Der Leichenzug schlängelte sich von der Gordon Street, wo Edwin Gill gewohnt hatte, durch die Manor Road zum Friedhof. Irgendwie, dachte Banks, war die Beerdigung eines Kollegen immer feierlicher und trostloser als jede andere. Jeder anwesende Polizist wusste, dass genauso gut er im Sarg liegen könnte. Jede Frau eines Polizisten lebte mit der Angst, dass auch ihr Mann im Dienst erstochen, erschlagen oder, heutzutage, erschossen wird. Und die Öffentlichkeit als Ganzes spürte das Erzittern und die zeitweilige Schwächung der gesellschaftlichen Ordnung.
Zum zweiten Mal innerhalb einer Woche musste Banks Anzug und Krawatte tragen und fühlte sich unwohl dabei. Er lauschte der Grabrede des Pfarrers, den obligatorischen Versen aus dem Book of Common Prayer, und starrte auf die stoppeligen Nacken vor ihm. In der ersten Reihe schniefte Gills engster Familienkreis - Mutter, zwei Schwestern, Onkel und Tanten, Neffen und Nichten - und steckte sich gegenseitig Papiertaschentücher zu.
Als es vorbei war, marschierte jeder hinaus und wartete auf die Wagen, die die Trauergäste zum Leichenschmaus brachten. Die Eichen und Birken entlang der Auffahrt zum Friedhof wurden von einer steifen Brise geschüttelt. In einem Moment kam die Sonne hinter den Wolken hervor, und im nächsten wurde man von einem kurzen Schauer überrascht. Es war so ein Tag: wechselhaft, unvorhersehbar.
Banks stand mit Richmond neben dem schwarzen Polizeirover, einem Zivilfahrzeug - sein eigener weißer Cortina war für eine Beerdigung kaum geeignet - und wartete auf jemanden, der ihnen den Weg wies. Er trug einen leichten grauen Regenmantel über seinem marineblauen Anzug, aber keine Kopfbedeckung. Als er den Kragen seines Regenmantels hochschlug und gegen den kalten Wind fest um den Hals zog, glaubte er, mit seinem kurzgeschorenen, schwarzen Haar, der Narbe neben dem rechtem Auge und seinen hageren, kantigen Zügen wie eine verdächtige Gestalt aussehen zu müssen. Richmond, mit Kamelhaarmantel und Filzhut, stand steif und athletisch neben ihm.
Es war früher Dienstagnachmittag. Den Morgen hatte Banks damit verbracht, die von Richmond angelegten Berichte über Osmond und die Bewohner von Maggie's Farm zu lesen. Viel war dabei nicht herausgekommen. Seth Cotton war in den frühen Sechzigern einmal verhaftet worden, weil er bei einer Schlacht zwischen Mods und Rockern in Brighton eine Angriffswaffe (eine Fahrradkette) mit sich geführt hatte. Danach war er mit Marihuana - einer geringen Menge, nichts Ernstes - aufgegriffen und zu einer Geldstrafe verurteilt worden.
Rick Trelawney war nur einmal in Schwierigkeiten gewesen, in St. Ives, Cornwall. Ein Tourist hatte Anstoß daran genommen, wie er sich im betrunkenen Zustand über die Perfidität des Kunstsammelns ausgelassen hatte, woraufhin aus einem lauten Streit eine handfeste Schlägerei wurde. Drei Männer waren nötig gewesen, um Rick wegzuzerren. Der Tourist hatte einen Kieferbruch erlitten, außerdem war ein Ohr zeitlebens taub geblieben.
Die einzige andere Leiche in Ricks Keller war die Frau, von der er sich kürzlich getrennt hatte. Da sie Alkoholikerin war, fiel ihm ohne Schwierigkeiten das Sorgerecht für Julian zu. Doch jetzt lebte sie mit ihrer Schwester in London und unterzog sich einer Entziehungskur, sodass der Kampf vor Gericht erneut aufflammte. Die Situation war so schlimm geworden, dass Rick einen Gerichtsbeschluss angestrengt hatte, um sie davon abzuhalten, in die Nähe ihres gemeinsamen Sohnes zu kommen.
Über Zoe lag nichts vor, doch Richmond hatte im Standesamt nachgeforscht und herausgefunden, dass der Vater ihres Kindes Luna ein Lyle Greenberg war,- ein amerikanischer Student, der schon bald wieder in seine Heimatstadt Eau Ciaire in Wisconsin zurückgekehrt war.
Über Mara gab es noch weniger. Die Einwanderungsbehörde vermerkte sie als Moira Delacey, geboren in Dublin. Im Alter von sechs Jahren war sie mit ihren Eltern nach England gekommen, wo sie sich in Manchester niedergelassen hatten. Kontakte zur IRA waren nicht bekannt.
Am interessantesten und beunruhigendsten von allem war Dennis Osmonds Vorstrafenregister. Zusätzlich zu seinen Verhaftungen als Teilnehmer an Demonstrationen gegen die Regierung - das Spektrum der Anklagen reichte von Ruhestörung bis zum Diebstahl eines Polizeihelmes - war er vor vier Jahren von einer mit ihm zusammenlebenden Freundin namens Ellen Ventner wegen Körperverletzung angezeigt worden. Auf Drängen der Frau war die Anklage später fallen gelassen worden, doch Ventners Verletzungen - zwei gebrochene Rippen, gebrochene Nase, drei ausgeschlagene Zähne sowie Prellungen - waren vom Krankenhaus eindeutig dokumentiert worden, sodass Osmond bei weitem nicht unschuldig aus dieser Affäre ging. Banks war sich nicht sicher, ob er dieses Thema am Abend beim Essen mit Jenny anschneiden sollte. Er fragte sich, ob sie bereits davon wusste. Wenn sie es nicht wusste, würde sie sich über seine Einmischung wohl nicht unbedingt freuen. Irgendwie bezweifelte er, dass Osmond ihr davon erzählt hatte.
Auf die Informationen der Special Branch, die Akten von Osmond, dem Studentenvertreter Tim Fenton sowie fünf weiteren Teilnehmern an der Demo, warteten sie noch. Anscheinend benötigte die Branch Burgess' persönlichen Zugangscode, Passwort, Sprachprobe und genetischen Fingerabdruck oder irgendeine ähnlich lächerliche Identifikationsreihe. Aber Banks erhoffte sich sowieso nicht viel davon. Nach seiner Erfahrung legte die Special Branch Akten von jedem an, der jemals eine Ausgabe von Socialist Weekly gekauft hatte.
Heute, während Banks und Richmond an Gills Beerdigung teilnahmen, wollte Burgess gemeinsam mit Sergeant Hatchley noch einmal die Runde machen. Sie hatten vor, erneut Osmond, Dorothy Wycombe, Tim Fenton und Maggie's Farm aufzusuchen. Mit den Studenten wollte Banks selbst sprechen, also nahm er sich vor, sie zu besuchen, wenn er am Abend wieder zurück war - sollte Burgess ihnen bis dahin nicht jede Gesprächsbereitschaft verleidet haben.
Burgess war bei der Aussicht auf weitere Verhöre regelrecht der Speichel aus dem Mund getropft, und selbst Hatchley schien von der Arbeit begeisterter zu sein als sonst. Vielleicht war es die Chance, mit einem Superstar arbeiten zu dürfen, die ihn erregte, dachte Banks. Der Sergeant hatte Verfolgungsjagden schon immer interessanter gefunden als die tatsächliche Arbeit. Oder vielleicht wollte er Dirty Dick in den Arsch kriechen, weil er sich ausrechnete, für eine Spezialeinheit von Scotland Yard auserwählt zu werden. Und das Schlimme daran war, dass er damit Erfolg haben könnte.
Wenn er darüber nachdachte, regten sich in Banks gemischte Gefühle. Er hatte sich schneller an Sergeant Hatchley gewöhnt, als er erwartet hatte, und mittlerweile arbeiteten sie recht gut zusammen. Doch richtig warm wurde Banks nicht mit ihm. Er brachte es nicht mal übers Herz, Hatchley mit seinem Vornamen, Jim, anzusprechen.
In Banks' Augen war Hatchley ein Sergeant und würde immer einer bleiben. Er besaß nicht diesen besonderen Biss, den man als Inspector brauchte. Phil Richmond besaß ihn, aber unglücklicherweise konnte er auf regionaler Ebene nirgendwohin aufsteigen, wenn nicht auch Hatchley befördert wurde. Und das würde Superintendent Gristhorpe nicht tun, was ihm Banks nicht verdenken konnte. Wenn Burgess genug Gefallen an Hatchley fand, um ihm einen Job in London anzubieten, wären die Probleme eines jeden gelöst. Richmond hatte seine Prüfungen zum Sergeant bereits bestanden - der erste Schritt auf dem langen Weg zur Beförderung - und vielleicht könnte Constable Susan Gay, die bemerkenswerte Begabung für die kriminalistische Arbeit gezeigt hatte, von der uniformierten Abteilung zur Kriminalpolizei auf Richmonds jetzigen Posten versetzt werden. Constable Craig würde sich natürlich dagegen stellen. Er nannte Polizistinnen immer noch »Wopsies«, nach der geschlechterspezifischen Abkürzung des Dienstgrades Woman Police Constable WPC, obwohl diese zugunsten der neutralen Form PC schon 1975 abgeschafft wurde. Aber das war Craigs Problem; mit Hatchley allerdings musste jeder fertig werden.
Schließlich fuhren die glänzenden schwarzen Wagen los. Banks und Richmond folgten ihnen durch die trüben, verlassenen Straßen Scarboroughs zum Empfang. Es gab nichts Trostloseres als einen Urlaubsort außerhalb der Saison. Hätte die Luft nicht leicht nach Meer und Fisch gerochen, wäre niemand auf den Gedanken gekommen, an der Küste zu sein.
»Haben Sie nach dem Essen Lust auf einen Spaziergang die Promenade entlang?«, fragte Banks.
Richmond schniefte. »Kaum das richtige Wetter dafür, oder?«
»Anregend, würde ich sagen.«
»Ich warte lieber in einem netten, warmen Pub auf Sie, wenn Sie nichts dagegen haben, Sir.«
Banks lächelte. »Um Ihre Notizen zu ordnen?« Er wusste, wie pingelig Richmond mit Notizen und Berichten war.
»Muss ich doch, oder? Im Kopf werde ich das nicht lange behalten.«
Auf der Fahrt nach Scarborough hatte Banks ihm von seiner Theorie berichtet, dass der Mord an Gill nicht ganz das war, was er zu sein schien. Obwohl Richmond Vorbehalte geäußert hatte, war auch er der Meinung gewesen, dass es sich immerhin lohnen würde, in dieser Richtung zu ermitteln. Sie hatten beschlossen, bei dem Empfang mit Gills Kollegen zu plaudern, um zu sehen, was sie über den Mann aufschnappen konnten. Burgess sollte davon natürlich nichts erfahren.
Richmond hatte den Standpunkt vertreten, dass, selbst wenn etwas komisch an Gill gewesen wäre, keiner seiner Kumpel auf der Beerdigungsfeier darüber sprechen würde. Banks war anderer Meinung gewesen. Er meinte, dass Beerdigungen wie ein Wunder auf das Gewissen wirkten. Die falschen Plattitüden vor dem Sarg klangen den Leuten noch in den Ohren und veranlassten sie dazu, jemandem die Wahrheit aufzudrängen. Schließlich wollten sie Gill ja nicht der Korruption oder ähnlicher Delikte überführen, sie wollten nur wissen, was für ein Mensch er gewesen war und ob er sich vielleicht Feinde gemacht hatte.
Die Autoschlange hielt auf dem Parkplatz des Crown and Anchor, in dessen Saal ein Büfett aufgestellt worden war, und die Gäste eilten durch einen heftigen Schauer zu den Eingangstüren.
»Verdammt noch mal! Unter welchem Stein bist du denn hervorgekrochen?«, sagte Burgess, als Paul in das Wohnzimmer kam, um zu sehen, was dort vor sich ging.
Paul musterte ihn finster. »Lassen Sie mich in Ruhe!«
Burgess machte einen Schritt nach vorn und gab ihm eine Ohrfeige. Paul zuckte zusammen und stolperte zurück. »Nicht so eine große Klappe, Freundchen«, sagte Burgess. »Zeig den Älteren und Besseren ein bisschen Respekt.«
»Warum sollte ich? Sie zeigen mir auch keinen Scheißrespekt, oder?«
»Respekt? Dir?« Burgess kniff seine Augen zusammen. »Wie kommst du darauf, dass du Respekt verdient hast? Du bist ein hässlicher, kleiner Vollidiot mit einem Vorstrafenregister so lang wie mein Arm. Und das beinhaltet auch einen tätlichen Angriff auf einen Polizisten. Und wenn wir schon mal dabei sind, halt deine Zunge im Zaum. Hier sind Damen anwesend. Glaube ich wenigstens.«
Mara lief ein kalter Schauer über den Rücken, als Burgess sie von oben bis unten musterte.
Burgess wandte sich wieder an Paul, der in der Tür stand und eine Hand auf sein Ohr hielt. »Na los, wer hat dich dazu angestiftet?«
»Zu was?«
»Einen Polizeibeamten umzubringen.«
»Habe ich nicht. Ich war nicht mal da.«
»Stimmt, er war nicht da«, platzte Mara heraus. »Er war den ganzen Abend hier bei mir. Jemand musste zu Hause bleiben und auf die Kinder aufpassen.«
Bis zu diesem Moment hatte sie sich zusammengerissen und versucht, aus Burgess schlau zu werden. Er schien nicht so umgänglich wie Banks zu sein, und sie hatte Angst, seine Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Selbst als sie sprach, krampfte sich ihr der Magen zusammen.
Burgess schaute sie an und schüttelte den Kopf. Sein Blick durchdrang sie wie gesplitterter Schiefer. »Sehr rührend, Schätzchen. Sehr rührend. Haben Ihre Eltern Ihnen nicht beigebracht, dass man nicht lügen soll? Er wurde in der Menge gesichtet. Wir wissen, dass er da war.«
»Das muss sich um eine Verwechslung handeln.«
Burgess warf einen kurzen Blick auf Paul, dann schaute er wieder Mara an. »Verwechslung? Wie kann man dieses Dreckstück mit jemand anderem verwechseln? Sie sollten sich Ihren Mund mit Seife und Wasser auswaschen, Schätzchen.«
»Nennen Sie mich nicht Schätzchen.«
In gespielter Verzweiflung warf Burgess seine Arme hoch. »Was ist los mit euch? Ich dachte, hier oben im Norden sagt jeder zum anderen Schätzchen. Egal, ich kann im Leben nicht verstehen, warum Sie ihn verteidigen. Er hat einen begrenzten Wortschatz, und so wie er aussieht, ist er bestimmt auch eine Niete im Bett.«
»Arschloch«, sagte Mara mit zusammengepressten Zähnen. Mit diesem Typen konnte man nicht reden, so viel war klar. Am besten ließ man es einfach über sich ergehen.
»Richtig, Schätzchen«, sagte Burgess. »Reden Sie es sich von der Seele. Dann fühlen Sie sich gleich besser.« Er musterte sie, als wollte er schauen, ob sich seine Einschätzung bestätigen würde, dann wandte er sich wieder an Paul.
»Was hast du mit dem Messer gemacht?«
»Welches Messer?«
»Das, mit dem du Constable Gill erstochen hast. Das Klappmesser. So eine Waffe passt genau zu dir.«
»Ich habe niemanden erstochen.«
»Ach, komm schon! Was hast du damit gemacht?«
»Ich habe kein Scheiß-Messer.«
Burgess drohte ihm mit dem Zeigefinger. »Ich habe dich gewarnt, halte deine Zunge im Zaum. Haben Sie das Ganze aufgenommen, Sergeant Hatchley? Der Junge leugnet alles.«
»Ja, Sir.« Hatchley saß auf den Kissen und sah, so fand Mara, fast wie ein gestrandeter Wal aus.
»Wir brauchen nur das Messer«, sagte Burgess. »Und sobald wir seine Spur zu dir zurückverfolgt haben, bist du schneller im Knast, als du Pups machen kannst. Mit deinen Vorstrafen wirst du keine Chance haben. Bei der Demonstration haben wir dich bereits identifiziert.«
»Da waren über hundert Leute«, sagte Paul.
»Hast sie gezählt, was? Ich denke, du warst nicht da?«
»War ich auch nicht.«
»Woher weißt du dann, wie viele Leute da waren?«
»Das habe ich in der Zeitung gelesen.«
»Gelesen? Du? Du guckst dir doch bloß die Comics an.«
»Sehr witzig«, sagte Paul. »Aber Sie können nichts beweisen.«
»Im Moment hast du vielleicht Recht«, sagte Burgess. »Aber denk daran, was ich beweisen will, das kann ich auch immer beweisen. Und wenn ich soweit bin, dann ... dann ...« Er ließ die Drohung unausgesprochen im Raum stehen und wendete sich an die Gruppe als Ganzes. Außer Rick, der in der Stadt mit den Kindern neue Anziehsachen kaufte, waren alle im Haus versammelt. »Sie machen sich genauso schuldig«, fuhr er fort. »Wenn es zur Anklage gegen diesen Schwachkopf hier kommt, werden Sie alle auch dran sein. Verschweigen von Informationen und Mittäterschaft. Also, wenn jemand von Ihnen etwas weiß, dann sagen Sie es uns jetzt. Denken Sie darüber nach.«
»Wir wissen nichts«, sagte Seth ruhig.
»Na gut, wie Sie wollen.« Burgess seufzte und fuhr sich mit einer Hand durchs Haar. »Sackgasse.«
»Wir werden uns beschweren, dass Sie Paul geschlagen haben, verlassen Sie sich drauf«, sagte Mara.
»Nur zu, Schätzchen. Als ob mich das kümmern würde. Soll ich Ihnen sagen, was passieren wird? Wenn Sie Glück haben, dann kommt Ihre Beschwerde bis zu meinem Boss bei Scotland Yard durch. Und wissen Sie was? Der ist ein noch größeres Arschloch als ich. Nein, Sie kommen am besten raus, wenn Sie die Wahrheit erzählen.«
»Wie gesagt«, meinte Paul. »Ich weiß nichts über die Sache.«
»In Ordnung.« Burgess drückte seine Zigarre in einer Teetasse aus, die auf der Sessellehne balancierte. Die heiße Asche brutzelte, als sie auf den Bodensatz traf. »Aber sagen Sie nachher nicht, ich hätte Sie nicht gewarnt. Gehen wir, Sergeant. Geben wir diesen Leuten noch etwas Zeit zum Nachdenken. Vielleicht kommt einer von ihnen zur Vernunft und setzt sich mit uns in Verbindung.«
Hatchley rappelte sich hoch und folgte Burgess zur Tür. »Aber keine Sorge, wir kommen wieder«, sagte Burgess. Als sie raus auf die kleine Veranda gingen, hob er seinen Arm und schlug gegen das Windspiel. »Scheißkrach«, knurrte er.
Mit einem Glas Sherry in der Hand wartete Banks, bis der Andrang am Büfett etwas nachgelassen hatte, dann füllte er seinen Pappteller mit kalten Schnittchen und Salat.
»Gar nicht so übel, oder?«, sagte eine grauhaarige Frau in einem hellblauen Kreppkleid zu ihrer Freundin.
»Ja«, sagte die andere. »Besser als das bei Ida Lathams Beerdigung. Da gab es nur kleine Sandwichschnittchen ohne Kruste. Nicht größer als Briefmarken. Und Gurken. Von Gurken kriege ich immer Blähungen.«
»Chief Inspector Banks?«
Der Mann, der plötzlich neben Banks stand, war ungefähr einen Meter fünfundachtzig groß, hatte einen glänzenden kahlen Schädel, einen krausen, weißen Haarkranz über den Ohren und einen grauen Schnurrbart. Er trug eine schwarze Krawatte und über seinem dunkelgrauen Anzug außerdem eine schwarze Armbinde. Selbst der Rahmen seiner Brille war schwarz. Banks nickte.
»Ich dachte mir, dass Sie es sind«, fuhr der Mann fort. »Sie sehen nicht wie ein Verwandter aus, und ich habe Sie hier noch nie gesehen. Superintendent Gristhorpe hat mir Ihr Kommen angekündigt.« Er streckte seine Hand aus. »Detective Chief Inspector Blake von der Kriminalpolizei Scarborough.« Banks schaffte es, sein Sherryglas auf dem Teller zu balancieren und ihm die Hand zu geben.
»Freut mich«, sagte er. »Schade, dass wir uns durch solch einen Anlass kennen lernen.«
Sie gingen in einen ruhigeren und weniger überfüllten Teil des Saales. Banks stellte seinen Teller auf einem Tisch ab - schließlich konnte er beim Reden schlecht essen - und holte eine Zigarette hervor.
»Haben Sie schon was herausgefunden?«, fragte Blake.
»Noch nicht. Zu viele Verdächtige. In so einer Situation kann alles passiert sein.« Er schaute sich im Saal um. »Eine Menge Leute hier. Constable Gill muss ein beliebter Typ gewesen sein.«
»Mmmmh. Ich kannte ihn nicht besonders gut. Wir haben ein großes Revier.«
»Auf jeden Fall war er eifrig«, sagte Banks. »Hat sich Freitagnacht freiwillig zu Überstunden gemeldet. Die meisten von unseren Jungs wären wohl lieber in den Pub gegangen.«
»Es ist wohl eher so, dass er das Geld brauchte. Sie wissen ja, dass sich das halbe Land durch Überstunden über Wasser hält. Geht bei unseren Gehältern auch nicht anders.«
»Stimmt. Brauchte er Geld?«
Chief Inspector Blake runzelte die Stirn. »Schnüffeln Sie herum?«
»Wir wissen nichts über Gill«, gab Banks zu. »Er war keiner von uns. Jedes Detail bringt uns weiter. Das verstehen Sie sicherlich.«
»Ja. Aber dies ist kaum ein normaler Fall, oder?«
»Trotzdem ...«
»Wie gesagt, ich kannte ihn nicht gut. Wie ich gehört habe, hat so ein hohes Tier von Scotland Yard die Sache übernommen.«
Banks drückte seine Zigarette aus und nahm seinen Teller in die Hand. Von Blake würde er nichts erfahren, also konnte er beim Small Talk auch essen. Im Augenwinkel sah er, wie Richmond mit einem der uniformierten Sargträger sprach, wahrscheinlich einer derjenigen, die gemeinsam mit Gill zur Demo verfrachtet worden waren. Natürlich hatten alle ihre Aussagen gemacht, doch niemand hatte gesehen, wie Gill erstochen wurde. Er hoffte, dass Richmond erfolgreicher als er selbst war.
Nach ungefähr fünf Minuten zog Chief Inspector Blake ab, sodass Banks die Gelegenheit wahrnahm und sein Sherryglas auffüllte. Neben ihm an der Theke stand ein anderer Sargträger.
Banks stellte sich ihm vor. »Trauriger Anlass«, sagte er.
»Ja«, sagte Constable Childers. Er war jung, vielleicht Anfang zwanzig. Banks irritierte seine Angewohnheit, beim Sprechen in eine andere Richtung zu schauen.
»Beliebter Kerl, dieser Constable Gill, wenn man sich hier so umsieht«, sagte Banks.
»O ja. Der gute Eddie war wirklich ein lustiger Vogel.«
»Tatsächlich? Dienstbeflissen?«
»Das kann man wohl sagen. Auf jeden Fall in bestimmten Bereichen.«
»Ich wette, die Überstunden kamen ihm gelegen.«
»Es ist immer gut, ein bisschen was auf der Kante zu haben«, sagte Childers langsam. Banks spürte, dass er etwas zurückhielt, war sich aber unsicher, ob nun aus Freundschaft, aufgrund der Situation oder aus einfachem Pflichtgefühl. Aber irgendetwas stimmte nicht. Childers wurde immer nervöser und starrte die Wand am anderen Ende des Saales an. Schließlich entschuldigte er sich unvermittelt und ging fort, um mit seinem Sergeant zu reden.
Banks bekam das Gefühl, dass seine Mission ins Leere gelaufen war. Außerdem war er sich darüber im Klaren, dass er schon bald, wenn Childers und Blake den anderen von seinen Fragen erzählten, zu einem unwillkommenen Gast werden würde. Gott, dachte er, das ist ein verdammt empfindlicher Haufen hier. Da stellte sich die Frage, ob sie etwas zu verbergen hatten.
Banks ging für eine Portion Trifle zurück zum Büfett und stellte sich neben einen dritten Sargträger, einen mondgesichtigen Jungen mit leuchtend blauen Augen und feinem, spärlichem Haar in der Farbe von Getreide. Nachdem Banks tief durchgeatmet hatte, setzte er ein Lächeln auf und stellte sich vor.
»Ich weiß, wer Sie sind, Sir«, sagte der Constable. »Ernie Childers hat es mir erzählt. Ich bin PC Grant, Tony Grant. Ernie hat mich gewarnt. Er sagte, Sie stellen Fragen über Eddie Gill.«
»Reine Routine«, sagte Banks. »Genau wie in jeder Morduntersuchung.«
Grant schaute kurz über die Schulter. »Hören Sie, Sir«, sagte er. »Hier kann ich nicht mit Ihnen sprechen.«
»Wo dann?« Banks fühlte sein Herz schneller schlagen.
»Kennen Sie das Angel's Trumpet?«
Banks schüttelte den Kopf. »Ich kenne mich hier nicht gut aus. Bin erst einmal hier gewesen.«
»Es dauert zu lange, es zu erklären«, sagte Grant. Sie hörten auf, sich vom Dessert zu bedienen, und wendeten sich gerade rechtzeitig vom Büfett ab, um einen von Grants Kollegen auf sie zukommen zu sehen.
»Okay, Marine Drive, gleich beim Rummelplatz«, sagte Banks schnell. Etwas anderes war ihm so spontan nicht eingefallen. »In einer Stunde.«
»Gut«, sagte Grant, als der uniformierte Sergeant sich zu ihnen gesellte.
»Schön, dass Sie gekommen sind, Chief Inspector«, sagte der Sergeant und reichte Banks seine Hand. »Wir wissen es zu schätzen.«
Grant war wieder in der Menge abgetaucht, und als Banks Belanglosigkeiten mit dem Sergeant austauschte, war er in Gedanken bei dem vor ihm liegenden Treffen und der nervösen, verstohlenen Art und Weise, wie es zustande gekommen war.
»Er hat mich dazu gebracht, dass ich mich schmutzig fühle«, sagte Mara zu Seth. »So wie er mich angeschaut hat.«
»Du darfst das nicht an dich herankommen lassen. Das ist nur seine Methode. Er versucht dich so lange zu reizen, bis du etwas sagst, das du bereust.«
»Aber was ist mit Paul? Du hast gesehen, wie er ihn in die Mangel genommen hat. Was können wir tun?«
Sobald Burgess und Hatchley gegangen waren, hatte sich Paul davongemacht. Er hatte gesagt, dass ihm hier die Decke auf den Kopf fiele und er eine Wanderung durch die Heide brauchte, um sich nach der Erniedrigung wieder zu beruhigen. Gegen Zoes Gesellschaft hatte er nichts einzuwenden gehabt, so waren Mara und Seth allein zurückgeblieben.
»Du hast ja gesehen, wie das Arschloch auf ihn losgegangen ist. Ich würde ihm zutrauen, Paul die Sache anzuhängen, wenn es darauf ankommt. Er hat nun mal Vorstrafen.«
»Sie brauchen trotzdem Beweise.«
»Die kann er ihm leicht unterjubeln.«
»Er kann ihm nicht einfach irgendein altes Messer unterjubeln. Es muss schon dasjenige sein, mit dem die Wunde verursacht wurde. Die Polizei hat Wissenschaftler, die für sie arbeiten. So leicht kann man denen nichts vormachen.«
»Wahrscheinlich nicht.« Mara biss sich auf die Lippe und beschloss, den Sprung zu wagen. »Seth? Hast du bemerkt, dass das Messer weg ist? Das alte Klappmesser auf dem Kaminsims.«
Seth schaute sie eine Weile stumm an. Seine braunen Augen sahen traurig aus, und die Ringe unter ihnen deuteten auf Schlafmangel hin. »Ja«, sagte er. »Habe ich. Aber das bedeutet gar nichts. Ich wollte keine Unruhe auslösen. Es wird wahrscheinlich wieder auftauchen.«
»Aber was ist, wenn ... wenn es das Messer war?«
»Ach, bitte, Mara, das kannst du doch nicht ernsthaft glauben. Es gibt eine Menge Klappmesser im Land. Warum sollte es dieses sein? Wahrscheinlich hat es sich jemand geliehen. Es wird wieder auftauchen.«
»Ja. Aber was dann? Ich meine, Paul könnte es genommen haben, oder nicht?«
Seth trommelte mit seinen Fingern auf der Stuhllehne. »Du weißt, wie viele Leute Freitagnachmittag hier waren«, sagte er. »Jeder von ihnen könnte es genommen haben. Wann hast du es zum Beispiel das letzte Mal gesehen?«
»Ich kann mich nicht daran erinnern.«
»Siehst du? Und das heißt noch lange nicht, dass es sich um das Messer handelt, das benutzt wurde. Jemand wird es sich geliehen haben und hat vergessen, etwas zu sagen.«
»Wahrscheinlich.« Doch Mara war nicht überzeugt. Es war ein zu großer Zufall, dass ein Polizist mit einem Klappmesser getötet worden war und das Klappmesser vom Kaminsims verschwunden war. In ihren Augen klammerte sich Seth an einen Strohhalm, wenn er das Verschwinden des Messers so erklärte, wie er es tat, aber sie wollte ihm glauben.
»Und außerdem«, sagte er. »Warum nimmst du an, es war Paul? Nur weil er eine gewalttätige Vergangenheit hat? Er ist nicht mehr derselbe. Du denkst genauso wie die Polizei.«
Obwohl sie wollte, konnte sich Mara nicht dazu überwinden, Seth von dem Blut zu erzählen. Irgendwie erschien diese Information, zusammen mit allem anderen, so endgültig, so belastend.
Sie hatte beschlossen, Kontakt mit der Freundin von Dennis Osmond aufzunehmen, mit Jenny. Mara mochte sie, auch wenn ihr Osmond nicht ganz koscher vorkam. Außerdem war Jenny Psychologin. Mara könnte ihr mit den Details von Pauls Vergangenheit einen theoretischen Fall darstellen und sie fragen, ob die Wahrscheinlichkeit besteht, dass so ein Mensch gefährlich ist. Sie könnte sagen, es handele sich um die Recherche für eine Geschichte oder so etwas. Jenny würde ihr glauben.
»Vielleicht sollte er von hier verschwinden«, sagte Seth nach einer Weile.
»Paul? Aber warum?«
»Vielleicht ist es das Beste für ihn. Für uns alle. Bis die Sache vorüber ist. Man sieht ja, wie ihn das Ganze mitnimmt.«
»Das nimmt uns alle mit«, sagte Mara. »Dich auch.«
»Ja, aber ...«
»Wo soll er hingehen? Du weißt, dass er niemanden hat, an den er sich wenden kann.« Trotz ihrer Ängste konnte Mara nicht anders, als Paul zu beschützen. Sie verstand ihre Gefühle selbst nicht, aber so sehr sie ihn auch verdächtigte, sie konnte nicht einfach aufgeben und ihn wegschicken.
Seth starrte auf den Boden.
»Außerdem könnte es einen schlechten Eindruck machen«, argumentierte Mara. »Die Polizei würde denken, er läuft davon, weil er schuldig ist.«
»Dann lass ihn hierbleiben. Entscheide dich einfach.«
»Ist er dir egal?«
»Natürlich ist er mir nicht egal. Deswegen habe ich ja vorgeschlagen, dass er von hier verschwinden sollte. Bitte, Mara, wie willst du es nun haben? Wenn ich vorschlage, er soll gehen, bin ich grausam, und wenn er bleibt, wird er sich wahrscheinlich noch wesentlich mehr von diesem faschistischen Arschloch gefallen lassen müssen, das heute Nachmittag hier war. Was willst du? Glaubst du, dass er damit zurecht kommt? Schau, wie er auf die Plauderei heute reagiert hat. Das war ein Picknick verglichen damit, was passieren wird, wenn sie ihn zum Verhör mit ins Revier nehmen. Und wir können ihn nicht beschützen. Okay? Wie viel mehr kann er deiner Meinung nach ertragen?«
»Ich weiß es nicht.« Plötzlich war für Mara alles noch komplizierter geworden. »Ich will nur das Beste für Paul.«
»Dann fragen wir ihn. Wir können nicht für ihn die Entscheidungen treffen.«
»Nein! Wir müssen zu ihm halten. Wenn wir ihn darauf ansprechen, könnte er denken, dass wir ihn für schuldig halten und ihn aus dem Weg haben wollen.«
»Aber wir müssen ihn ansprechen, um ihn zu fragen, ob er für eine Weile weggehen will, bis die Sache sich beruhigt hat.«
»Dann lassen wir es eben. Wenn er bleiben will, dann bleibt er, und wir halten zu ihm, wie auch immer. Wenn er geht, dann ist es seine Entscheidung. Wir drängen ihn nicht hinaus. Er ist nicht dumm, Seth, ich bin mir sicher, dass er weiß, welche Schikane von der Polizei auf ihn zukommt. Das Letzte, was er braucht, ist das Gefühl, dass auch wir gegen ihn sind.«
»Okay.« Seth nickte und stand auf. »Belassen wir es dabei. Ich muss jetzt an der alten Kommode weiterarbeiten. Ist mit dir alles in Ordnung?«
Mara sah zu ihm auf und lächelte. »Ich werde es schon schaffen.«
»Gut.« Er beugte sich hinab und küsste sie, dann ging er hinaus, zurück in seine Werkstatt.
Aber Mara ging es nicht gut. Allein gelassen, begann sie sich alle möglichen furchtbaren Dinge vorzustellen. Am Anfang schien ihr die Welt von Maggie's Farm die Beständigkeit, Liebe und Freiheit gegeben zu haben, nach der sie immer gesucht hatte, doch jetzt war all dies zusammengebrochen. Das Gefühl ähnelte dem, das sie ihrer Erinnerung nach während eines leichten Erdbebens in Kalifornien hatte, als sie vor einer Ewigkeit mit Matthew durch die Staaten gereist war. Der Boden des Zimmers, die Fundamente des Hauses und die massive Erde, auf der es stand, waren plötzlich nicht stabiler als Wasser erschienen. Eine kleine Welle im Boden hatte sich flüchtig unter ihr vorbeigekräuselt, und das, was sie immer für beständig gehalten hatte, stellte sich als zerbrechlich, unzuverlässig und kurzlebig heraus. Das Beben hatte nur zehn Sekunden gedauert und war nicht über fünf auf der Richterskala registriert worden, aber der Eindruck war ihr seitdem geblieben. Nun kam er stärker denn je zurück.
Auf dem Kaminsims, inmitten des Durcheinanders von Muscheln, Kieselsteinen, Fossilien und Federn, konnte sie an der Stelle, wo das Messer gelegen hatte, die schwachen Staubumrisse erkennen. Als sie die Oberfläche sauber wischte, dankte sie ihrem Glücksengel, dass die Polizei nach greifbaren Dingen gesucht hatte und nicht nach abwesenden.
Banks fuhr die Foreshore Road und die Sandside am alten Hafen entlang. Die Kirmesbuden und Andenkenläden waren alle geschlossen. In der Saison scharten sich Massen von Urlaubern um die Ständer mit frechen Postkarten, Teenager standen Schlange vor der Geisterbahn und Kinder zogen ihre Eltern zu den Buden, in denen Zuckerwatte und Bonbons verkauft wurden. Doch jetzt war die Promenade verlassen. Selbst an der Seeseite gab es keine Stände, die Herzmuscheln, Strandschnecken und gekochte Garnelen anboten. Dichte, hohe Wolken waren aufgezogen, und das Meer klatschte wie flüssiges Metall gegen die mit Algen verkrusteten Hafenmauern. Fischerboote schaukelten in ihrer Verankerung, und Stapel von Hummerkörben schwankten auf dem Kai. Hoch oben auf dem Kap thronte die Burgruine über der Szenerie und sah aus wie einem schwarz-weißen Horrorfilm entsprungen.
Banks ließ Richmond vor einem Pub nahe des West Piers aussteigen, fuhr den Marine Drive weiter und parkte genau gegenüber der geschlossenen Kirmes. Er knöpfte seinen Regenmantel zu und ging die Straße entlang, die zwischen den hohen Klippen und dem Meer um die Landspitze herumführte. An den Klippen warnten Schilder vor herunterstürzenden Felsen. Wellen schlugen gegen die Ufermauer und warfen Gischt auf die Straße.
Tony Grant war bereits da, er lehnte auf dem Geländer und starrte hinaus auf den Punkt, wo Meer und Himmel zu einem gleichförmigen Grau verschmolzen. Er trug einen Dufflecoat der Marine, die Kapuze war heruntergeklappt, sodass sein babyfeines Haar im Wind wehte. Ein einsamer Öltanker bewegte sich langsam am Horizont entlang.
»So ist es mir am liebsten«, sagte er, als Banks sich neben ihm stellte. »Wenn es Ihnen nichts ausmacht, ein bisschen nass zu werden.«
Sie schauten beide raus auf das gekräuselte Wasser. Eine salzige Gischt erfüllte die Luft, und Banks fühlte, wie der Sauerstoff seine Lungen erfrischte, als er tief einatmete. Er zitterte und fragte: »Was wollen Sie mir erzählen?«
Grant zögerte. »Hören Sie, Sir«, sagte er, nachdem er eine halbe Minute dem Öltanker hinterhergestarrt hatte, »ich möchte nicht, dass Sie mich falsch verstehen. Ich bin kein Spitzel oder so was. Ich bin noch nicht lange bei der Polizei, und größtenteils gefällt es mir gut. Zuerst hätte ich das nicht gedacht, doch jetzt gefällt es mir. Ich möchte bei der Polizei Karriere machen.« Er schaute Banks eindringlich an. »Ich würde gerne zur Mordkommission. Ich bin nicht dumm. Ich habe was im Kopf. Ich war auf der Universität, und eigentlich wollte ich Lehrer werden, so hatte ich mir das gedacht, aber, tja, Sie kennen den Arbeitsmarkt. Heutzutage scheint man keine andere Chance mehr zu haben, als zur Polizei zu gehen. Also habe ich das getan. Aber wie gesagt, es gefällt mir. Es ist eine Herausforderung.«
Banks holte eine Zigarette hervor und legte eine hohle Hand um sein blaues Bic-Feuerzeug. Er brauchte vier Versuche, um seine Zigarette anzuzünden. Er wünschte, Grant würde zur Sache kommen, aber er wusste auch, dass er geduldig sein und zuhören musste. Der Junge war dabei, aus der Reihe zu scheren und einen Kollegen zu verpetzen. Die Rechtfertigungen für ein solches Verhalten hatte Banks schon tausendmal anhören müssen, und auch diesmal waren sie der Preis, den er für Informationen zu zahlen hatte.
»Es ist nur so«, fuhr Grant fort, »tja ... es läuft da nicht alles so sauber ab, wie ich dachte.«
Naiver Kerl, dachte Banks. »Es ist überall das Gleiche«, sagte er, um den Jungen zu ermutigen. »Egal, was man macht, es gibt immer eine Menge Arschlöcher. Vielleicht zieht unsere Branche mehr als die normale Quote von Rüpeln, Faulenzern, Sadisten und so weiter an. Aber das heißt nicht, dass wir alle so sind.« Banks zog an seiner Zigarette. Gemischt mit der Meeresluft schmeckte sie anders. Unter ihnen brach eine Welle gegen die Mauer, und die Gischt spritzte ihre Füße voll.
»Ich weiß, was Sie meinen«, sagte Grant, »und ich glaube, dass Sie Recht haben. Ich wollte nur, dass Sie wissen, auf welcher Seite ich stehe. Ich glaube nicht, dass der Zweck die Mittel heiligt. Für mich ist jeder, wie es so schön heißt, so lange unschuldig, bis seine Schuld bewiesen ist. Ich behandele die Menschen mit Respekt, egal welche Hautfarbe sie haben und wie sie angezogen sind oder welche Frisur sie tragen. Ich sage nicht, dass ich jeden Typen gut finde, mit dem wir zu tun haben, aber ich bin kein Schläger.«
»Und Gill war einer?«
»Ja.« Eine große Welle drohte kurz vor der Mauer zu brechen, und die beiden traten schnell einen Schritt zurück, um der Gischt zu entgehen. Trotzdem bekamen sie einen leichten Schauer ab. Banks Zigarette wurde nass, er warf sie weg.
»War das allgemein bekannt?«
»O ja. Er hielt damit nicht hinter dem Berg. Schauen Sie, für Gill ging es nicht nur um Überstunden, um das Geld. Er hatte Spaß an seinem Job, aber manche Seiten daran mochte er besonders, wenn Sie wissen, was ich meine.«
»Ich glaube schon. Fahren Sie fort.«
»Gill war sehr geschickt mit seinem Schlagstock. Und es machte ihm Spaß. Jedes Mal, wenn wir um Unterstützung für Demos, Streiks und so weiter gebeten wurden, war er der Erste, der sich meldete. Während des Streiks der Minenarbeiter, als man Polizei von überall her gebraucht hat, ist er auf den Geschmack gekommen. Er gehörte zu der Sorte, die mit ein paar Scheinen vor den streikenden Minenarbeitern rumwedelten, um sie zu verspotten, bevor man auf sie eindrosch. Er wurde in der Tactical Aid Group ausgebildet.«
Die TAG, so wusste Banks, war eine Art Polizei innerhalb der Polizei. Die Mitglieder der Gruppe wurden paramilitärisch ausgebildet und lernten, mit Waffen, Gummigeschossen und Tränengas umzugehen. Wenn ihre Ausbildung beendet war, kehrten sie in den normalen Dienst zurück und blieben für besondere Situationen auf Abruf - Situationen wie Demos und Streiks. Die offizielle Bezeichnung war in PSU - Police Support Unit - abgeändert worden, weil die TAG in der Öffentlichkeit einen schlechten Ruf besaß und der Name zu martialisch klang.
»Hat er sich in Eastvale auch so verhalten?«, fragte Banks.
»Ich kann es nicht beschwören, aber ich bin mir ziemlich sicher, dass Gill die Verantwortung für die Ereignisse trägt. Schauen Sie, die Situation hatte sich ziemlich zugespitzt. Wir waren alle dicht eingeschlossen. Gill stand mit ein paar anderen oben auf den Stufen und schaute nur runter, wie die Leute drängelten und schoben. Sehen konnte man allerdings nicht viel, durch diese altmodischen Straßenlaternen war es verdammt dunkel. Wie auch immer, einer der Demonstranten schmiss mit einer Flasche, und jemand von dort oben, hinter mir, brüllte: >Haut den Arschlöchern auf die Fresse.< Ich glaube, es war Gills Stimme. Dann stürmten sie runter und ... tja, Sie wissen ja, was passiert ist. Was ich sagen will - es hätte nicht passieren müssen. Klar, die Leute waren ziemlich aggressiv, aber wir hätten das in den Griff kriegen können, wenn jemand den Befehl gegeben hätte, ein bisschen locker zu lassen und den Leuten Platz zum Atmen zu geben. Stattdessen ging Gill mit seinem Scheißknüppel auf sie los. Ich weiß, dass man von uns Polizisten annimmt, wir würden alle zusammenhalten, aber ...« Grant schaute zitternd aufs Meer hinaus.
»Es gibt Zeiten, wo man zusammenhalten muss«, sagte Banks, »aber nicht in diesem Fall. Gill ist umgebracht worden, denken Sie daran.«
»Aber ich kann nichts beschwören. Ich meine, offiziell ...«
»Keine Sorge. Das hier bleibt unter uns.« Wenigstens im Moment, sagte sich Banks. Wenn durch dieses Gespräch irgendetwas herauskommen sollte, würde der junge Grant vielleicht ein paar ernste Entscheidungen treffen müssen. »Wie waren die anderen Gill gegenüber eingestellt?«, fragte er.
»Oh, die meisten fanden das alles ganz lustig und hielten es für Spaß. Ich meine, Gill hat die ganze Zeit davon gesprochen, Schwule und Kommunisten platt zu machen. Ich glaube, sie haben ihn nicht wirklich ernst genommen.«
»Aber es war nicht nur Gerede? Sie sagen, er hat gerne Schädel eingeschlagen.«
»Ja. Er war ein echtes Arschloch.«
»Sicherlich wussten die anderen davon?«
»Ja, aber ...«
»Haben sie es gebilligt?«
»Nun, ich würde sagen, nein. Manche vielleicht ... aber ich zum Beispiel nicht.«
»Aber niemand hat ihn gewarnt oder ihm gesagt, er soll damit aufhören?«
Grant zog seinen Kragen hoch. »Nein.«
»Hatten die Kollegen Angst vor ihm?«
»Manche schon. Er war ein ziemlich schwieriger Fall.«
»Was ist mit Ihnen?«
»Mit mir? Nun, ich hätte bestimmt nichts gegen ihn unternommen. Ich nehme es selbst nicht immer ganz genau mit den Vorschriften, und Gill war ein großes Arschloch.«
Über ihnen schrie eine Möwe, ein weißer Tupfer vor dem grauen Himmel, und begann, auf der Jagd nach Fischen über dem Wasser zu kreisen. Der Tanker war an den äußersten rechten Rand des Horizonts gelangt. Banks spürte, wie ihm die Kälte unter die Haut kroch. Er steckte seine Hände tief in die Taschen und spannte alle Muskeln gegen den kalten, feuchten Wind an.
»Hat jemand von den anderen ihn eigentlich gemocht?«, fragte er. »Hatte er echte Kumpels auf dem Revier?«
»Würde ich nicht sagen, nein. Er war kein besonders sympathischer Kerl. Er war zu angeberisch, zu sehr von sich eingenommen. Ich meine, man konnte nicht mit ihm reden, man musste ihm immer zuhören. Zu allem hatte er eine Meinung, aber von nichts hatte er Ahnung. Er hat nie etwas wirklich durchdacht. Bei ihm ging immer alles um Pakis und Rastas und Studenten und Skinheads und arbeitslose Rowdys.«
»Also war er nicht beliebt innerhalb des Reviers?«
»Nein, eigentlich nicht. Aber Sie wissen ja, wie es ist. Ein paar Jungs hängen im Revier zusammen, besonders wenn sie die TAG-Ausbildung hatten, und dann kommen diese ganzen Machosprüche, wie in amerikanischen Polizeiserien. Darin war Gill gut, Sprücheklopfen und mit Kämpfen und riskanten Erlebnissen angeben.«
»Gibt es auf Ihrem Revier noch mehr von der Sorte?«
»Nicht so Schlimme, nein. Es gibt ein paar, die ab und zu nichts gegen eine anständige Schlägerei haben, und manche Kerle kassieren auf Verdacht schon mal ein paar Kids ein, um ein bisschen Schwung in den Nachtdienst zu bringen. Aber niemand geht so weit wie Gill.«
»Hatte er außerhalb des Reviers Freunde?«
»Keine Ahnung, mit wem er nach Dienstschluss zusammen war.«
»Hatte er eine Freundin?«
»Keine Ahnung. Er hat nie eine erwähnt.«
»Also hat er nicht auf die gleiche Art mit Frauen geprahlt wie mit Schlägereien?«
»Nein, das habe ich nie von ihm gehört. Wenn er über Frauen geredet hat, dann sprach er immer nur von Schlampen und Nutten. Er war ein unflätiges Arschloch. Bei Demos hat er auch Frauen geschlagen. Für ihn machte es keinen Unterschied.«
»Glauben Sie, er könnte der Typ Mann gewesen sein, der mit der Freundin oder Frau eines anderen rummacht?«
Grant schüttelte den Kopf. »Nicht dass ich wüsste.«
Mit einem zappelnden Fisch im Schnabel flog die Möwe auf die Klippen hinter ihnen zu. Das Meer hatte sich etwas beruhigt, und da es jetzt rhythmisch gegen die Steinmauer klatschte, warf es kaum noch Gischt auf. Banks riskierte erneut eine Zigarette.
»Hatte Gill Feinde, von denen Sie wussten?«
»Bei seiner Haltung gegenüber der Öffentlichkeit muss er sich im Lauf der Jahre eine Menge davon gemacht haben«, sagte Grant. »Aber ich kann keinen benennen.«
»Jemand bei der Polizei?«
»Was?«
»Sie sagten, dass ihn auf dem Revier keiner wirklich mochte. Hatte jemand gute Gründe, etwas gegen ihn zu haben? Hat er jemandem Geld geschuldet, hat er Leute betrogen, gespielt? Hatte er finanzielle Probleme?«
»Ich glaube nicht. Er hat die Leute nur gegen sich aufgebracht, das ist alles. Er erzählte etwas von Pferdewetten, ja, aber ich glaube nicht, dass er das oft gemacht hat. Das schien ihm nur zu seinem Machoimage zu passen. Von mir wollte er sich nie Geld leihen, wenn Sie darauf hinaus wollen. Und ich glaube nicht, dass er ein Betrüger war, was Geld angeht. Wenigstens in dem Bereich war er ehrlich.«
Banks wandte dem kabbeligen Wasser seinen Rücken zu und schaute hoch zur düsteren Burgruine. Von seinem Blickwinkel aus konnte er nicht viel erkennen. Die steilen Klippen, in denen Meeresvögel ihre Nester angelegt hatten, waren mit Gras, Moos und blankem Felsen gesprenkelt. »Können Sie mir sonst noch etwas sagen?«, fragte er.
»Ich glaube nicht. Ich wollte nur, dass Sie wissen, dass die ganze Scheiße bei der Beerdigung genau das war. Scheiße. Gill war ein brutales Arschloch. Ich will nicht sagen, dass er verdient hat, was ihm passiert ist, das verdient niemand, doch wer mit dem Feuer spielt...«
»Haben Sie einen speziellen Grund, etwas gegen Gill zu haben?«
Die Frage schien Grant zu erschrecken. »Ich? Was wollen Sie damit sagen?«
»Das, was ich sage. Hat er Ihnen jemals persönlich etwas getan?«
»Nein. Hören Sie, wenn Sie meine Motive wissen wollen, Sir, glauben Sie mir, es ist genau so, wie ich es Ihnen erzählt habe. Ich hörte, dass Sie Fragen über Gill stellen, und ich dachte, jemand sollte die Wahrheit sagen, das ist alles. Ich bin keiner, der herumgeht und schlecht über die Toten redet, nur weil sie sich nicht mehr verteidigen können.«
Banks lächelte. »Tut mir Leid, ich bin nur ein alter Zyniker. Es ist lange her, dass ich bei der Polizei einem jungen Idealisten wie Ihnen über den Weg gelaufen bin.« Banks dachte an Superintendent Gristhorpe, der sich über die Jahre einen gewissen Idealismus bewahrt hatte. Aber er gehörte zur alten Garde. Bei der Jugend heutzutage war es eine seltene Qualität, besonders bei denen, die in den Polizeidienst gingen. Selbst Richmond konnte man kaum als Idealisten bezeichnen. Eifrig war er, ja, aber so pragmatisch, wie der Tag lang war.
Grant brachte ein dünnes Lächeln hervor. »Nett, dass Sie das sagen, aber es entspricht nicht ganz der Wahrheit. Schließlich«, sagte er, »bin ich letzten Freitag genau wie die anderen auf die Demonstranten losgegangen, oder? Und wissen Sie was?« Seine Worte schienen ihm im Halse stecken zu bleiben. Er konnte Banks nicht mehr in die Augen schauen. »Nach einer Weile begann es mir sogar zu gefallen.«
Aha, dachte Banks, vielleicht hatte Grant nur deswegen alles erzählt, weil er sich dafür schämte, wie Gill gehandelt und das Ganze genossen zu haben. Vom Schlachteifer übermannt zu werden war nicht ungewöhnlich. Der Ausstoß von Adrenalin erzeugte in Männern, die normalerweise jede gewalttätige Auseinandersetzung kilometerweit umgehen würden, eine Art Hochgefühl. Aber offensichtlich bedrückte es Grant. Vielleicht war dies sein Weg, um das, was er als Gills Teufel in sich sah, auszutreiben. Was auch immer seine Gründe waren, er hatte Banks eine Menge Stoff zum Nachdenken geliefert.
»Das kommt vor«, sagte Banks aufmunternd. »Machen Sie sich deshalb keine Sorgen. Passen Sie auf, würden Sie mir einen Gefallen tun?«
Sie begannen, zurück zu ihren Autos zu gehen.
Grant zuckte mit den Achseln. »Kommt drauf an.«
»Ich würde gerne mehr über Gills Überstunden wissen. Zum Beispiel, wo und wann er eingesetzt wurde. Darüber sollte es Berichte geben. Außerdem wäre es nützlich, wenn ich von möglichen offiziellen Beschwerden gegen ihn wüsste. Und dann möchte ich alles über sein Privatleben wissen.«
Grant runzelte die Stirn und stieß mit seiner Zunge gegen die linke Wange, als hätte er dort ein Furunkel. »Ich weiß nicht«, sagte er schließlich und suchte in den Taschen seines Dufflecoats nach den Wagenschlüsseln. »Ich möchte nicht erwischt werden. Meine Kollegen würden mir das Leben hier ganz schön zur Hölle machen, wenn sie nur wüssten, was ich Ihnen erzählt habe. Können Sie nicht einfach seine Akte anfordern?«
Banks schüttelte den Kopf. »Mein Chef möchte nicht, dass man erfährt, dass wir über Gill nachforschen. Er meint, es würde keinen guten Eindruck machen. Aber wenn es keiner erfährt ... Schicken Sie mir die Unterlagen an meine Privatadresse, nur um sicherzugehen.« Banks kritzelte seine Adresse auf eine Karte und reichte sie Grant.
Grant stieg in seinen Wagen und kurbelte das Fenster runter. »Ich kann nichts versprechen«, sagte er langsam, »aber ich werde es versuchen.« Er fuhr mit der Zunge über seine Lippen. »Wenn dabei irgendetwas Wichtiges herauskommen sollte ...« Er hielt inne.
Banks beugte sich hinab und legte seine Hände auf das feuchte Wagendach.
»Also«, fuhr Grant fort, »ich möchte nicht, dass Sie denken, ich bin nur auf meinen Vorteil aus, aber Sie werden sich erinnern, dass ich sagte, ich würde gerne zur Mordkommission, oder?« Und er sah Banks mit einem fetten, breiten, unschuldigen und offenen Lächeln an.
Teufel noch mal, den Jungen legte man nicht so leicht rein. Banks wurde nicht schlau aus ihm. Zuerst kam er so moralisch daher, dass Banks schon vermutete, die Kirche spiele eine große Rolle in seiner Vergangenheit. Doch trotz seines ganzen Idealismus und Respektes für das Gesetz entwickelte sich hier vielleicht ein neuer Dirty Dick. Dann wieder sah dieses verdammte, lächelnde Mondgesicht so verflucht engelsgleich aus ...
»Ja«, sagte Banks und lächelte zurück. »Keine Sorge, ich werde Sie nicht vergessen.«