Über dem Tal von Maggie's Farm klammerte sich Nebel an die Berghänge und in die Kalksteinspalten und tauchte alles in bleiches Licht. Bald nach dem Frühstück war Seth in seine Werkstatt verschwunden, um die Restaurierung von Jack Lippetts walisischer Kommode zu beenden. Rick erledigte ein paar Einkäufe in Helmthorpe und ging dann in sein Atelier in der umgebauten Scheune, um an seinem letzten Gemälde weiterzuarbeiten. Zoe beschäftigte sich in ihrer Wohnung mit Elsie Goodbodys Geburtstabelle. Und Paul machte einen langen Spaziergang über die Heide.
Im Wohnzimmer passte Mara auf Luna und Julian auf, während sie die Risse in Seths Jacke flickte. Die Kinder spielten mit Legosteinen. Oftmals schaute sie zu ihnen hinüber und war immer wieder davon ergriffen, welch durch und durch konzentrierten Ausdruck ihre Gesichter beim Bauen bekamen. Ab und zu brach ein Streit aus, und Julian beschwerte sich, dass die nur wenig jüngere Luna die Dinge nicht richtig machte. Dann beschuldigte ihn Luna, dass er sie herumkommandierte. Mara schritt ein, gab den beiden ihren Rat und bereinigte damit vorübergehend den Zwist.
Eigentlich brauchte man sich keinerlei Sorgen zu machen, sagte sich Mara beim Nähen, doch nach dem, was Seth und Rick von dem toten Polizisten gesagt hatten, wusste sie, dass ihnen eine eingehende Untersuchung bevorstand. Denn schließlich waren sie anders. Wenn sie auch nicht politisch in dem Sinne waren, dass sie einer bestimmten Partei angehörten, so glaubten sie doch an den Schutz der Umwelt. Sie hatten es sogar zugelassen, dass ihr Haus zur Basis für die Planung einer Demonstration benutzt wurde. Es war nur eine Frage der Zeit, bis es an der Tür klopfte. Noch etwas anderes machte Mara Sorgen und ging ihr durch den Kopf, aber sie konnte nicht genau sagen, was es war.
Als Seth und Rick nach zwei Uhr am Morgen zurückkamen, waren sie müde und hungrig gewesen. Seth hatte eine Anzeige wegen Nötigung und Rick wegen Behinderung eines Polizeibeamten bekommen. Dem, was Mara schon früher erfahren hatte, konnten die beiden nicht viel hinzufügen, außer der Nachricht vom Tod des Polizisten Gill, die sich schnell im Polizeirevier verbreitet hatte.
Im Bett hatte Mara versucht, Seth aufzumuntern, aber er wirkte sehr unnahbar. Schließlich sagte er, er sei müde, und schlief ein. Mara hatte noch lange wach gelegen und dem Regen gelauscht und dabei gedacht, wie oft Seth sich so abweisend gab. Mittlerweile lebte sie zwei Jahre mit ihm zusammen, aber sie hatte kaum das Gefühl, ihn zu kennen. Sie wusste nicht einmal, ob er jetzt wirklich eingeschlafen war oder nur so tat als ob. Er war ein Mann, der sich oft in tiefes Schweigen hüllte, so als würde er eine große, traurige Last mit sich herumtragen. Mara wusste, dass seine Frau Alison kurz bevor er den Hof gekauft hatte auf tragische Weise ums Leben gekommen war, doch sonst wusste sie überhaupt nichts von seiner Vergangenheit.
Wie ganz anders Rick dagegen war, dachte sie. Auch Ricks Leben hatte seine Tragik - mit seiner Ex-Frau war er in einen scheußlichen Prozess um Julians Sorgerecht verwickelt gewesen -, aber er war ein offener Mensch und konnte seine Gefühle zeigen, wohingegen Seth nie viel sagte. Doch Seth war stark, dachte Mara, er war die Sorte Mensch, zu der jeder aufschaute, weil er tatsächlich das Kommando zu haben schien. Und er liebte sie. Sie wusste, dass ihre Eifersucht, als Liz Dale aus der psychiatrischen Klinik weggelaufen war und bei ihnen Unterschlupf gesucht hatte, dumm gewesen war. Liz war eine enge Freundin von Alison gewesen und kannte Seth seit Jahren, sie war ein Teil seines Lebens, zu dem Mara keinen Zugang hatte, und das tat weh. Nacht für Nacht hatte Mara wach gelegen und mit fest umklammerten Kissen bis in die Morgenstunden ihren gedämpften Stimmen unten im Wohnzimmer gelauscht. Es war eine schwierige Zeit gewesen, mit Liz, der Belästigung durch die Sozialarbeiter und der Polizeirazzia, aber jetzt konnte sie zurückschauen und über die Erinnerung an ihre Eifersucht lachen.
Als sie so dasaß, nähte und die Kinder beobachtete, war Mara einfach nur glücklich, hier leben zu dürfen. Die meiste Zeit war sie froh; sie hatte kein Verlangen danach, die Welt zu verändern. Bisher hatte sie ein gutes Leben geführt, wenn auch manchmal ein chaotisches. Nach dem Studium hatte sie sich auf das Leben gestürzt - Reisen, Wohngemeinschaften, Liebesaffären, Drogen - und das alles, ohne sich große Gedanken zu machen.
Dann hatte sie vier Jahre mit der Organisation des Strahlenden Lichts verbracht; sie gipfelten in neun langen Monaten in einem ihrer Ashrams, wo alle Einnahmen an die Gruppe gingen und die Freiheit des Einzelnen äußerst begrenzt war. Es gab keine Kinobesuche, keine Abende im Pub, keine unbeschwerten, geselligen Treffen am Lagerfeuer. Gelacht wurde dort nur selten. Schnell hatte sich Mara wie in einer Falle gefühlt, und so hatte die ganze Episode bei ihr einen üblen Nachgeschmack hinterlassen. Sie hatte sich betrogen gefühlt, dazu verdammt, ihre Zeit zu verschwenden. Es hatte keine Liebe gegeben, keine spezielle Person, mit der man das Leben teilen konnte. Aber das war jetzt alles vorbei. Sie hatte Seth, der, so unnahbar er auch sein konnte, ein solider, zuverlässiger Mann war, sie hatte Paul, Zoe, Rick und vor allem die Kinder. Nachdem sie so lange umhergeirrt und auf der Suche gewesen war, schien sie schließlich die Beständigkeit gefunden zu haben, die sie brauchte. Sie war nach Hause gekommen.
Trotzdem fragte sie sich manchmal, wie sich die Dinge wohl entwickelt hätten, wenn ihr Leben normaler gewesen wäre. Sie hatte von Managern gehört, die in den sechziger Jahren ausgestiegen waren, die sich ihrer Anzüge und Krawatten entledigten, LSD einwarfen und nach Woodstock reisten. Mara dagegen träumte manchmal davon einzusteigen. Sie hatte Köpfchen, ihr Examen in englischer Literatur an der Universität von Essex hatte sie mit »sehr gut« bestanden. Es gab Momente, da sah sie sich ganz adrett und tüchtig im Kostümchen, vielleicht in einer Stellung in der Werbebranche oder vor einer Tafel, wo sie einer gebannten Klasse Keats oder Coleridge näher brachte.
Doch diese Phantasien dauerten nie lang. Sie war mittlerweile achtunddreißig Jahre alt, und selbst für qualifizierte und erfahrene Bewerber war es schwierig, einen Job zu bekommen. All die Gelegenheiten waren an ihr vorbeigezogen. Außerdem wusste sie, dass sie nicht mehr dazu in der Lage wäre, in der Alltagswelt zu arbeiten. Bei dem rasenden Tempo, den belanglosen Bedürfnissen und der Geldgier könnte sie auch gleich der Armee beitreten. Ihre Jahre am Rande der Gesellschaft hatten sie von dem Leben innerhalb des Systems entfernt. Sie wusste nicht einmal mehr, worüber die Menschen heutzutage bei der Arbeit sprachen. Der neue BMW? Urlaub in der Karibik? Alles, was sie wusste, las sie in den Zeitungen, und dabei bekam man den Eindruck, dass die Leute nicht mehr ihr Leben lebten, sondern stattdessen »Lifestyles« hatten.
Am nächsten kam sie einer normalen, bürgerlichen Existenz noch, wenn sie dafür, dass sie ihr Töpferrad und ihren Brennofen benutzen durfte, drei Tage in der Woche in Elsbeths Kunstgewerbeladen arbeitete. Aber Elsbeth war auch nicht gerade ein gewöhnlicher Mensch. Sie war eine freundliche, silberhaarige Lesbe, die seit über dreißig Jahren mit ihrer Lebensgefährtin Dottie in Relton lebte. In ihren Tweedkleidern wirkte sie äußerlich wie eine Matrone vom Land, doch der Schalk in ihren Augen erzählte eine andere Geschichte. Mara liebte die beiden sehr, Dottie war allerdings in letzter Zeit kaum zu sehen. Sie war krank, Mara nahm an, dass sie bald an Krebs sterben würde, und Elsbeth trug diese Last mit der ihr eigenen schroffen, stoischen Ruhe.
Um zwölf Uhr klopfte es und Rick kam durch die Hintertür herein und unterbrach Maras umherschweifende Gedanken. Er sah vom Scheitel bis zur Sohle wie ein Künstler aus: Bart, Kittel und Jeans mit Farben verschmiert, Bierbauch. Seine gesamte Erscheinung führte einem vor Augen, dass er an sich glaubte und keinen Pfifferling darauf gab, was andere Leute von ihm dachten.
»Alles ruhig an der Front?«, fragte er.
Mara nickte. Mit einem Ohr hatte sie über das Klappern des Windspiels hinweg auf einen Polizeiwagen gelauscht. »Aber sie werden kommen.«
»Das wird wahrscheinlich eine Weile dauern«, sagte Rick. »Es waren noch eine Menge anderer beteiligt. Wir sind vielleicht gar nicht so wichtig, wie wir glauben.«
Er hob Julian hoch und wirbelte ihn durch die Luft. Das Kind quiekte vor Freude auf und zappelte, als Rick seinen Bart an seinem Gesicht rieb. Zoe klopfte an die Tür und kam aus der Scheune, um sich zu ihnen zu gesellen.
»Hör auf, Papi!«, schrie Julian. »Das kitzelt. Hör auf!«
Rick setzte ihn ab und zerzauste ihm spielerisch das Haar. »Was baut ihr beiden denn da?«, wollte er wissen.
»Eine Raumstation«, antwortete Luna ernsthaft.
Mara betrachtete das Durcheinander aus Legosteinen und musste lächeln. Sie konnte nichts darin erkennen, aber es war erstaunlich, was sich Kinder in ihrer Phantasie alles zusammenreimten.
Rick lachte und wandte sich an Zoe. »Alles okay, Mädel?«, fragte er und legte einen Arm um ihre zarte Schulter. »Was sagen uns die Sterne heute?«
Zoe lächelte. Sie liebte Rick offensichtlich über alles, dachte Mara, sonst würde sie es sich mit zweiunddreißig Jahren niemals gefallen lassen, wie eine Jugendliche geneckt und behandelt zu werden. Könnte es da eine Möglichkeit geben, dass die beiden zusammenkommen, fragte sie sich. Für die Kinder wäre es gut.
»Elsie Goodbody verschwendet ihr Leben als Hausfrau«, sagte Zoe. »Nach ihren Tabellen sollte sie in die Politik gehen.«
»Sie macht Hauspolitik«, sagte Rick, »und das ist noch schlimmer. Kommt jemand mit in den Pub?«
Samstags und sonntags zur Mittagszeit gingen sie für gewöhnlich runter ins Black Sheep. Solange sie ruhig blieben, hatte der Wirt nichts gegen die Kinder, und Zoe nahm Malbücher mit, um sie zu beschäftigen. Mara holte Seth aus seiner Werkstatt, und auf dem Weg ritt Julian auf den Schultern seines Vaters und Luna hielt Zoes Hand.
»Nur einen Moment, ich komme gleich nach«, sagte Mara und lief zurück ins Haus. Sie wollte Paul eine Nachricht hinterlassen, damit er wusste, wo sie waren. Eine Förmlichkeit nur, eine liebevolle Geste. Doch als sie schrieb und in Gedanken wieder bei ihm war, fiel ihr plötzlich ein, was sie den ganzen Vormittag gequält hatte.
Letzte Nacht hatte Pauls Hand geblutet, und er hatte ein Pflaster draufgeklebt. Als er an diesem Morgen herunterkam, hatte sich das Pflaster abgelöst, wahrscheinlich als er sich gewaschen hatte, und der Knöchel seines Daumens war so blank wie immer. Es war überhaupt keine Spur eines Schnittes zu sehen.
Maras Herz schlug schnell, als sie loseilte, um die anderen einzuholen.
»Superintendent Burgess, Sir«, sagte Constable Craig und verschwand sofort wieder.
Der Mann, der in Gristhorpes Büro vor ihnen stand, unterschied sich ein wenig von dem Burgess in Banks Erinnerung. Über einem weißen Hemd mit offenem Kragen trug er einen abgewetzten schwarzen Lederblouson und steckte in eng anliegenden marineblauen Cordhosen. Das gut aussehende Gesicht mit dem kantigen, entschlossenen Kinn hatte sich kaum verändert, auch wenn seine leicht schiefen Zähne etwas mehr vom Tabak verfärbt waren. Die Tränensäcke unter seinen zynischen grauen Augen passten immer noch gut zu ihm. Sein dunkles Haar, kurz und zurückgekämmt, war an den Schläfen grau geworden, und es sah so aus, als würde er nach wie vor Brylcreme benutzen. Er war ungefähr einen Meter achtzig groß, kräftig gebaut und machte, obwohl ein bisschen füllig geworden, den Eindruck, als würde er immer noch zweimal die Woche Squash spielen. Am auffälligsten an seiner Erscheinung war seine tief gebräunte Haut.
»Barbados«, sagte er, als er ihre Überraschung bemerkte. »Kann ich wärmstens empfehlen, besonders zu dieser Jahreszeit. Ich bin gerade zurückgekommen, als diese Sache passierte.«
Gristhorpe stellte sich vor, dann schaute Burgess Banks an und kniff die Augen zusammen. »Banks, habe ich Recht? Ich habe gehört, dass Sie versetzt wurden. Sie schauen ein bisschen kränklich aus, oder? Werden Sie hier oben nicht ordentlich gefüttert?«
Banks rang sich ein Lächeln ab. Es war typisch für Burgess, die Versetzung so klingen zu lassen, als wäre es eine Bestrafung und Degradierung. »Wir haben hier nicht besonders viel Sonne«, sagte er.
Burgess schaute in Richtung Fenster. »Das merke ich. Wenn es Sie irgendwie tröstet, in London hat es gepisst, als ich abgereist bin.« Er klatschte knallend in die Hände. »Also, wo ist die nächste Kneipe? Ich verhungere. Den Fraß der britischen Bahn wollte ich lieber nicht probieren. Ein Bier könnte ich auch vertragen.«
Gristhorpe entschuldigte sich und behauptete, ein Treffen mit dem stellvertretenden Polizeipräsidenten zu haben, also führte Banks Burgess hinüber ins Queen's Arms.
»Sieht nicht übel aus, der Laden«, sagte Burgess, schaute sich um und betrachtete den geräumigen Salon und die geschwungenen Tische mit den Kupferplatten und schwarzen schmiedeeisernen Beinen sowie die tiefen Sessel vor dem lodernden Kamin. Dann verweilten seine Blicke auf der Kellnerin hinter der Theke. »Ja. Gar nicht übel. Setzen wir uns an die Theke.«
Einige Einheimische hielten in ihren Gesprächen inne, um sie anzustarren. Banks kannten sie bereits, doch Burgess' Akzent besaß immer noch Spuren seiner Herkunft aus dem East End. So sehr er auch dem rechten Flügel angehörte, Banks erinnerte sich, dass er nicht aus der privilegierten Schule der Torys stammte. Sein Vater war ein Straßenhändler gewesen, und Burgess hatte sich von unten hochgekämpft. Banks wusste auch, dass er sich denjenigen seiner Klasse gegenüber, die es nicht ebenso geschafft hatten, kaum solidarisch fühlte. Für die Einheimischen war er offensichtlich das hohe Tier aus London, das man nach den Ereignissen der letzten Nacht erwartet hatte.
Banks und Burgess setzten sich auf die Barhocker. »Was nehmen Sie?«, fragte Burgess und zog ein glänzendes schwarzes Lederportemonnaie aus seiner Innentasche. »Ich zahle.«
»Vielen Dank. Ich nehme ein Pint Theakton's Bitter.«
»Essen?«
»Der Fleischeintopf ist ganz anständig.«
»Ich glaube, ich bleibe bei Fish & Chips«, sagte Burgess. Er bestellte Essen und Getränke bei der Kellnerin. »Und für mich ein Glas Double Diamond, bitte, Schätzchen.« Er zündete sich eine Tom-Thumb-Zigarre an und stieß sie gegen Banks Glas.
»Ich kann dieses Ale-Gebräu nicht ausstehen«, sagte er, rieb seinen Bauch und schnitt eine Grimasse. »Krieg ich immer Dünnschiss von. Ah, danke, Schätzchen. Wie heißt du?«
»Glenys«, sagte die Kellnerin. Als sie ihm das Wechselgeld gab, schenkte sie ihm ein verschämtes Lächeln und wendete sich dann ab, um einen anderen Gast zu bedienen.
»Hübsch«, sagte Burgess. »Eigentlich nicht gerade der dralle Kellnerinnentyp, aber trotzdem hübsch. Schöner Hintern. Ein Fünfer, dass ich sie flachlege, bevor die Sache hier erledigt ist.«
Banks wünschte, er würde es versuchen. Der muskulöse Mann, der am anderen Ende der Theke Gläser polierte, war Glenys' Ehemann, Cyril. »Abgemacht«, sagte er. Sie gaben sich die Hand. Allerdings hatte Banks keine Ahnung, wie Burgess es beweisen wollte, sollte er gewinnen. Vielleicht würde er Glenys dazu überreden, ihm einen Schlüpfer als Trophäe mitzugeben, wer weiß? Das wahrscheinlichste Ergebnis jedoch würde ein blaues Auge für Burgess und ein Fünfer in Banks' Tasche sein.
»Also, ich habe gehört, ihr hattet hier einen Aufstand letzte Nacht.«
»Nicht gerade einen Aufstand«, sagte Banks, »aber es war schlimm genug.«
»Die Demo hätte gar nicht erlaubt werden dürfen.«
»Sicher. Im Nachhinein sagt sich so etwas leicht, aber wir hatten keinen Grund, Ärger zu erwarten. Eine Menge Leute hier haben Verständnis für die Sache und sie ermorden normalerweise keine Polizisten.«
Burgess kniff seine Augen zusammen. »Sie auch? Verständnis für die Sache?«
Banks zuckte mit den Achseln. »Niemand will eine weitere Luftwaffenbasis in den Dales, und ich bin auch kein großer Freund der Atomkraft.«
»Ein verdammter Bolschewik bei der Polizei, hä? Kein Wunder, dass man Sie hier hochgeschickt hat. Ich wette, das ist so, als würde man nach Sibirien verbannt werden, oder?« Er kicherte über seinen eigenen Witz und schüttete dann die Hälfte seines Bieres in einem Schluck runter. »Was haben wir denn bisher?«
Banks berichtete ihm von den Aussagen, die sie aufgenommen hatten, sowie von den wichtigsten Gruppierungen, die an der Organisation des Protestes beteiligt waren, einschließlich der Leute von Maggie's Farm. Während er zuhörte, kaute Burgess auf seiner Unterlippe und klopfte seine Zigarre auf dem Rand des blauen Aschenbechers ab. Jedes Mal, wenn Glenys vorbeiging, verfolgten sie seine ruhelosen Blicke.
»Einundsiebzig Namen«, bemerkte er, als Banks seinen Bericht beendet hatte. »Und Sie glauben, es waren um die hundert da. Das ist nicht viel, oder?«
»In einer Mordermittlung schon.«
»Mmmh. Schon jemanden ausgeguckt?«
»Wie meinen?«
»Einheimische Unruhestifter, Störenfriede. Seien wir ehrlich, Banks. Es sieht nicht danach aus, dass wir irgendein Beweisstück in die Hand bekommen, es sei denn, jemand findet das Messer. Es besteht die Möglichkeit, dass, wer auch immer es war, zu denen gehört, die abhauen konnten. Ich wollte nur wissen, wer Ihr wahrscheinlichster Verdächtiger ist.«
»Wir haben noch keine Verdächtigen.«
»Ach, hören Sie auf! Ist keiner dabei mit einer Vorstrafe wegen einer politisch motivierten Gewalttat?«
»Nur das hiesige Mitglied der Konservativen.«
»Sehr gut«, sagte Burgess grinsend. »Sehr gut. Meiner Meinung nach«, fuhr er fort, »gibt es zwei Möglichkeiten. Erstens: Es passierte in der Hitze des Gefechts, jemand hat die Beherrschung verloren und mit einem Messer rumgefuchtelt. Oder zweitens: Es handelte sich um den vorsätzlichen Plan, einen Polizisten zu töten, einen terroristischen Akt, der darauf abzielte, Chaos zu verursachen, die Gesellschaft zu beunruhigen.«
»Was ist mit dem Messer?«, meinte Banks. »Der Mörder konnte nicht davon ausgehen, davonzukommen, und wir haben in der ganzen Gegend keine Spur von der Waffe gefunden. Ich würde sagen, das deutet mehr in Richtung Ihrer ersten Theorie. Jemand hat die Beherrschung verloren und nicht mehr an die Konsequenzen gedacht. Und dann hat er einfach Glück gehabt.«
Burgess leerte sein Glas. »Nicht unbedingt«, sagte er. »Diese verdammten Terroristen sind Kamikazetypen. Die interessiert nicht, ob sie geschnappt werden oder nicht. Wie Sie sagten, wer auch immer es war, er hatte diesmal einfach Glück.«
»Möglich.«
»Aber unwahrscheinlich?«
»In Eastvale schon. Wie gesagt, die meisten Leute auf der Demonstration waren ziemlich harmlos. Selbst die Gruppen, zu denen sie gehören, waren bisher noch nie gewalttätig.«
»Aber Sie haben nicht alle Namen.«
»Nein.«
»Dann haben wir etwas, woran wir arbeiten können. Nehmen Sie diejenigen, die Sie haben, in den Schwitzkasten, und erstellen sie eine vollständige Liste.«
»Detective Constable Richmond arbeitet daran«, sagte Banks, obwohl er sich kaum vorstellen konnte, dass Philip Richmond jemanden in den Schwitzkasten nahm.
»Gut.« Burgess winkte der Kellnerin. »Noch zweimal das Gleiche, Gladys, Schätzchen«, rief er.
»Glenys«, sagte sie und wurde rot. Dann senkte sie ihren Kopf, um sich beim Zapfen auf das Glas zu konzentrieren.
»Tut mir Leid, Schätzchen. Ich bin noch ganz k. o. von der Zugfahrt. Nimm dir auch was, Glenys.«
»Vielen Dank.« Glenys lächelte ihn schüchtern an und nahm das Geld für einen Gin Tonic. »Ich trinke ihn später, wenn nicht mehr so viel los ist, wenn Sie nichts dagegen haben.«
»Wie du willst.« Burgess schenkte ihr ein breites Lächeln und zwinkerte. »Wo waren wir?«, fragte er und drehte sich wieder zu Banks.
»Namen.«
»Genau. Sie müssen eine Liste von ansässigen Roten haben und so was, oder? Sie wissen, welche Sorte ich meine - Anarchisten, Skinheads, Arschficker, Frauenrechtler, aufsässige Nigger.«
»Selbstverständlich. Wir führen sie auf der Rückseite einer Briefmarke.«
»Sie haben vorhin drei Organisationen erwähnt. Was ist FEEF?«
»Frauen von Eastvale für Emanzipation und Freiheit.«
»Klingt ja beeindruckend. So im Stile der Landfrauen von Greenham, oder?«
»Nicht ganz. Sie kümmern sich hauptsächlich um lokale Themen wie unzureichende Straßenbeleuchtung und sexuelle Diskriminierung am Arbeitsplatz.«
»Trotzdem«, sagte Burgess, »es ist ein Anfang. Ihr Mann - Richmond, oder? - sollte sich deshalb mit der Special Branch in Verbindung setzen. Die haben umfangreiche Akten über Bolschewiken, ganz egal wo. Er kann das mit dem Computer machen, falls Sie hier oben einen haben.«
»Haben wir.«
»Gut. Sagen Sie ihm, er soll wegen des Zugangscodes zu mir kommen.« Ihr Essen wurde serviert. Burgess schüttete Salz und Essig auf seine Fish & Chips. »Als Einstieg können wir sie gegeneinander ausspielen«, sagte er. »Simple Taktik: Zersprengen und erobern. Wir erzählen diesen Leuten von FEEF, dass die Studentenvertretung sie für den Mord verantwortlich macht, und andersherum. Wenn irgendjemand etwas weiß, werden sie es uns wahrscheinlich aus Angst erzählen, selbst mit reingezogen zu werden. Wir brauchen Ergebnisse, und zwar schnell. Durch diese Sache haben wir die Möglichkeit, einmal gut dazustehen. Heutzutage stehen wir immer als die Bösen da, besonders nach diesem verdammten Streik der Minenarbeiter. Wir brauchen zur Abwechslung mal ein bisschen gute Presse, und hier ist unsere Chance. Ein Polizist wurde ermordet, damit ist uns schon mal eine Menge Mitgefühl in der Öffentlichkeit sicher. Wenn wir irgendeinen linken Terroristen dafür drankriegen können, haben wir es geschafft.«
»Ich glaube nicht, dass wir einen Schritt weiterkommen, wenn wir die Gruppen gegeneinander ausspielen«, sagte Banks. »So aggressiv sind die einfach nicht.«
»Seien Sie nicht so verdammt negativ, Mann. Denken Sie daran, irgendjemand weiß, wer es getan hat, und wenn es nur der Mörder selbst ist. Ich werde mich heute Nachmittag akklimatisieren und morgen« - Burgess klatschte in die Hände und puderte seinen Teller mit Asche - »werden wir zuschlagen.« Er hatte die furchtbare Angewohnheit, eine Ewigkeit regungslos dazustehen oder dazusitzen, um dann eine plötzliche, ruckartige Bewegung zu machen. Banks erinnerte sich daran, wie ihn das schon bei ihren früheren Treffen zur Weißglut gebracht hatte.
»Zuschlagen?«
»Razzien, Kontrollbesuche, nennen Sie es, wie Sie wollen. Wir suchen nach Dokumenten, Briefen, nach allem, was uns einen Hinweis darauf geben könnte, was vorgefallen ist. Gibt es hier Probleme, Durchsuchungsbefehle zu kriegen?«
Banks schüttelte den Kopf.
Burgess spießte einen Chip auf. »Es geht nichts über eine nette kleine Razzia am Sonntagmorgen, sage ich immer. Die Leute haben komische Vorstellungen vom Sonntag, wissen Sie. Besonders religiöse Typen. Nach einem netten kleinen Schwatz mit dem Allmächtigen fühlen sie sich völlig sicher und selbstgefällig, aber wenn irgendetwas ihre Routine stört, gehen sie an die Decke. Der ideale Tag für Razzien und Verhöre, glauben Sie mir. Man muss nur warten, bis sie es sich mit der Sonntagszeitung gemütlich gemacht haben. Sie erwähnten vorhin ein paar Aussteiger auf einem Bauernhof, oder?«
»Das sind keine Aussteiger«, sagte Banks. »Sie versuchen nur, in der Gemeinschaft selbstständig und autark zu leben. Sie nennen den Hof Maggie's Farm«, fügte er hinzu. »Das ist der Titel eines alten Bob-Dylan-Songs. Wahrscheinlich auch eine Anspielung auf Thatcher.«
Burgess grinste. »Immerhin haben sie Sinn für Humor. Und den werden sie verdammt noch mal auch brauchen, bis wir mit ihnen fertig sind. Wir werden sie aufsuchen und ein bisschen auf Zack bringen. Wenn wir auch sonst nichts finden, Drogen werden da bestimmt rumfliegen. Wollen wir uns die Razzien aufteilen? Irgendwelche Vorschläge?«
Banks hatte keine Lust, erneut mit Dorothy Wycombe aneinander zu geraten, und Sergeant Hatchley in die FEEFZentrale zu schicken käme dem Besuch eines Elefanten im Porzellanladen gleich. Das gleiche Ergebnis hätte man, wenn Burgess hoch zu Maggie's Farm fahren würde. Ein Treffen mit Ms. Wycombe jedoch, dachte er, könnte Dirty Dick ganz gut tun.
»Ich nehme den Hof«, sagte er. »Überlassen wir Hatchley die Kirchengruppe, Richmond die Studenten, dann können Sie sich um FEEF kümmern. Während wir die Fragen stellen, können ein paar Uniformierte die Durchsuchungen vornehmen.«
Burgess' Augen verengten sich misstrauisch, dann lächelte er. »Okay, abgemacht«, sagte er.
Er weiß, dass ich ihm die Scheiße anhänge, dachte Banks, aber er lässt sich trotzdem darauf ein. Eingebildetes Arschloch.
Burgess schlang den Rest seines Essens runter. »Ich würde ja gerne noch auf ein Bier bleiben«, sagte er, »und meine Augen weiter an der hübschen Glenys weiden, aber die Pflicht ruft. Wollen wir hoffen, dass wir morgen genug Grund haben, das Mittagessen zu zelebrieren. Warum holen Sie heute Nachmittag nicht einfach etwas Schreibarbeit nach? Noch gibt es nicht viel zu tun. Und heute Abend können Sie mir vielleicht ein paar dieser urigen Dorfkneipen zeigen, von denen ich in den Tourismusbroschüren gelesen habe.«
Die Aussicht auf einen Kneipenbummel mit Dirty Dick Burgess, gleich nach einem Abend mit der Abgeordneten Honoria Winstantley, reizte Banks ungefähr so sehr wie ein Schlag ins Gesicht mit einem nassen Fisch, doch er sagte höflich zu. Schließlich gehörte es zum Job, und Burgess war sein Vorgesetzter. Wahrscheinlich würden sie für ein paar Tage zusammenarbeiten, und es würde nicht schaden, so gut wie möglich miteinander auszukommen. Mach das Beste draus, hatte Gristhorpe gesagt. Zudem erinnerte sich Banks dunkel, dass Burgess nach ein paar Gläsern nicht die schlechteste Gesellschaft war.
Burgess rutschte vom Hocker und schritt zur Tür. »Ciao, Glenys, Schätzchen«, rief er beim Weggehen über die Schulter. Banks bemerkte, wie Cyrils Hand sich mit finsterem Blick um den Zapfhahn krallte.
Banks schob seinen leeren Teller zur Seite und zündete sich eine Silk Cut an. Er fühlte sich erschöpft. Diesem Burgess nur zuzuhören erinnerte ihn bereits an alles, was er in seiner Zeit bei der Londoner Polizei gehasst hatte. Doch Burgess hatte Recht: Sie untersuchten einen politischen Mord, und die ansässigen Aktivistengruppen zu kontrollieren war der erste logische Schritt.
Es war der offensichtliche Genuss, mit dem der Superintendent die Aufgabe betrachtete, der Banks missfiel und der ihn so sehr an seine Zeit in London erinnerte. Außerdem erinnerte er sich an Burgess' Verhörmethoden, die er wahrscheinlich von der spanischen Inquisition gelernt hatte. Auf ein paar unschuldige Menschen, die einfach an die atomare Abrüstung und die Zukunft der menschlichen Rasse glaubten, kamen schwere Zeiten zu. Burgess ähnelte einem Pitbull-Terrier, er würde nicht loslassen, bis er hatte, was er wollte.
Ach, wie schön wäre jetzt ein netter britischer Mord auf dem Dorfe, dachte Banks, genau so einer wie in den Romanen: eine überschaubare Gruppe von fünf oder sechs Verdächtigen, ein zweifelhaftes Testament und keine Eile, um das Puzzle zusammenzusetzen. Aber so ein Glück hatte er nicht. Er leerte sein Glas, drückte die Zigarette aus und ging zurück über die Straße, um weitere Aussagen zu lesen.
Mara nippte an ihrem kleinen dunklen Bier, ohne es wirklich zu schmecken. Sie schien sich weder entspannen noch wie gewöhnlich die Gesellschaft genießen zu können. Seth saß an der Theke und plauderte mit Larry Grafton über irgendein altes Möbel, das der Wirt von seiner Urgroßmutter geerbt hatte. Rick und Zoe stritten sich über Astrologie. Und die Kinder saßen am Fenster und malten in aller Stille.
Was hatte es zu bedeuten, fragte sich Mara. Als sie Paul in der vergangenen Nacht auf das Blut an seiner Hand angesprochen hatte, war er in die Küche gegangen und hatte ein Pflaster genommen, ohne ihr die Wunde zu zeigen. Jetzt stellte sich heraus, dass es keine Wunde gab. Wessen Blut war es also gewesen?
Natürlich, so sagte sie sich, könnte alles Mögliche passiert sein. Er könnte versehentlich jemanden gestreift haben, der sich bei der Demo verletzt hatte. Es wäre sogar möglich, dass er jemandem helfen wollte. Aber er war eindeutig den ganzen Weg nach Hause gelaufen. Als er angekommen war, war er durcheinander und außer Atem gewesen. Und wenn die Erklärung für das Blut eine unschuldige war, warum hatte er dann gelogen? Denn darauf lief es schließlich hinaus. Anstatt die einfache Wahrheit zu erzählen, hatte er sie glauben lassen, er wäre verletzt, wenn auch nicht schlimm, und sie konnte keinen überzeugenden Grund finden, warum er das getan hatte.
»Du bist still heute«, sagte Seth und kam mit neuen Getränken an den Tisch.
Für dich ist es einfach, wollte sie sagen. Du kannst deine Gefühle verdrängen und über Hämmer und Hobel und Meißel und Beitel und Schleifpapier reden, so als wäre nichts passiert. Doch mit mir spricht niemand. »Es ist nichts«, sagte sie stattdessen. »Ich glaube, ich bin nur etwas müde nach gestern Nacht.«
Seth nahm ihre Hand. »Hast du nicht gut geschlafen?«
Nein, hätte sie fast gesagt, nein, ich habe beschissen geschlafen. Ich habe darauf gewartet, dass du deine Gefühle mit mir teilst, aber das hast du nicht getan. Das tust du nie. Du kannst mit Hinz und Kunz über deine Arbeit reden, aber über nichts anderes, über nichts Wichtiges. Doch sie sagte nichts. Sie drückte seine Hand, küsste ihn flüchtig und sagte, dass alles in Ordnung sei. Sie wusste, dass sie nur gereizt war und sich um Paul sorgte, und sie würde bestimmt bald wieder bessere Laune haben. Kein Grund, einen Streit zu beginnen.
Rick hatte sein Gespräch mit Zoe beendet und wendete sich an die anderen. Mara sah orange und weiße Farbkleckse in seinem Bart. »Alle reden über die Demo in Eastvale«, sagte er. »Als ich in den Lebensmittelladen ging, zerrissen sich alle die Mäuler darüber.«
»Was denken sie denn von der ganzen Sache?«, fragte Mara.
Rick schnaubte verächtlich. »Die denken nicht. Die sind genauso wie ihre Schafe. Aus Angst, sie könnten etwas Falsches sagen, behalten sie ihre Meinung - wenn sie überhaupt eine haben - lieber für sich. Natürlich machen sie sich Sorgen um radioaktiven Niederschlag. Aber wer tut das nicht? Und das ist dann auch schon alles, was sie machen: sich sorgen und jammern. Wenn es darauf ankommt, dann nehmen sie es wie alles andere hin und stecken den Kopf in den Sand. Die Frauen sind noch schlimmer. Alles, was sie tun können, wenn irgendetwas ihr nettes, ordentliches, angenehmes kleines Leben, das sie sich eingerichtet haben, durcheinander bringt, ist zu jammern und noch mal zu jammern.«
Die Tür quietschte in den Angeln und Paul kam herein.
Mara betrachtete die ausgezehrte Gestalt, die mit in den Taschen vergrabenen Händen auf sie zukam. Mit seinem ausgehöhlten, knochigen Gesicht, den tätowierten Fingern und den Narben, Einstichen und selbst zugefügten Brandmalen von Zigaretten, von denen Mara wusste, dass sie sich über seine ganzen Arme erstreckten, machte Paul einen Furcht erregenden Eindruck. Nur seine Frisur ließ ihn weicher erscheinen. Sein blondes Haar war hinten und an den Seiten kurz, oben jedoch so lang, dass ihm der Pony ständig über die Augen fiel. Mit finsterer Miene strich er ihn immer wieder zurück, zog aber nie in Betracht, ihn abzuschneiden.
Mara konnte nicht anders, als an seine Herkunft zu denken. Von Kindheit an war Pauls Leben wüst und hart gewesen. Er redete nie viel über seine tatsächlichen Eltern, aber er hatte Mara von der gefühlskalten Pflegefamilie erzählt, in der von ihm für jede Kleinigkeit, die für ihn getan wurde, ewige Dankbarkeit erwartet worden war. Schließlich war er weggelaufen und hatte als Punk auf der Straße gelebt und alles getan, was zum Überleben nötig war. Ein Leben mit harten Drogen, Gewalt und schließlich Gefängnis. Als sie ihn aufgelesen hatten, war er vollkommen orientierungslos und auf der Suche nach irgendeinem Lebensanker gewesen. Jetzt fragte sie sich, inwieweit er sich wirklich verändert hatte, seit er bei ihnen wohnte.
Bei dem Gedanken an das Blut auf seiner Hand, an die Art, wie er gelogen hatte, und an den ermordeten Polizisten bekam sie auf einmal Angst. Wie würde er reagieren, wenn sie ihn zur Rede stellte? Lebte sie mit einem Mörder unter einem Dach? Und wenn ja, was sollte sie tun?
Während sich die anderen um sie herum unterhielten, spürte Mara, wie sie in einen wirren Gedankenstrudel gezogen wurde. Sie nahm die Töne der anderen auf, nicht aber die Worte, nicht ihre Bedeutung. Sie dachte daran, sich Seth anzuvertrauen, doch was wäre, wenn er irgendwelche Schritte unternahm? Er könnte sich Paul vorknöpfen und ihn sogar fortschicken. Manchmal konnte er sehr streng und unnachgiebig sein. Sie wollte nicht, dass ihre neue Familie auseinander brach, so unvollkommen sie auch war. Sie war alles, was sie auf der Welt besaß.
Nein, entschied sie, sie würde es niemandem erzählen. Noch nicht. Sie wollte Paul nicht das Gefühl geben, sie hätten sich gegen ihn verschworen. Wahrscheinlich waren all ihre Befürchtungen sowieso lächerlich. Sie malte den Teufel an die Wand und baute dumme Ängste auf. Paul würde ihr niemals etwas antun, sagte sie sich, selbst in einer Million Jahren nicht.