufen, und die Reaktionen auf Burgess' Taktik des Zersprengens und Eroberns waren nicht der Rede wert gewesen.

  Sergeant Hatchley berichtete, dass die Friedensgruppe der Kirche fassungslos auf den Mord reagiert und sogar Gebete für Constable Gill bei ihrem morgendlichen Gottesdienst angeboten hätte. Die Studentenvertretung hielt es laut Richmond, der ihre Leiter, Tim Fenton und Abha Sutton, aufgesucht hatte, für typisch, dass die anderen ihnen die Schuld an den Ereignissen in die Schuhe schoben, beide bestanden aber darauf, dass Mordanschläge nicht zu ihrem Programm einer friedlichen Revolution gehörten. Während Burgess Dorothy Wycombe durchaus eines Mordes für fähig hielt, besonders an einem Mitglied der männlichen Spezies, war sie unnachgiebig geblieben und hatte eine derartige Unterstellung lächerlich gefunden.

  »Also sind wir wieder da, wo wir angefangen haben«, sagte Hatchley. »Hundert Verdächtige und nicht der kleinste Hinweis.«

  »Einer der Jungs, der Freitagabend Dienst hatte«, sagte Richmond, »hat mir erzählt, dass Dorothy Wycombe, Dennis Osmond und ein paar Leute von Maggie's Farm einmal ganz vorne gestanden haben. Aber er sagte, als die Kämpfe begannen, geriet alles durcheinander. Er sagte auch, ihm wäre so ein junger Punk unter ihnen aufgefallen.«

  »Das wird Paul Boyd gewesen sein«, sagte Banks. »Er scheint auch auf dem Hof zu wohnen. Checken Sie ihn mal im Computer, Phil, mal sehen, was rauskommt. Ich wäre nicht überrascht, wenn er schon mal gesessen hätte. Wenn Sie schon dabei sind, finden Sie gleich so viel Sie können über den ganzen Haufen da oben heraus. Ich habe das komische Gefühl, dass da nicht alles mit rechten Dingen zugeht.« Er schaute zu Burgess hinüber, der abwesend Glenys anzustarren schien. Ihr Mann war nicht zu sehen.

  »Vielleicht sollten wir mal Gills Hintergrund durchleuchten«, schlug Banks vor.

  Burgess drehte sich zu ihm um. »Warum?«

  »Vielleicht hatte jemand einen Grund, ihm den Tod zu wünschen. Sollte das Messer nicht auftauchen, werden wir nur auf der Basis von Möglichkeiten und Gelegenheiten nicht weiterkommen, aber wenn wir ein Motiv finden könnten ...«

  Burgess schüttelte den Kopf. »Nicht bei so einem Verbrechen. Ob es nun geplant oder ganz spontan war, das Opfer war zufällig. Es hätte jeden anderen Dienst habenden Polizisten erwischen können. Der arme Gill hatte einfach Pech, mehr nicht.«

  »Trotzdem«, beharrte Banks, »warum sollen wir es nicht tun? Vielleicht wurde die Demo nur als Deckung benutzt.«

  »Nein. Zunächst einmal würde es nicht gut aussehen. Was ist, wenn die Zeitungen herausfinden, dass wir gegen einen von uns ermitteln? Wir haben schon genug Ärger mit einer Untersuchung der ganzen verdammten Scheiße. Das würde der Presse nur genug Munition geben, um auf uns zu feuern, ohne dass wir ihnen die Sache noch extra erleichtern. Mein Gott, es gibt bereits genug Verrückte und Kommunisten zu untersuchen, da müssen wir nicht noch einen anständigen Polizisten mit reinziehen. Was ist mit diesem Osmond? Hat schon jemand mit ihm gesprochen?«

  »Nein«, sagte Banks. »Nicht seit Freitagnacht.«

  »Na gut, dann werden wir das machen. Würden Sie eine neue Runde holen?« Burgess reichte Richmond einen Fünfer.

  Richmond nickte und ging zur Theke. Burgess war von Double Diamond auf einen doppelten Scotch umgestiegen, angeblich weil der für seinen Magen besser verträglich war, aber Banks hatte den Verdacht, er wollte nur Glenys mit seiner Großkotzigkeit beeindrucken. Und jetzt zeigte er ihr, dass er zu wichtig war, um ihre kleine Konferenz zu verlassen und dass er die Macht besaß, andere für ihn bestellen zu lassen. Gute Taktik, aber würde er damit bei ihr Erfolg haben?

  »Sie und ich, Banks«, sagte er, »werden heute Nachmittag diesen Osmond aufsuchen. Richmond kann die Aussteiger abchecken, bei denen Sie waren, und den Computer noch mit ein paar weiteren Namen füttern. Sergeant Hatchley hier kann damit anfangen, Akten über die Führer der verschiedenen involvierten Gruppierungen anzulegen. Um Unstimmigkeiten aufzudecken, müssen die Aussagen untereinander überprüft werden, außerdem sollten alle späteren Aussagen mit den ursprünglichen gegengecheckt werden. Irgendjemand wird sich über kurz oder lang verplappern, und wir werden das Arschloch dabei erwischen. Prost.« Er trank seinen Scotch, drehte sich um und zwinkerte Glenys zu. »Übrigens«, sagte er zu Banks, »in diesem Scheißbüro, das Sie mir gegeben haben, kann sich nicht mal eine tote Katze umdrehen. Gibt es kein anderes?«

  Banks schüttelte den Kopf. »Tut mir Leid, wir haben Platzmangel. Entweder das oder eine Zelle.«

  »Was ist mit Ihrem Büro?«

  »Zu klein für zwei.«

  »Ich meinte, für einen. Mich.«

  »Vergessen Sie es. Ich habe meine ganzen Akten und Berichte da drinnen. Außerdem ist es kalt und die Jalousien funktionieren nicht.«

  »Mmmmh. Trotzdem ...«

  »Sie könnten den größten Teil Ihres Schreibkrams im Hotelzimmer erledigen«, schlug Banks vor. »Es ist nah genug, groß genug und es gibt ein Telefon.« Und außerdem bist du mir aus dem Weg, dachte er.

  Burgess nickte langsam. »Na gut. Im Moment geht es. Kommen Sie!« Er sprang auf und schlug Banks auf den Rücken. »Schauen wir zuerst, ob sich im Revier was ergeben hat, dann fahren wir los und unterhalten uns mit Mr. Dennis Osmond von der Kampagne für atomare Abrüstung.«

  Nichts hatte sich ergeben, und sobald Richmond Paul Boyds Akte ausfindig gemacht und Banks einen kurzen Blick darauf geworfen hatte, fuhren die beiden mit Banks' weißem Cortina zu Osmonds Wohnung.

  »Erzählen Sie mir von diesem Boyd«, bat Burgess, als Banks losfuhr.

  »Üble Sache.« Banks steckte eine Billie-Holiday-Kassette in die Anlage und drehte die Lautstärke runter. »Er fing schon als Jugendlicher an, Bandenkämpfe, Körperverletzung, solche Sachen, schmiss die Schule und lungerte mit den ganzen anderen Kaputten auf der Straße rum. Er wurde dreimal eingelocht, beim letzten Mal für achtzehn Monate. Zum ersten Mal, noch minderjährig, war es Trunkenheit und ungebührliches Benehmen, dann ein tätlicher Angriff auf einen Polizeibeamten, der eine Horde Punks verscheuchen wollte, die in der Stadtmitte von Liverpool die Käufer erschreckten. Danach war es eine Anzeige wegen Drogenbesitzes, er hatte eine geringfügige Menge Amphetamine dabei. Dann wurde er eingesperrt, weil er in eine Apotheke eingebrochen ist, um Pillen zu klauen. Seit einem Jahr ist er jetzt sauber.«

  Burgess rieb sein Kinn. »Mit Fußballhooligans hat das nichts mehr zu tun, oder? Vielleicht ist er kein sportlicher Typ. Tätlicher Angriff auf einen Polizeibeamten, sagten Sie?«

  »Ja. Er und ein paar andere. Sie haben ihm nichts Schlimmes getan, deshalb kamen sie glimpflich davon.«

  »Das ist das verdammte Problem«, sagte Burgess. »Die meisten kommen glimpflich davon. Irgendwelche politischen Verbindungen?«

  »Keine, soweit wir bisher wissen. Richmond war noch nicht im Programm der Special Branch, deshalb konnten wir seine Freunde und Bekannten noch nicht überprüfen.«

  »Und sonst?«

  »Nicht viel. Die meisten seiner Bewährungshelfer und Sozialarbeiter schienen ihn aufgegeben zu haben.«

  »Die arme Sau, mir kommen die Tränen. Sieht aus, als hätten wir einen möglichen Kandidaten. Dieser Osmond ist Sozialarbeiter, oder?«

  »Ja.«

  »Vielleicht weiß er etwas über den Jungen. Erinnern Sie mich daran, ihn zu fragen. Woher kommt Boyd?«

  »Liverpool.«

  »Verbindungen zur IRA?«

  »Nicht, dass ich wüsste.«

  »Trotzdem ...«

  Dennis Osmond wohnte in einer Zweizimmerwohnung im Nordosten von Eastvale. Die Häuser hier gehörten ursprünglich zum sozialen Wohnungsbau, doch als die Regierung sie zu veräußern begann, ergriffen die Mieter die Gelegenheit und kauften ihre Wohnungen günstig auf.

  Osmond öffnete die Tür mit freiem Oberkörper und ließ Banks und Burgess herein. Er war groß und schlank, hatte eine stark behaarte Brust und eine Schmetterlingstätowierung auf seinem rechten Oberarm. Um den Hals trug er eine Kette mit einem goldenen Kruzifix. Mit seinem zotteligen, dunklen Haar und dem südländischen Äußeren sah er wie die Sorte Mann aus, auf die Frauen flogen. Er bewegte sich langsam und ruhig, ihr Besuch schien ihn nicht im Geringsten zu überraschen.

  Die Wohnung hatte ein geräumiges Wohnzimmer mit einem großen Fenster mit Blick auf die fruchtbare Ebene im Osten Swainsdales: Ein Schachbrett gepflügter, tiefbrauner Felder, von Hecken begrenzt, die auf den Frühling warteten. Die Einrichtung war modern und einfach. An der Wand über einem imitierten Kamin hing ein großes, gerahmtes Gemälde. Banks musste ganz genau hinsehen, um festzustellen, dass die Leinwand nicht leer war: Sie war mit schwachen roten und schwarzen Linien überzogen.

  »Wer ist es?«, rief eine Frauenstimme hinter ihnen. Banks drehte sich um und sah, wie Jenny Füller ihren Kopf durch die Tür steckte. Soweit er das sagen konnte, trug sie einen weiten Morgenrock und hatte zerzaustes Haar. Als sich ihre Blicke trafen, spürte er, wie sich sein Magen verkrampfte und sein Brustkorb zusammenzog. Sie in einer solchen Situation anzutreffen, hatte er nicht erwartet. Er war überrascht, wie schwer es ihn traf.

  »Polizei«, sagte Osmond. Doch Jenny hatte bereits die Tür hinter sich verschlossen.

  Burgess, der alles genau beobachtet hatte, machte keine Bemerkung. »Können wir uns setzen?«, fragte er.

  »Bitte.« Osmond deutete auf die Sessel. Während es die beiden sich so bequem wie möglich machten, zog er ein schwarzes T-Shirt über den Kopf. Auf der Vorderseite prangte das Symbol der Kampagne für atomare Abrüstung, ein Kreis mit dem weit verbreiteten, umgedrehten Y in der Mitte. In einem Halbkreis darunter stand ATOMKRAFT? NEIN DANKE!

  Banks holte seine Zigaretten hervor und schaute sich nach einem Aschenbecher um.

  »Es wäre mir lieber, wenn Sie nicht rauchen würden«, sagte Osmond. »Auch passives Rauchen ist schädlich.« Er hielt inne und musterte Banks. »Sie sind also Detective Chief Inspector Banks, oder? Ich habe schon eine Menge von Ihnen gehört.«

  »Hoffentlich nur Gutes«, sagte Banks gelassener, als es seiner Stimmung entsprach. Was hatte ihm Jenny über ihn erzählt? »Das spart uns Zeit beim Kennenlernen, oder?«

  »Und Sie sind das Genie, das aus London geschickt wurde«, sagte Osmond zu Burgess.

  »Hey, hey, der Nachrichtendienst arbeitet gut, was?« Dirty Dick lächelte. Seine Art zu lächeln machte die meisten Leute nervös, doch bei Osmond schien es nicht zu wirken. Als sich Banks in dem Sessel niederließ, konnte er sehen, wie sich Jenny im Nebenzimmer anzog. Wahrscheinlich das Schlafzimmer, dachte er trübsinnig, mit zerwühltem und beflecktem Doppelbett und dem Feuilletonteil der Sunday Times über den zerknitterten Laken verteilt. Er holte sein Notizbuch hervor und richtete sich so gut es ging auf die Befragung ein.

  »Was wollen Sie?«, fragte Osmond, hockte sich auf die Kante des Sofas und beugte sich vor.

  »Ich habe gehört, Sie waren einer der Organisatoren der Demonstration am Freitag«, begann Burgess.

  »Und wenn?«

  »Außerdem sind Sie Mitglied der Kampagne für atomare Abrüstung und der Sozialistischen Internationale, wenn ich mich nicht irre.«

  »Bei Amnesty International bin ich auch, nur falls Sie das noch nicht in Ihren Akten haben. Und soviel ich weiß, ist das noch kein Verbrechen.«

  »Seien Sie nicht so empfindlich.«

  »Können Sie zur Sache kommen? Ich habe nicht den ganzen Tag Zeit.«

  »O doch, das haben Sie«, sagte Burgess. »Und die ganze Nacht auch, wenn ich das möchte.«

  »Sie haben kein Recht...«

  »Ich habe jedes Recht. Einer aus Ihrem Haufen - vielleicht sogar Sie selbst - hat am Freitagabend einen anständigen, unbescholtenen Polizisten umgebracht, und so was mögen wir nicht, so was mögen wir überhaupt nicht. Tut mir Leid, wenn ich Sie von Ihrer Konkubine fernhalte, aber so ist es nun einmal. Wessen Idee war es?«

  Osmond runzelte die Stirn. »Wessen Idee war was? Und ich mag es nicht, wenn Sie so von Jenny sprechen.«

  »Ach nein?« Burgess kniff seine Augen zusammen. »Ich kann noch ganz anders von ihr sprechen, Freundchen, wenn Sie nicht bald kooperieren. Wessen Idee war die Demonstration?«

  »Keine Ahnung. Sie kam einfach so zusammen.«

  Burgess seufzte. »Sie kam einfach so zusammen«, äffte er nach und schaute dabei Banks an. »Was soll das denn bedeuten? Männer und Frauen kommen zusammen, wenn sie Glück haben, aber keine politischen Demonstrationen. Die plant man. Was wollen Sie mir erzählen?«

  »Genau das, was ich gesagt habe. Hier gibt es eine Menge Leute, die gegen Atomwaffen sind.«

  »Wollen Sie mir erzählen, dass Sie sich an dem Abend alle ganz zufällig vor dem Gemeindezentrum getroffen haben? Wollen Sie mir das sagen? >Hallo, Fred, schön, dich hier zu treffen. Komm, machen wir eine Demo.< Meinen Sie das?«

  Osmond zuckte mit den Schultern.

  »Sie erzählen Scheiße, Osmond, Schwachsinn ist das. Das war eine organisierte Demonstration, und das bedeutet, dass sie jemand organisiert hat. Vielleicht hat sogar jemand einen kleinen Mord arrangiert, um die Sache aufzupeppen. Also, der einzige Jemand, von dem wir bisher mit Sicherheit wissen, sind Sie. Vielleicht haben Sie alles allein gemacht, aber ich wette, Sie hatten Hilfe. Nach wessen Pfeife tanzen Sie, Mr. Osmond? Moskaus? Pekings? Oder ist es vielleicht Belfast?«

  Osmond lachte. »Da haben Sie die Politik ein bisschen durcheinander gewürfelt, was? Ein Sozialist ist was anderes als ein Maoist. Außerdem ist der große Vorsitzende heutzutage außer Mode. Und was die IRA angeht, Sie können doch wohl nicht ernsthaft glauben ...«

  »Sie wären überrascht, an wie viele Dinge ich ernsthaft glaube«, unterbrach ihn Burgess. »Und die Scheißbelehrung können Sie sich sparen. Wer hat Ihnen Ihre Befehle gegeben?«

  »Sie liegen falsch«, sagte Osmond. »Es war nicht im Entferntesten so. Und selbst wenn noch jemand anderes beteiligt war, glauben Sie, ich würde Ihnen sagen, wer es war?«

  »Ja, glaube ich«, sagte Burgess. »Nichts ist sicherer als das. Die einzige Frage ist, wann und wo Sie es mir erzählen werden.«

  »Hören Sie«, sagte Banks, »wir finden es sowieso heraus. Es gibt keinen Grund, die ganze Verantwortung auf die eigene Kappe zu nehmen und nachher noch wegen Zurückhaltung von Informationen in einer Mordermittlung angezeigt zu werden. Wenn Sie es nicht getan haben und glauben, dass Ihre Freunde es auch nicht waren, dann brauchen Sie sich keine Sorgen zu machen, oder?« Obwohl er eine ausgeprägte und instinktive Abneigung gegen Osmond hatte, fiel Banks die Rolle des netten Kerls an der Seite des barschen Burgess leicht. Wenn er mit Sergeant Hatchley Verdächtige verhörte, wechselten sie immer ihre Rollen. Doch Burgess kannte nur eine Vorgehensweise: Mit dem Kopf durch die Wand.

  »Hören Sie ihm zu«, sagte Burgess. »Er hat Recht.«

  »Warum holen Sie sich Ihre Informationen dann nicht von jemand anderem?«, wollte Osmond von Banks wissen. »Ich werde den Teufel tun und Ihnen irgendetwas erzählen.«

  »Besitzen Sie ein Klappmesser?«, fragte Burgess.

  »Nein.«

  »Haben Sie jemals eines besessen?«

  »Nein.«

  »Kennen Sie jemanden, der eines besitzt?«

  Osmond schüttelte den Kopf.

  »Kannten Sie Constable Gill?«, fragte Banks. »Hatten Sie vor letztem Freitag jemals Kontakt mit ihm?«

  Osmond schien von der Frage verwirrt zu sein, und als er sie schließlich verneinte, klang es nicht wahr. Burgess schien nichts zu bemerken, doch Banks nahm sich vor, die Möglichkeit zu überprüfen, dass Osmond und Gill irgendetwas miteinander zu tun gehabt hatten.

  Die Schlafzimmertür öffnete sich und Jenny kam herein. Sie hatte sich das Haar gebürstet und Jeans sowie ein weites, kariertes Hemd angezogen. Banks wettete, dass es Osmond gehörte, und versuchte nicht daran zu denken, was vorher im Schlafzimmer los gewesen sein mochte.

  »Hallo, Schätzchen«, sagte Burgess und klopfte auf einen leeren Stuhl neben sich. »Wollen Sie sich zu uns gesellen? Wie heißen Sie?«

  »Zuerst einmal«, sagte Jenny steif, »bin ich nicht Ihr Schätzchen und außerdem geht Sie mein Name einen Dreck an. Ich war Freitag nicht mal dabei.«

  »Wie Sie wollen«, sagte Burgess. »Ich wollte nur freundlich sein.«

  Jenny schaute Banks an, als wollte sie fragen: »Wer ist dieses Arschloch?« Burgess bemerkte den Blickkontakt.

  »Kennen Sie sich?«, wollte er wissen.

  Banks fluchte innerlich und spürte, wie er rot wurde. Es gab kein Zurück mehr. »Das ist Dr. Füller«, sagte er. »Sie half uns bei einem Fall vor einem Jahr oder so.«

  Burgess strahlte Jenny an. »Verstehe. Nun, vielleicht können Sie uns erneut helfen, Dr. Füller. Ihr Freund hier will nicht mit uns sprechen, aber da Sie der Polizei ja schon einmal ...«

  »Lassen Sie sie in Ruhe«, sagte Osmond. »Sie hat nichts damit zu tun.« Banks sah das genauso, er wollte nicht, dass Burgess Jenny in die Krallen bekam. Doch er missgönnte Osmond, dass er in der Position war, sie verteidigen zu können.

  »Ziemlich bissig heute, was?«, sagte Burgess. »In Ordnung, Freundchen, wie Sie wünschen. Dann werden wir uns wieder Ihnen widmen.« Aber er schaute weiterhin Jenny an, und Banks wusste, dass er sie für zukünftige Zwecke abspeicherte. Banks fiel es nun schwer, ihr in die Augen zu schauen. Er war lediglich Detective Chief Inspector und Burgess war Superintendent. Solange alles seinen Gang ging, würde Burgess nicht den Vorgesetzten herauskehren, aber sollte Banks nur einen Teil seiner Gefühle zu Jenny zeigen oder versuchen, sie in irgendeiner Weise zu beschützen, dann würde Burgess ihn mit Sicherheit demütigen wollen. Aber ihren Ritter in glänzender Rüstung hatte sie ja sowieso in Gestalt von Osmond. Sollte er die Artillerie übernehmen.

  »Weswegen wurden Sie am Freitag angezeigt?«, wollte Burgess wissen.

  »Sie wissen verdammt genau, weswegen ich angezeigt wurde. Eine reine Erfindung.«

  »Aber was war es? Erzählen Sie es mir. Sagen Sie es. Mir zuliebe.« Burgess griff in seine Jackentasche und holte seine Dose Tom Thumbs hervor. Ohne Osmond aus den Augen zu lassen, zog er langsam eine Zigarre heraus und zündete sie an.

  »Ich sagte, ich möchte nicht, dass hier drinnen geraucht wird«, protestierte Osmond wie aufs Stichwort. »Das ist meine Wohnung und ...»

  »Halten Sie den Mund«, sagte Burgess, gerade laut genug, um ihn verstummen zu lassen. »Wie lautete die Anklage?«

  »Ruhestörung«, brummte Osmond. »Aber wie gesagt, das war reine Erfindung. Wenn jemand die Ruhe gestört hat, dann die Polizei.«

  »Haben Sie jemals von einem Jungen namens Paul Boyd gehört?«, fragte Banks.

  »Nein.« Eine dreiste Lüge. Osmond hatte geantwortet, noch bevor er Zeit hatte, die Frage aufzunehmen. Banks hätte die Lüge auch dann durchschaut, wenn er nicht durch Jenny wüsste, dass Osmond mit den Bewohnern von Maggie's Farm bekannt war.

  »Hören Sie«, fuhr Osmond fort. »Ich beginne eine eigene Ermittlung zu den Ereignissen vom Freitag. Ich werde Aussagen aufnehmen, und glauben Sie mir, ich werde dafür sorgen, dass Ihr Verhalten heute Erwähnung im Abschlussbericht finden wird.«

  »Na großartig«, sagte Burgess. Dann schüttelte er langsam den Kopf. »Sie kapieren es nicht, Freundchen, oder? Mit so einer Beleidigten-Leberwurst-Scheiße beeindrucken Sie vielleicht die Einheimischen, aber bei mir zieht das nicht. Und wissen Sie, warum nicht?«

  Osmond zog ein finsteres Gesicht und sagte nichts.

  »Ich sagte, wissen Sie, warum nicht?

  »Okay, nein, ich weiß nicht, warum nicht, verdammt noch mal.«

  »Weil ich keinen Fliegenschiss auf Sie oder Ihresgleichen gebe«, sagte Burgess und stieß seine Zigarre in die Luft. »Soweit es mich betrifft, sind Sie ein Stück Scheiße, und uns würde es allen wesentlich besser ohne Sie gehen. Und die Leute, mit denen ich arbeite, denken genauso. Es spielt keine Rolle, ob Detective Chief Inspector Banks hier heiß auf Ihre Dr. Füller ist und ihr kein Härchen krümmen kann. Es spielt auch keine Rolle, ob er ein soziales Gewissen hat und die Rechte der Leute respektiert. Denn ich tue es nicht, und meine Bosse auch nicht. Wir scheißen uns nicht in die Hose, wir erledigen die Dinge, und Sie würden gut daran tun, sich das hinter die Ohren zu schreiben, Sie beide.«

  Jenny war vor Wut rot und sprachlos geworden; Banks fühlte sich bleich und machtlos. Er hätte sich denken können, dass Burgess nichts entgehen würde.

  »Ich kann Ihnen nichts sagen«, wiederholte Osmond müde. »Warum wollen Sie mir nicht glauben? Ich weiß nicht, wer diesen Polizisten umgebracht hat. Ich habe es nicht gesehen, ich habe es nicht getan und ich weiß nicht, wer es getan hat.«

  Darauf folgte eine lange Stille. Auf jeden Fall kam sie Banks lang vor, der nur sein eigenes Herzklopfen vernahm. Schließlich stand Burgess auf, ging zum Fenster und drückte seine Zigarre auf dem weißen Sims aus. Dann drehte er sich um und lächelte. Osmond umklammerte die Metalllehnen seines Sessels.

  »Okay«, sagte Burgess und wendete sich an Banks. »Dann gehen wir fürs Erste. Tut mir Leid, Ihnen den Nachmittag im Bett versaut zu haben. Sie können ja jetzt weitermachen, wenn Sie wollen.« Er schaute Jenny an und fuhr mit seiner Zunge über die Lippen. »Ein bezauberndes Hemd haben Sie da an, Schätzchen«, sagte er zu ihr. »Aber meinetwegen hätten Sie es ruhig ganz zuknöpfen können. Ich habe nämlich eine Menge Phantasie.«

  Unten im Wagen ließ Banks seinen Dampf ab. »Sie sind da drinnen entschieden zu weit gegangen«, sagte er. »Es gab keinen Grund, Jenny zu beleidigen, und es gab erst recht keine Notwendigkeit, mir derart in den Rücken zu fallen, wie Sie es getan haben. Was zum Teufel wollten Sie damit erreichen?«

  »Ich wollte die beiden nur ein bisschen aus der Reserve locken, mehr nicht.«

  »Und Sie meinen, wenn Sie mich als geilen Bock hinstellen, locken Sie die beiden aus der Reserve?«

  »Verstehen Sie das nicht? Wenn wir Osmond eifersüchtig machen, kommt er vielleicht aus der Deckung.« Burgess grinste. »Und außerdem, zwischen Ihnen beiden war doch nichts, oder?«

  »Natürlich nicht.«

  »Mich dünkte, der Kerl protestierte zu sehr.«

  »Sie können mich mal!«

  »Ach, kommen Sie«, sagte Burgess gelassen. »Nehmen Sie es nicht so ernst. Der Zweck heiligt die Mittel. Gott, ich kann es Ihnen nicht verdenken. Ich würde die auch nicht von der Bettkante stoßen. Hübsches Paar Titten unter dem Hemd. Haben Sie gesehen?«

  Banks holte tief Luft und griff nach einer Zigarette. Er merkte, dass es zwecklos war, sich weiter aufzuregen. Burgess war eine unaufhaltsame Kraft. So wütend und durcheinander Banks sich auch fühlte, es hatte keinen Sinn, es noch länger zu zeigen. Stattdessen beherrschte er sich, und das hätte er schon von Anfang an tun sollen. Doch die Gefühle brodelten auch noch unter der Oberfläche weiter. Er war sauer auf Burgess, er war sauer auf Osmond, er war sauer auf Jenny und vor allem war er sauer auf sich selbst.

  Nachdem er den Wagen ruckartig gestartet hatte, schob er die Kassette wieder ein und drehte die Lautstärke auf. Billie Holiday sang »God Bless the Child«, und während sie durch den strahlenden, stürmischen Märztag zurück zum Marktplatz fuhren, pfiff Burgess munter mit.

 

* III

 

Sie waren alle ein bisschen betrunken, und das war ungewöhnlich auf Maggie's Farm. Mara war jedenfalls schon lange nicht mehr so beschwipst gewesen. Rick zeichnete sie, wie sie im Wohnzimmer beisammen saßen. Paul trank Dosenbier, und selbst Zoe hatte sich kichernd dem Weißwein hingegeben. Aber Seth war am schlimmsten. Er sprach undeutlich, seine Augen tränten und er hatte seine Bewegungen nicht mehr unter Kontrolle. Außerdem erzählte er rührselig von den sechziger Jahren, was er in nüchternem Zustand nie tat. Mara hatte ihn erst einmal betrunken erlebt, als er sich wegen des Todes seiner Frau hatte gehen lassen. Ansonsten war er sehr zurückhaltend und lebte sein Leben, ohne sich zu beklagen.

  Alles hatte ganz harmlos begonnen. Nach dem Besuch der Polizei waren sie alle auf einen Drink zum Black Sheep spaziert. Vielleicht hatte sie die Erleichterung, die feierliche Stimmung dazu ermuntert, mehr als sonst zu trinken. Zum Schluß hatten sie ein paar Dosen Carlsberg, einige Flaschen Weißwein und eine Flasche Scotch mit nach Hause genommen. Fast den ganzen Nachmittag hatten Seth und Mara in den Zeitungen geschmökert oder vor dem Kamin gedöst, während Paul in der Werkstatt herumgammelte, Rick in seinem Atelier malte und Zoe mit den Kindern spielte. Am frühen Abend kamen alle wieder zusammen und machten sich über den Whisky und den Wein her.

  Seth stolperte zur Stereoanlage und suchte aus seiner Sammlung eine verkratzte, alte Grateful-Dead-Platte heraus. »Das waren noch Zeiten«, sagte er. »Aus und vorbei. Heute jagen die Leute nur noch dem Geld hinterher. ScheißYuppies.«

  Rick schaute von seinem Skizzenblock auf und lachte. »War das jemals anders?«

  »Isle of Wright, Knebworth ...« Seth listete alle Rockfestivals auf, bei denen er gewesen war. »Damals ging es den Leuten noch um was.«

  Mara hörte seinem Gefasel zu. Seit der Demo hatten sie eine Menge Stress gehabt, dachte sie, und das war Seths Art, sich davon freizumachen. Dem Zauber der Nostalgie zu verfallen war nicht schwer. Auch sie erinnerte sich an die Sechziger - oder besser gesagt an die späten sechziger Jahre, als die Hippiewelle endgültig nach England geschwappt war. Damals hatte tatsächlich alles besser ausgesehen. Einfacher. Klarer. Es gab uns und die anderen, und diese anderen erkannte man an der Kürze ihrer Haare.

  »... Santana, Janis, Hendrix, die Doors. Verdammt, selbst die Hare Krishnas machten damals Spaß. Jetzt laufen alle in Schlips und Kragen rum. Ich erinnere mich, wie einmal...«

  »Das ist alles Scheiße!«, schrie Paul und knallte seine leere Dose auf den Boden. »So ist es nie gewesen. Du lügst dir nur selbst in die Tasche, Seth.«

  »Woher willst du das wissen?« Seth setzte sich auf und stützte sich wackelig auf seinen Ellbogen. »Du warst nicht dabei, oder? Damals bist du noch mit der Rassel um den Tannenbaum gerannt.«

  »Meine Eltern waren Hippies«, sagte Paul verächtlich. »Scheiß-Blumenkinder. Meine Mutter starb an einer Überdosis, und mein Alter war zu stoned, um sich um mich zu kümmern, also hat er mich weggegeben.«

  Mara war wie gelähmt. Paul hatte vorher noch nie über seine leiblichen Eltern gesprochen, sondern nur darüber, wie schlecht er in seiner Pflegefamilie behandelt worden war. Wenn es stimmte, dachte sie, sah er Seth und sie dann tatsächlich im gleichen Licht? Sie waren ungefähr im richtigen Alter. Hasste er auch sie?

  Doch das konnte sie nicht glauben. Es gab noch eine andere Seite der Medaille. Paul suchte nach dem, was er verloren hatte, und wenigstens etwas davon hatte er auf Maggie's Farm gefunden. Sie nahmen keine Drogen, und auch wenn sie und Seth in den sechziger Jahren aufgewachsen waren und an einigen der damaligen Ideale festhielten, sahen sie weder wie Hippies aus noch handelten sie so.

  »Wir sind anders«, protestierte sie und sah Zoe um Unterstützung heischend an. »Das weißt du, Paul. Wir kümmern uns um dich. Wir haben dich nie im Stich gelassen. Damals hatten viele Leute ihren Spaß. Seth schwelgt nur in seinen Erinnerungen.«

  »Ich weiß«, sagte Paul widerwillig. »Aber ich habe keine Erinnerungen, in denen ich schwelgen kann. Ist auch egal, Mara, ich sage nur, dass es nicht nur Frieden und Liebe gab, wie Seth meint. Er redet nur Scheiße.«

  »Da hast du Recht, Kumpel«, stimmte ihm Rick zu, legte seinen Skizzenblock weg und schenkte sich einen weiteren Scotch ein. »Ich konnte auch nie viel mit den Hippies anfangen. Ein jammernder, heulender Haufen kleiner Kinder, wenn du mich fragst. Seth ist nur besoffen, das ist alles. Schau ihn dir doch an: Heute ist er ein verdammter Grundbesitzer, sogar ein Vermieter. Schon bald trägt er ausgebeulte Tweedanzüge und geht jeden Nachmittag auf Fasanenjagd. Sir Seth Cotton, Gutsherr von Maggie's Farm.«

  Doch Seth lag zurückgesunken auf einem Kissen und schien jedes Interesse an dem Gespräch verloren zu haben. Seine Augen waren geschlossen, und Mara vermutete, dass er entweder eingeschlafen oder ganz in Jerry Garcias schwirrendes Gitarrensolo versunken war.

  »Wo ist dein Vater jetzt?«, fragte Mara Paul.

  »Ich habe nicht die geringste Ahnung. Und es interessiert mich auch einen Scheiß.« Paul riss eine weitere Bierdose auf.

  »Aber hat er sich nie bei dir gemeldet?«

  »Warum sollte er? Wie gesagt, selbst als ich bei ihm war, war er viel zu weggetreten, um mich zu bemerken.«

  »Trotzdem ist das noch kein Grund, alle Menschen damals über einen Kamm zu scheren«, sagte Mara. »Seth hat nur gesagt, dass die Kraft der Liebe damals viel bedeutet hat. Das ganze Gerede über das >Age of Aquarius« hatte seine Berechtigung.«

  »Ja, und was ist daraus geworden? Zweitausend Jahre von diesem Scheißgeschwafel können mir gestohlen bleiben. Vergessen wir doch endlich die Scheißvergangenheit und leben unser Leben.« Und mit diesen Worten stand Paul auf und verließ das Zimmer.

  Jerry Garcia spielte weiter. Seth rührte sich, öffnete ein blutunterlaufenes Auge und schloss es gleich wieder.

  Mara schenkte sich und Zoe noch etwas Weißwein nach, dann wanderten ihre Gedanken wieder zurück zu Paul. Als wäre sie heute nicht schon verwirrt genug gewesen, brachten seine soeben gezeigte Feindseligkeit und die neuen Informationen über die Gefühle zu seinen Eltern alles noch mehr durcheinander. Sie hatte Angst, ihn auf das Blut an seiner Hand anzusprechen, und sie begann sich davor zu fürchten, weiterhin mit jemandem unter einem Dach zu leben, den sie des Mordes verdächtigte. Dabei hasste sie sich selbst für diese Gefühle, sie hasste sich, weil sie nicht dazu in der Lage war, ihm vollständig zu vertrauen und an ihn zu glauben.

  Was sie brauchte, war jemand, mit dem sie reden konnte, jemand von außerhalb der Farm, dem sie vertrauen konnte. Sie kam sich wie eine Frau mit einem Knoten in der Brust vor, die sich nicht traute, zum Arzt zu gehen, weil sie fürchtete, es könnte tatsächlich Krebs sein.

  Und was die Sache noch schlimmer machte, war, dass sie bemerkt hatte, dass das Messer nicht mehr da war. Das Klappmesser, dass Seth nach seiner Aussage vor einigen Jahren in Frankreich gekauft hatte. Die anderen mussten es genauso bemerkt haben, aber niemand hatte ein Wort darüber verloren. Seit sie auf Maggie's Farm wohnte, hatte das Messer für jeden verfügbar auf dem Kaminsims gelegen, und nun war es verschwunden.

 

* IV

 

Banks aß sein Fish & Chips, das er auf dem Heimweg gekauft hatte, und ging dann ins Wohnzimmer. Zum Teufel mit der Gourmetküche, dachte er. Wenn diese lästige Nachbarin, Selena Harcourt, nicht wieder mit irgendeinem klebrigen Dessert vor der Tür auftauchte, um ihn zu versorgen, »solange sein Frauchen weg war«, würde er sich, anstatt Saucen zusammenzurühren, die sowieso nie etwas wurden, einen ruhigen Abend machen.

  Er hatte sich bald wieder beruhigt, nachdem er Burgess im Revier abgeladen hatte. Das Arschloch hatte Recht behalten. Was bei Osmond vorgefallen war, so dachte er jetzt, war nicht besonders seriös gewesen, aber der Schock darüber, Jenny dort anzutreffen, hatte ihn übertrieben reagieren lassen. Für einen Moment hatte er seine Objektivität verloren. Das war alles. So etwas war schon früher passiert und es würde wieder passieren. Kein Weltuntergang.

  Er machte sich einen Drink, legte die Füße hoch und schaltete den Fernseher ein. Der regionale Sender von Yorkshire zeigte eine Sondersendung über das Peak District. Er schaute mit einem Auge zu und blätterte dabei durch Tracys letzte Ausgabe von History Today; er las einen interessanten Artikel über Sir Titus Salt, der in der Nähe von Bradford für die Arbeiter seiner Textilfabriken eine utopische Siedlung namens Saltaire errichtet hatte. Ein gutes Ziel für einen Ausflug mit Sandra und den Kindern, dachte er. Sandra könnte Fotos machen, Tracy wäre begeistert und bestimmt würde selbst für Brian etwas Interessantes dabei sein. Das Problem war nur, das Sir Titus ein strenger Abstinenzler gewesen war. Offensichtlich war des einen Utopie des anderen Hölle.

  Der Artikel ließ ihn an Maggie's Farm denken. Er mochte den Ort und respektierte Seth und Mara. Sie hatten abweisend auf ihn reagiert, aber damit war nur zu rechnen gewesen. In seinem Beruf war er weit Schlimmeres gewohnt. Er nahm es nicht persönlich. Der Beruf des Polizisten hatte in gewisser Weise Ähnlichkeit mit dem des Pfarrers, die Menschen fühlten sich in deiner Anwesenheit nie richtig wohl, selbst wenn man auf ein Bier in die Kneipe ging.

  Als die Sendung vorbei war, entschied er, dass man das Unvermeidliche nicht hinausschieben sollte. Er nahm das Telefon und wählte Jennys Nummer. Er hatte Glück, sie ging nach dem dritten Klingeln dran.

  »Jenny? Ich bin's, Alan.«

  Am anderen Ende trat Stille ein. »Ich bin mir nicht sicher, ob ich mit dir sprechen möchte«, sagte sie schließlich.

  »Lässt du dich überreden?«

  »Versuch es.«

  »Ich wollte mich nur wegen heute Nachmittag entschuldigen. Ich hatte nicht damit gerechnet, dich dort zu treffen.«

  Nur das leichte Knistern in der Leitung füllte die Stille. »Mich hat es auch überrascht«, sagte sie. »Du hast ziemlich miesen Umgang.«

  Das Gleiche könnte ich dir auch sagen, dachte Banks. »Ja«, sagte er. »Ich weiß.«

  »Ich denke, du solltest ihn in Zukunft an der Leine führen. Vielleicht kannst du es auch mit einem Maulkorb versuchen.« Er spürte, dass ihre Sympathie für ihn offensichtlich noch nicht ganz abgestorben war.

  »Liebend gern. Aber er ist der Chef. Wie hat es Osmond verdaut?« Der Name kam ihm kaum über die Lippen.

  »Er war natürlich stocksauer. Aber nicht lange. Dennis ist unverwüstlich. Schikane durch die Polizei ist er gewohnt.«

  Wieder trat Stille ein, diesmal noch betretener.

  »Na gut«, sagte Banks. »Ich wollte nur sagen, dass es mir Leid tut.«

  »Ja. Das hast du bereits gesagt. Es war nicht deine Schuld. Ich bin es nicht gewohnt, dich in einer Nebenrolle zu erleben. Dabei gibst du kein besonders gutes Bild ab, weißt du.«

  »Was hast du von mir erwartet? Dass ich aufspringe und ihm eine reinhaue?«

  »Nein, natürlich nicht. Aber als er das über uns sagte, konnte ich sehen, dass du kurz davor warst.«

  »Hat man das gesehen?«

  »Ich schon.«

  »Im Wagen bin ich dann explodiert.«

  »Dachte ich mir. Was hat er gesagt?«

  »Er hat nur gelacht.«

  »Reizend. Ich hätte ihn umbringen können, als er das mit meinem Hemd sagte.«

  »Aber es war so.«

  »Ich habe mir nur schnell was angezogen. Ich wollte wissen, was los war.«

  »Ich weiß. Ich wollte dir nicht unterstellen, dass du es absichtlich getan hast oder so. Es ist nur so, tja, dass man bei einem Kerl wie ihm besonders vorsichtig sein muss.«

  »Jetzt weiß ich es. Obwohl ich hoffe, nicht wieder das Vergnügen haben zu müssen.«

  »Er gibt nicht so leicht auf«, sagte Banks bedrückt.

  »Ich auch nicht. Wo bist du? Was machst du?«

  »Zu Hause. Ausspannen.«

  »Ich auch. Ist Sandra zurück?«

  »Nein.« Wieder knisternde Stille. Banks räusperte sich. »Du«, sagte er, »das mit dem Abendessen neulich habe ich ernst gemeint. Wie sieht es morgen aus?«

  »Morgen kann ich nicht. Ich gebe einen Abendkurs.«

  »Und Dienstag?«

  Jenny überlegte. »Ich könnte meine Verabredung absagen«, sagte sie. »Aber dann sollte es sich auch lohnen.«

  »Das Royal Oak lohnt sich immer. Ehrenwort. Ich muss mit dir reden.«

  »Beruflich?«

  »Vielleicht könntest du mir dabei helfen, an einige Leute von Maggie's Farm heranzukommen. Seth und Mara sind ungefähr in meinem Alter. Komisch, wir sind alle in den Sechzigern aufgewachsen und trotzdem völlig verschieden geworden.«

  »Na ja. Jeder ist verschieden.«

  »Ich mochte die Musik. Aber ich hatte einfach immer das Gefühl, nicht zu den Langhaarigen zu passen. Unter uns, ein- oder zweimal habe ich sogar gekifft.«

  »Alan! Das ist nicht wahr!«

  »Doch.«

  »Und ich dachte immer, du bist so spießig. Wie hast du reagiert?«

  »Beim ersten Mal gar nicht.«

  »Und beim zweiten Mal?«

  »Bin ich eingeschlafen.«

  Jenny lachte.

  »Seltsam«, sagte Banks nachdenklich, »auch Burgess ist in meinem Alter.«

  »Der lief wahrscheinlich mit Reitstiefeln und Lederjacke rum und zupfte den Fliegen die Flügel aus.«

  »Wahrscheinlich. Also, essen gehen. Passt dir acht Uhr?«

  »Gut.«

  »Ich hole dich ab.«

  Jenny sagte gute Nacht und legte auf. Immer noch Freunde. Banks seufzte erleichtert auf.

  Er ging zurück zu seinem Sessel und seinem Drink, aber plötzlich spürte er das Bedürfnis, Sandra anzurufen.

  »Wie geht es deinem Vater?«, fragte er.

  Sandra lachte. »Griesgrämig wie immer. Aber Mutter kommt besser damit zurecht, als ich dachte.« Die Verbindung war schlecht, ihre Stimme klang weit entfernt.

  »Wie lange willst du noch dableiben?«

  »Nur noch ein paar Tage. Warum? Vermisst du uns?«

  »Mehr, als du glaubst.«

  »Warte mal einen Moment. Wir haben gestern einen Ausflug nach London gemacht und Tracy will dir davon erzählen.«

  Für eine Weile sprach Banks mit seiner Tochter über St. Paul's und den Tower, dann mischte sich Brian ein und erzählte ihm, wie großartig die Plattenläden dort in London seien. Außerdem hatte er genau die Gitarre gesehen, nach der er gesucht hatte ... Schließlich war Sandra wieder dran.

  »War bei dir irgendwas los?«

  »Das kann man wohl sagen.« Banks erzählte ihr von der Demo und dem Mord.

  Sandra pfiff durch die Zähne. »Da bin ich ja froh, dass ich weg bin. Ich kann mir vorstellen, was sich jetzt in Eastvale abspielt.«

  »Danke für die Unterstützung.«

  »Du weißt, wie ich es meine.«

  »Erinnerst du dich an Dick Burgess? Er war Detective Chief Inspector bei Scotland Yard.«

  »War das der, der Lottie bei ihrer Party betatschte und sich dann in die Geranien übergeben hat?«

  »Genau der. Er ist jetzt hier, dienstlich.«

  »Gott steh dir bei. Jetzt bin ich wirklich froh, hier zu sein. Mich hat er auch im Visier gehabt.«

  »Da hat er mal guten Geschmack bewiesen. Aber bilde dir nichts drauf ein, Schatz. Er ist hinter jedem Rock her.«

  Sandra lachte. »Machen wir lieber Schluss. Brian und Tracy stehen schon wieder Schlange.«

  »Sag ihnen liebe Grüße. Passt auf euch auf. Bis bald.«

  Nachdem er aufgelegt hatte, war Banks so deprimiert, dass er es fast bereute, überhaupt angerufen zu haben. Warum, fragte er sich, verstärkt ein Telefonat mit einer entfernten geliebten Person nur die Leere und Einsamkeit, die man fühlte, bevor man zum Hörer gegriffen hatte?

  Ohne etwas mit sich anfangen zu können, schaltete er den Fernseher mitten in einer Popmusiksendung ab, die Brian gefallen hätte, und legte die Blueskassette ein, die ihm ein früherer Kollege aus London geschickt hatte. Mit seiner unheimlichen, für einen Bluesmusiker ungewöhnlich dünnen und hohen Stimme sang Reverend Robert Wilkins »Prodigal Son«. Banks ließ sich in den Sessel am Gasofen fallen und nippte an seinem Drink. Wenn er Scotch trank und Musik hörte, konnte er oft am besten nachdenken, und es war an der Zeit, einige der Gedanken zum Mord an Gill zu sortieren.

  Eine ganze Reihe von Dingen beschäftigten ihn. Zu jeder Zeit gab es Demonstrationen, viel größere als die in Eastvale, und obwohl es zwischen den gegnerischen Parteien manchmal zum Schlagabtausch kam, wurden dabei normalerweise keine Polizisten erstochen. Ob man es Statistik, Wahrscheinlichkeit oder nur eine leise Ahnung nannte, auf jeden Fall glaubte er nicht an Burgess' Einschätzung der Angelegenheit.

  Und genau da lag das Problem, denn es ließ wenig andere Möglichkeiten zu. Einige Bewohner von Maggie's Farm bereiteten ihm noch ein ungutes Gefühl. Paul Boyd war nach seinen Erfahrungen eine menschliche Zeitbombe, und Mara schien darauf erpicht gewesen zu sein, ihn zu verteidigen. Seth und Zoe waren auffällig still gewesen, dagegen hatte Rick Trelawney weitaus krassere Ansichten vertreten, als Banks erwartet hatte. Er wusste nicht, was sich daraus ergab, aber er hatte das Gefühl, dass jemand etwas wusste oder glaubte, etwas zu wissen, und dass diese Person ihre Verdächtigungen nicht der Polizei mitteilen wollte. Eine Dummheit, aber so verhielten sich die Leute immer wieder. Banks hoffte nur, dass niemandem von ihnen etwas zustieß.

  Und Dennis Osmond? Ließ man die persönliche Abneigung außer Acht, so hatte ihn Banks bei zwei Lügen ertappt. Osmond hatte behauptet, Paul Boyd nicht zu kennen, obwohl er es eindeutig tat, und zudem glaubte Banks ihm nicht, als er leugnete, Constable Gill zu kennen. Es lag auf der Hand, warum er gelogen haben könnte: Niemand mochte eine Beziehung zu einem Ermordeten oder einem verurteilten Straftäter zugeben, wenn er nicht dazu gezwungen war. Aber Banks Aufgabe war, herauszufinden, ob hinter den Lügen noch ganz andere Abgründe steckten. Woher könnte Osmond den Polizisten Gill gekannt haben? Vielleicht hatten sie zusammen die Schule besucht. Oder vielleicht hatte Gill bei einem früheren Anti-Atomkraft-Protest Osmond verhaften lassen. Wenn dies der Fall war, dann würde man den Vorgang in den Akten finden. Am nächsten Morgen würde Richmond die Informationen der Special Branch bekommen.

  Dennoch schien das alles bisher noch kein Motiv für einen Mord zu ergeben. Wenn er nicht mit der Tür ins Haus fiel, könnte er vielleicht am Dienstag etwas aus Jenny herausbekommen. Normalerweise sträubte sie sich nicht gegen seine Fragen, doch wenn es um Osmond ging, würde sie mit Sicherheit besonders empfindlich reagieren.

  Vielleicht hatte er unprofessionell auf Jennys Anwesenheit in Osmonds Schlafzimmer und auf Burgess' Verhörmethoden reagiert. Andererseits, so erinnerte er sich, hatte ihn Dirty Dick wie einen kompletten Idioten dastehen lassen, und was noch schlimmer war, er hatte Jenny beleidigt. Manchmal dachte Banks, dass Burgess' Technik darin bestand, jeden, der in den Fall verwickelt war, so lange auf die Palme zu bringen, bis er soweit war, ihn erwürgen zu wollen. Dann konnte er ihn wenigstens wegen versuchten Mordes anklagen.

  Bei seinem dritten Laphroaig und der zweiten Seite der Kassette kam Banks zu dem Entschluss, dass es nur einen Weg gab, sich an dem Arschloch zu rächen, und zwar indem er den Fall selbst und auf seine Weise löste. Burgess war nicht der Einzige, der mit verdeckten Karten spielen konnte. Sollte er sich auf die Kommunisten hinter jeder Ecke konzentrieren. Währenddessen würde Banks ein paar diskrete Nachforschungen anstellen und versuchen, jemanden zu finden, der ein Motiv für Constable Edwin Gills Tod hatte, und nicht nur den eines beliebigen Polizisten.

  Aber wenn der Mensch Gill und nicht der Polizist Gill das Opfer war, dann ergab sich eine Reihe neuer Probleme. Zunächst einmal, wie konnte der Mörder wissen, dass Gill bei der Demo sein würde? Wie konnte er außerdem sicher sein, dass es zu derartigen Ausschreitungen kommen würde, um einen Mord zu vertuschen? Am verwirrendsten war die Frage, wie er davon ausgehen konnte, fliehen zu können. Doch immerhin waren das konkrete Fragen, ein Ansatzpunkt. Je mehr Banks darüber nachdachte, umso idealer erschien ihm das Gedränge einer politischen Demonstration, um einen Mord zu vertuschen.