Ein plötzlicher, kräftiger Schauer trieb die Händler vom Marktplatz. Es war sowieso bereits an der Zeit, zusammenzupacken und zu gehen; im Winter und zu Frühlingsanfang waren die Markttage oft kalt und wenig einträglich. Aber der Regen hörte so schnell auf, wie er begonnen hatte, und im Nu kam die Sonne wieder hervor. Das nasse Kopfsteinpflaster reflektierte das schwache, bronzene Sonnenlicht, welches über die kleinen Pfützen tanzte, wenn der Wind ihre Oberflächen kräuselte.
Die goldenen Zeiger auf dem blauen Ziffernblatt der Kirchturmuhr standen auf zwanzig nach vier. Burgess war noch nicht vom Labor zurückgekehrt. Banks saß wartend am Fenster, die schwere Jalousie hochgezogen, rauchte, trank schwarzen Kaffee und schaute hinunter auf die Szenerie. Menschen überquerten den Platz und platschten durch die Pfützen, die sich dort angesammelt hatten, wo die Pflastersteine ausgetreten oder weggebrochen waren. Alle trugen graue Regenmäntel oder grelle wasserfeste Kleidung, manche hatten sogar einen Schirm dabei, als vertrauten sie nicht darauf, dass sich das Wetter hielt. Und bald würde es dunkel werden. Schon jetzt warf die Tudorfassade des Polizeireviers einen langen Schatten über den Platz.
Um Viertel nach fünf hörte Banks hektische Betriebsamkeit vor seinem Büro, dann kam Burgess mit einem gelbbraunen Ordner hereingestürmt.
»Sie haben es geschafft«, sagte er. »Hat lange genug gedauert, aber sie haben es hingekriegt: deutliche Fingerabdrücke, und das Blut passt mit Gills Blutgruppe überein. Kein Zweifel, das war das Messer. Constable Richmond überprüft bereits die Fingerabdrücke. Wenn sie registriert sind, dann können wir loslegen.«
Er zündete eine Tom Thumb an und rauchte, wobei er die Zigarre regelmäßig auf die Kante des Aschenbechers stippte, egal ob sich Asche angesammelt hatte oder nicht. Banks ging zurück zum Fenster. Die Schatten waren länger geworden. Auf dem Platz gingen Sekretärinnen und Angestellte auf dem Heimweg kurz beim Zeitschriftenhändler Joplin vorbei, um sich die Abendzeitung zu kaufen; junge Paare spazierten Hand in Hand in das Café El Toro, um sich gegenseitig von den Höhen und Tiefen ihres Tages im Büro zu erzählen.
Als Richmond klopfte und eintrat, sprang Burgess auf. »Und?«
Richmond strich sich über den Schnurrbart. Er konnte kaum ein triumphierendes Grinsen zurückhalten. »Es ist Boyd«, sagte er und hielt die Listen hoch. »Paul Boyd. Eine Übereinstimmung in achtzehn Punkten. Genug, um vor Gericht damit zu bestehen.«
Burgess klatschte in die Hände. »Gut! Genau wie ich dachte. Gehen wir. Kommen Sie doch auch mit, Constable. Wo ist Sergeant Hatchley?«
»Weiß ich nicht, Sir. Ich glaube, er überprüft noch ein paar Zeugenaussagen.«
»Egal. Drei sind genug. Holen wir uns Boyd zu einem kleinen Plausch.«
Sie zwängten sich in Banks' Cortina und fuhren zu Maggie's Farm. Diesmal spielte Banks keine Musik. Als die im nebligen Zwielicht unheimlich aussehenden Flussauen vorbeirauschten, saßen die drei in angespannter Stille da. Sie näherten sich der Farm, und der Schotter knirschte unter den Rädern. Als sie vor dem Haus anhielten, zuckte die Gardine in einem der vorderen Fenster.
Mara Delacey öffnete die Tür, noch bevor Burgess zu klopfen aufgehört hatte. »Was wollen Sie diesmal?«, fragte sie zornig, trat aber zur Seite, um sie hereinzulassen. Sie folgten ihr in die Küche, wo die anderen am Tisch beim Abendessen saßen. Mara widmete sich wieder ihrer unterbrochenen Mahlzeit. Julian und Luna rutschten näher an sie heran.
»Wie praktisch«, sagte Burgess und lehnte sich gegen den brummenden Kühlschrank. »Da sind ja alle beisammen, außer einem. Wir suchen Paul Boyd. Ist er da?«
Seth schüttelte den Kopf. »Nein. Keine Ahnung, wo er ist.«
»Wann haben Sie ihn zum letzten Mal gesehen?«
»Gestern Abend, würde ich sagen. Heute war ich fast den ganzen Tag unterwegs. Als ich zurückkam, war er nicht da.«
Burgess schaute Mara an. Niemand sagte etwas. »Einer von Ihnen wird ja wohl wissen, wo er ist. Wie wollen Sie es haben - jetzt und hier oder unten auf dem Revier?«
Immer noch Stille.
Burgess machte einen Schritt nach vorn und wollte Julians Kopf tätscheln, doch der Junge zog ein Gesicht und verbarg den Kopf unter Ricks Achsel. »Wäre doch eine Schande«, sagte Burgess, »wenn es so weit kommt, dass Sie sich nicht mehr um Ihre Kinder kümmern können und man sie Ihnen wegnehmen muss.«
»Das werden Sie nicht wagen!«, sagte Mara mit erhitztem Gesicht. »Selbst Sie können nicht so ein Arschloch sein.«
Burgess hob seine linke Augenbraue. »Kann ich nicht, Schätzchen? Sind Sie sicher, ob Sie es herausfinden wollen? Wo ist Boyd?«
Rick erhob sich. Er war so groß wie Burgess und gut dreißig Pfund schwerer. »Suchen Sie sich einen ebenbürtigen Gegner«, sagte er. »Wenn Sie sich an meinem Kind vergreifen wollen, dann werden Sie sich verdammt noch mal mit mir auseinander setzen müssen.«
Burgess grinste spöttisch und wandte sich ab. »Ich mach mir in die Hose. Wo ist Boyd?«
»Wir wissen es nicht«, sagte Seth ruhig. »Er ist hier kein Gefangener, müssen Sie wissen. Er zahlt seine Miete, es steht ihm frei zu tun, was er will, und zu gehen und zu kommen, wie es ihm gefällt.«
»Jetzt nicht mehr«, sagte Burgess. »Vielleicht bitten Sie Zigeuner-Lieschen hier lieber, die Sterne zu fragen, wo er ist, denn wenn wir ihn nicht bald finden, wird es sehr hart für Sie alle.« Er wandte sich an Banks und Richmond. »Schauen wir uns ein bisschen um. Wo ist sein Zimmer?«
»Oben, das erste auf der linken Seite«, sagte Seth. »Aber Sie verschwenden Ihre Zeit. Er ist nicht da.«
Die drei Polizisten stiegen die enge Treppe hinauf. Richmond überprüfte die anderen Zimmer, während Banks und Burgess in das von Paul gingen. Es hatte gerade genug Platz für eine Einzelmatratze und einen kleinen Kleiderschrank an der gegenüberliegenden Seite, wo ein schmales Fenster nach Eastvale hinauszeigte. Knittrige Kissen und Laken bedeckten das ungemachte Bett, auf dem Boden war ein Stapel dreckiger Socken und Unterwäsche. Ein muffiger Geruch nach toter Haut und ungewaschenen Kleidern lag in der Luft. In dem winzigen Schrank hingen ein paar Jacken, ein Parka, auf dem Boden lag ein Paar abgewetzter Slipper. In den Schubladen des Kleiderschrankes befanden sich nur etwas saubere Unterwäsche, T-Shirts und ein paar vermottete Pullover. Auf dem Kopfkissen lag aufgeschlagen und mit der Schrift nach unten eine abgegriffene Taschenbuchausgabe von H.P. Lovecrafts Der Schatten über Innsmouth. Das Cover zierte das Bild eines halb durchsichtigen, froschgesichtigen Monsters, das mit so etwas wie einem Abendanzug bekleidet war. Aus reiner Gewohnheit hob Banks das Buch auf und blätterte darin. Vielleicht hatte Boyd ja irgendetwas auf die Ränder oder die leeren Seiten am Ende des Buchs geschrieben. Doch er fand nichts. Richmond kam herein und gesellte sich zu ihnen.
»Hier ist nichts«, sagte Burgess. »Sieht aber nicht so aus, als wäre er getürmt. Es sei denn, er besaß wesentlich mehr Klamotten als die hier. Wenn ich er gewesen wäre, hätte ich den Parka und ein paar Pullover mitgenommen. Wie war das Wetter in der Nacht, als Gill erstochen wurde?«
»Kalt und regnerisch«, antwortete Banks.
»Parka-Wetter?«
»Würde ich sagen, ja.«
Burgess nahm den Parka aus dem Schrank und untersuchte ihn. Er krempelte jedes Taschenfutter nach außen, und als er zur rechten Tasche kam, zeigte er Banks einen leicht verfärbten Fleck. »Das haben Ihre Leute wohl übersehen. Könnte Blut sein. Er muss das Messer zurück in die Tasche gesteckt haben, nachdem er Gill ermordet hat. Nehmen Sie das, Richmond. Ab ins Labor damit. Warum schauen Sie beide sich nicht in den Nebengebäuden um? Wer weiß, vielleicht versteckt er sich im Holzhaufen. Ich schnüffele hier noch ein bisschen weiter rum.«
Unten gingen Banks und Richmond zurück in die Küche und baten Mara, sie mit den Schlüsseln zu begleiten. Durch die Hintertür kamen sie in einen großen, rechteckigen Garten, der von einem niedrigen Zaun umgeben war. Der meiste Platz wurde von Gemüsebeeten beansprucht, die zu dieser Jahreszeit dunkle, leere Furchen waren. Außerdem gab es eine kleine, quadratische Sandkiste, in der ein Plastiklastwagen mit großen roten Rädern, ein gelber Eimer und eine Schaufel lagen. Am anderen Ende des Gartens stand ein mit Teerpappe bedecktes Backsteingebäude, kaum größer als eine Garage, links davon führte ein Tor zur Scheune.
»Wir schauen uns zuerst in der Scheune um«, sagte Banks zu Mara, die hinter ihnen herging und mit dem Schlüsselring spielte. Im Gegensatz zu vielen anderen Scheunen, die zu Ferienwohnungen für Touristen umgebaut worden waren, schien diese nicht besonders groß. Sie war aus Stein errichtet und entsprach zumindest von außen der traditionellen Bauweise der Dales.
Mara öffnete die Tür im Erdgeschoss, in dem sich Zoes Wohnung befand. Die Verwandlung von einer bescheidenen Scheune in komfortable Wohnungen überraschte Banks. Seth hatte wirklich gute Arbeit geleistet. Die Holzarbeiten waren zum größten Teil unlackiert, und wenn auch alles ein bisschen improvisiert aussah, in seiner Einfachheit war es mit Sicherheit robust und ansprechend gebaut. Jede Wohnung hatte nicht nur einen eigenen Eingang, stellte er fest, sondern auch eine eigene Küche und ein eigenes Bad. Unten gab es zudem ein großes, sparsam eingerichtetes Wohnzimmer, ein Schlafzimmer für Zoe und ein kleineres für Luna. Aber keine Spur von Paul Boyd.
Die Wohnungen waren völlig separat angelegt, bemerkte Banks, und wenn Rick und Zoe sich nicht mit Seth und Mara angefreundet hätten, dann hätten sie leicht ein ziemlich getrenntes Leben führen können. In Anbetracht von Maras Reaktion auf Burgess' Drohung und in Erinnerung an das, was Jenny beim Essen gesagt hatte, vermutete Banks, dass Maras Zuneigung zu den Kindern ein Punkt war, der alle verband. Wer hätte nicht gern einen jederzeit verfügbaren Babysitter? Ihre gemeinsamen politischen Ansichten waren vielleicht ein weiterer Punkt.
Die Wohnung oben hatte einen anderen Schnitt. Beide Schlafzimmer waren ziemlich klein, der meiste Raum wurde von Ricks Atelier eingenommen, das wesentlich unaufgeräumter als Zoes großer Arbeitstisch unten war, auf dem Bücher und Tabellen ausgebreitet waren. Seth hatte über die Länge des Daches drei Deckenstrahler angebracht, um den Raum mit genügend Licht zu versorgen. Überall lagen Leinwände, Paletten und einzelne Farbtuben herum. Soweit Banks sehen konnte, waren Rick Trelawneys Gemälde, genau wie Tim Fenton gesagt hatte, recht unkommerziell. Hauptsächlich handelte es sich bei seiner Kunst um willkürliche Farbspritzer oder Collagen aus gefundenen Objekten. Sandra kannte sich ganz gut mit Kunst aus, von ihr hatte Banks gelernt, dass viele Gemälde, die er nicht mal auf dem Dachboden lagern würde, von Experten für Geniestreiche gehalten wurden. Doch diese hier, das konnte selbst er beurteilen, waren von anderer Qualität. Gemessen an Ricks Gemälden sahen Jackson Pollacks zornige Explosionen so durchschaubar wie Constables Landschaften aus.
Doch als er sich genauer im Atelier umschaute, entdeckte Banks einen Stapel kleiner Landschaftsaquarelle, die von einem alten Sack bedeckt waren. Sie erinnerten an das Bild, das Banks bei seinem ersten Besuch aufgefallen war. Das war also die andere Seite von Ricks Arbeit. Und anscheinend verdiente er damit sein Geld. Er verkaufte hübsche Heimatlandschaften an Touristen und kleine alte Damen, um seine revolutionäre Kunst finanzieren zu können.
Mara hatte ihnen die ganze Zeit stumm und mit verschränkten Armen zugeschaut. Als sie fertig waren, schloss sie ab und führte Banks und Richmond zurück zum Haus.
»Gehen Sie beide doch schon vor«, sagte Banks, als er das Tor hinter ihnen geschlossen hatte. »Ich werfe noch einen Blick in den Schuppen. Er ist nicht abgeschlossen, oder?«
Mara schüttelte den Kopf und ging mit Richmond zurück ins Haus.
Banks öffnete die Tür. Im Inneren des Schuppens war es dunkel und roch nach Holzspänen, Sägemehl, geöltem Metall, Leinöl und Lack. Als er die Kette zog, die vor ihm baumelte, ging eine nackte Glühbirne an und brachte Seths Werkstatt zum Vorschein. An den Wänden lehnten Latten, Bretter und Möbelteile in verschiedenen Fertigungsstadien. Die dunklen Ecken waren mit Spinnenweben überzogen. Seth besaß eine Drehbank und eine vollständige Garnitur gut gepflegter Werkzeuge: Hobel, Sägen, Hämmer, Beitel. Auf den einfachen Regalbrettern an den Wänden lagerten Schachteln voll Nägel und Schrauben. Für ein Versteck gab es keinen Platz.
Am hinteren Ende der Werkstatt stand eine alte Remington-Büroschreibmaschine auf einem Schreibtisch. In dem geöffneten Aktenschrank daneben fand Banks lediglich Briefe, die mit Seths Tischlerei in Verbindung standen. Kostenvoranschläge, Rechnungen, Quittungen, Aufträge. Dann gab es noch ein kleines Bücherregal. Bei den meisten Büchern handelte es sich um solche über antike Möbel und Schreinertechniken, doch waren auch ein paar alte Taschenbuchromane darunter sowie zwei Bücher über das menschliche Gehirn, von denen eines Die Spitze des Eisberges hieß. Vielleicht, so dachte Banks, hegte Seth im Geheimen den Wunsch, eines Tages Gehirnchirurg zu werden. Da er bereits Tischler war, würde es ihm wahrscheinlich leichter als den meisten anderen fallen.
Er ging zurück zur Tür und wollte gerade das Licht ausschalten, als ihm auf einer Ablage neben der Tür ein zerfleddertes Notizbuch ins Auge fiel. Lauter Maßangaben, Adressen und Telefonnummern standen darin, also war es wahrscheinlich Seths Arbeitsbuch. Als er es durchblätterte, bemerkte er, dass eine Seite unordentlich herausgerissen worden war. Auf der nächsten Seite konnte man noch schwach die mit starkem Druck geschriebenen Zahlen erkennen. Banks nahm ein Blatt seines eigenen Notizbuches, legte es auf diese Seite und rieb mit einem Bleistift darüber. Die Nummer, die zum Vorschein kam, lautete 1139. Man konnte schwer sagen, ob es sich um die gleiche Handschrift handelte, denn die restlichen Zahlen im Notizbuch waren wesentlich größer und genauer geschrieben worden.
Er legte das Buch wieder weg, drehte sich um und wäre beim Hinausgehen beinahe mit Seth zusammengestoßen, der in der Tür stand.
»Was machen Sie hier?«
»Dieses Buch«, sagte Banks, »wofür benutzen Sie das?«
»Arbeitsnotizen. Manchmal muss ich neues Material bestellen, Maßangaben oder Kundenadressen aufschreiben. Dafür benutze ich das Buch.«
»Da fehlt eine Seite.« Banks zeigte es ihm. »Was bedeutet das: 1139?«
»Sie werden nicht erwarten, dass ich mich daran erinnern kann«, sagte Seth. »Das muss lange her gewesen sein. Wahrscheinlich das eine oder andere Maß.«
»Warum haben Sie die Seite herausgerissen?«
Seth schaute ihn mit seinen dunkelbraunen Augen misstrauisch und verärgert an. »Keine Ahnung. Vielleicht war es unwichtig. Vielleicht habe ich etwas auf die Rückseite geschrieben, eine Notiz, die ich irgendwohin mitnehmen musste. Das ist nur ein altes Notizbuch.«
»Aber es fehlt nur eine Seite. Kommt Ihnen das nicht komisch vor?«
»Ich sagte bereits, dass es ganz normal ist.«
»Haben Sie die Seite herausgerissen, um sie Paul Boyd zu geben? Ist das hier eine Nummer, die er anrufen kann? Oder Teil einer Adresse?«
»Keine Ahnung.«
»Ich muss dieses Notizbuch mitnehmen.«
»Warum?«
»Da drin stehen Namen und Adressen. Wir müssen sie überprüfen und schauen, ob Boyd eine von ihnen aufgesucht hat. Soweit ich weiß, hat er hier ziemlich oft mit Ihnen gearbeitet.«
»Aber das ist mein Notizbuch. Warum sollte er bei einer dieser Adressen sein? Das sind nur Leute, die hier leben und für die ich gearbeitet habe. Ich möchte nicht, dass die Polizei sie belästigt. Das kann mein Geschäft ruinieren.«
»Wir werden es trotzdem überprüfen müssen.«
Seth fluchte in sich hinein. »Bedienen Sie sich. Aber geben Sie mir eine Quittung dafür.«
Banks schrieb ihm eine, zog dann die Kette, um das Licht auszuschalten. Stumm gingen sie zurück zum Haus.
Seth setzte sich an den Tisch und widmete sich wieder seinem Essen. Mara folgte Banks in das vordere Zimmer. Von oben konnte man hören, wie Burgess und Richmond immer noch herumschnüffelten.
»Mr. Banks?«, sagte Mara leise, als sie am Fenster dicht neben ihm stand.
Banks zündete sich eine Zigarette an. »Ja?«
»Was er über die Kinder gesagt hat ... Das stimmt doch nicht, oder? Das kann er doch nicht tun, oder?«
Banks setzte sich in den Schaukelstuhl, Mara ließ sich auf einen kleinen dreibeinigen Stuhl ihm gegenüber nieder. Auf dem Tisch neben Banks lag ein Satz von Zoes Tarotkarten. Die Karte »Der Mond« war aufgedeckt. Aus dem Mond schien Blut auf einen Pfad zu tropfen, der zwischen zwei Türmen in die Ferne führte. Im Vordergrund krabbelte eine Krabbe aus einem Teich an Land, und ein Hund und ein Wolf heulten den Mond an. Es war ein verstörendes und hypnotisches Bild. Banks überlief ein Schauder, als hätte er gerade das Angesicht des Todes gesehen, und er wandte sich wieder Mara zu.
»Die beiden sind nicht Ihre Kinder, oder?«, sagte er.
»Sie wissen genau, dass es nicht meine sind. Aber ich liebe sie so, als wären es meine. Jenny Füller hat mir erzählt, dass sie Sie kennt. Sie sagte, Sie wären nicht so schlimm wie die anderen. Sagen Sie mir, dass man uns die Kinder nicht wegnehmen kann.«
Banks musste lächeln. Nicht so schlimm wie die anderen, aha. Bei Gelegenheit würde er Jenny auf dieses zweifelhafte Kompliment ansprechen müssen.
Er schaute Mara an. »Superintendent Burgess wird alles tun, um der Sache auf den Grund zu gehen. Ich glaube nicht, dass es soweit kommt, dass Ihnen die Kinder weggenommen werden, aber denken Sie daran, dass er keine leeren Drohungen macht. Wenn Sie etwas wissen, sollten Sie es uns erzählen.«
Mara kaute auf ihrer Unterlippe. Sie schien den Tränen nahe zu sein. »Ich weiß nicht, wo Paul ist«, sagte sie schließlich. »Sie glauben doch nicht ernsthaft, dass er es getan hat?«
»Wir haben ein paar Beweise, die auf diese Möglichkeit hindeuten. Haben Sie ihn jemals mit einem Klappmesser gesehen?«
»Nein.«
Banks hatte den Eindruck, dass sie log, aber er wusste, dass es keinen Sinn hatte, sie unter Druck zu setzen. Als Ablenkungsmanöver würde sie ihm vielleicht ein paar Informationen geben, die ganze Wahrheit würde sie jedoch nicht erzählen.
»Er ist weg«, sagte sie schließlich. »Ich weiß. Aber ich weiß nicht, wohin er gegangen ist.«
»Woher wissen Sie, dass er weg ist?«
Mara zögerte, und ihre Stimme klang für die Wahrheit zu gleichgültig. Bevor sie redete, strich sie sich das lange walnussfarbene Haar hinter die Ohren. Dadurch sah ihr Gesicht schmaler und ausgezehrter aus. »In den letzten paar Tagen ist er durcheinander gewesen, besonders nachdem Ihr Superintendent Burgess hierher gekommen war und ihn schikaniert hatte. Er dachte, am Ende hängen Sie ihm die Sache an, weil er schon mal im Gefängnis war und weil er ... weil er anders aussieht. Er wollte uns nicht in Schwierigkeiten bringen, also ist er gegangen.«
Banks drehte eine weitere Tarotkarte um: »Der Stern.« Eine schöne, nackte Frau schüttete Wasser aus zwei Vasen in einen Teich am Boden. Hinter ihr blühten Bäume und Sträucher. Ein großer, heller Stern am Himmel war von sieben kleineren umgeben. Aus irgendeinem Grund erinnerte ihn die Frau an Sandra, was seltsam war, denn es gab keine nennenswerte äußerliche Ähnlichkeit.
»Woher wissen Sie, warum er gegangen ist?«, fragte Banks. »Hat er eine Nachricht hinterlassen?«
»Nein, er hat es mir erzählt. Er sagte, dass er letzte Nacht daran dachte wegzugehen. Er sagte nicht, wann.«
»Oder wohin?«
»Nein.«
»Hat er den Mord an Constable Gill erwähnt?«
»Nein. Er hat nicht gesagt, dass er wegläuft, weil er schuldig wäre, wenn Sie darauf hinauswollen.«
»Und Sie haben nicht daran gedacht, uns davon zu benachrichtigen, dass er abhaut, obwohl die Möglichkeit besteht, dass er der Mörder ist?«
»Er ist kein Mörder.« Mara sprach zu schnell. »Ich habe jedenfalls keine Veranlassung, das zu denken. Was uns anbelangt, konnte er gehen, wann er wollte.«
»Was hat er mitgenommen?«
»Was meinen Sie?«
Banks schaute zum Fenster. »Draußen ist es saukalt, außerdem regnet es die ganze Zeit. Was hat er angehabt? Hat er einen Koffer oder einen Rucksack mitgenommen?«
Mara schüttelte den Kopf. »Das weiß ich nicht. Ich habe nicht gesehen, wie er gegangen ist.«
»Haben Sie ihn heute Morgen gesehen?«
»Ja.«
»Wann?«
»So um elf oder halb zwölf. Er steht immer spät auf.«
»Wann ist er gegangen? Ungefähr.«
»Ich weiß es nicht. Ich war mittags nicht hier. Ich bin um zwanzig vor eins gegangen und so um zwei zurück gewesen. Da war er schon weg.«
»War zu der Zeit sonst jemand im Haus?«
»Nein. Seth war mit dem Wagen unterwegs. Er hat Zoe mitgenommen, weil sie ein paar Horoskope ausliefern musste. Und Rick war mit den Kindern in Eastvale.«
»Und Sie wissen nicht, was Boyd getragen oder mitgenommen hat?«
»Nein. Wie gesagt, ich habe ihn nicht weggehen sehen.«
»Kommen Sie mit hoch.«
»Was?«
Banks ging zur Treppe. »Kommen Sie hoch mit mir. Jetzt gleich.«
Mara folgte ihm hinauf in Pauls Zimmer. Banks öffnete den Schrank und zog die Schubladen heraus. »Was fehlt?«
Mara legte eine Hand auf die Stirn. Burgess und Richmond schauten durch die Tür und gingen dann nach unten.
»Ich ... ich weiß nicht«, sagte Mara. »Ich kenne nicht alle seine Sachen.«
»Wer macht hier die Wäsche?«
»Ich, hauptsächlich. Manchmal auch Zoe.«
»Dann müssen Sie auch wissen, was für Sachen Boyd hatte. Was fehlt?«
»Er hatte nicht viel.«
»Er muss einen anderen Mantel gehabt haben. Seinen Parka hat er hiergelassen.«
»Nein, er hatte keinen Mantel. Aber einen Anorak. Einen blauen Anorak.«
Banks schrieb es auf. »Was noch?«
»Jeans, nehme ich an. Er trug keine anderen Hosen.«
»Schuhe.«
Mara sah die abgewetzten Slipper auf dem Boden. »Er hatte noch so ein Paar alter Slipper. Hush Puppies, glaube ich.«
»Farbe?«
»Schwarz.«
»Und das ist alles?«
»Soweit ich weiß.«
Banks klappte sein Notizbuch zu und lächelte Mara an. »Hören Sie, machen Sie sich nicht so viele Sorgen wegen der Kinder. Wenn Superintendent Burgess Paul Boyd geschnappt hat, wird er all seine Drohungen wieder vergessen. Zumindest, wenn er ihn bald schnappt.«
»Ich weiß wirklich nicht, wo er hingegangen ist.«
»Okay. Aber wenn Ihnen irgendetwas einfällt ... denken Sie darüber nach.«
»Menschen wie Burgess dürfte man nicht frei herumlaufen lassen«, sagte Mara. Sie verschränkte fest ihre Arme und starrte auf den Boden.
»Ach? Was schlagen Sie vor, das wir mit ihm tun sollten? Einschließen?«
Sie schaute Banks an. Ihr Unterkiefer bebte und ihre Augen glänzten feucht.
»Oder sollen wir ihn umlegen lassen?«
Mara fegte an ihm vorbei und lief die Treppe hinab. Banks folgte ihr langsam. Burgess und Richmond standen im vorderen Zimmer, bereit zum Aufbruch.
»Na los, gehen wir«, sagte Burgess. »Hier gibt es nichts mehr zu tun.« Dann wandte er sich an Seth, der in der Küchentür stand. »Wenn ich herausfinden sollte, dass Sie Boyd irgendwie geholfen haben, dann sehen wir uns wieder, darauf können Sie Gift nehmen. Und dann werden Sie mehr Ärger am Hals haben, als Sie sich in Ihren kühnsten Träumen vorstellen können. Liebe Grüße an die Kinder.«
Mara beobachtete, wie der Wagen auf dem Weg nach unten langsam verschwand. Banks' Worte hatten ihr ein sicheres Gefühl gegeben, trotzdem fragte sie sich, wie viel er noch ausrichten konnte, wenn sich Burgess etwas in den Kopf gesetzt hatte. Wenn man ihnen die Kinder wegnehmen würde, dachte sie, dann wäre sie dazu in der Lage, den Superintendent mit den bloßen Händen umzubringen.
Sie wurde sich der anderen hinter ihr im Zimmer bewusst. Sie hatte ihnen kein Wort davon erzählt, was mit Paul passiert war, und noch wusste keiner von ihnen, dass er zu seinem Schutz weggelaufen war. Ein Grund war, dass sie kaum Zeit gefunden hatte, etwas zu sagen. Alle waren erst kurz vor dem Abendessen zurückgekehrt, als sie noch in der Küche beschäftigt gewesen war. Und dann war schon die Polizei erschienen.
»Was ist los, Mara?«, fragte Seth, kam zu ihr und legte eine Hand auf ihre Schulter. »Weißt du etwas?«
Mara nickte. Sie versuchte, die Tränen zurückzuhalten.
»Komm.« Seth nahm ihre Hand und führte sie zu einem Stuhl. »Erzähl es uns.«
Als sie sah, wie sie von allen erwartungsvoll angeschaut wurde, fasste sich Mara wieder. Sie griff nach ihrer OldHolborn-Dose und drehte sich eine Zigarette.
»Er ist weggegangen, das ist alles«, sagte sie und erzählte ihnen, wie sie den alten Schafhirten mit dem Messer im Black Sheep hatte auftauchen sehen. »Ich bin zurückgelaufen, um ihn zu warnen. Ich wollte nicht, dass die Polizei ihn erwischt, und ich dachte, wenn sie das Messer haben, könnten sie vielleicht seine Fingerabdrücke oder so was finden. Er ist im Gefängnis gewesen, also müssen sie registriert sein.«
»Aber was hat Paul damit zu tun?«, fragte Zoe. »Das Messer hat doch nur wie immer auf dem Kaminsims gelegen. Niemand hat sich jemals darum gekümmert. Jeder, der am Freitagnachmittag hier gewesen ist, kann es mitgenommen haben.«
Mara zog an ihrer Zigarette und erzählte ihnen schließlich von dem Blut, das sie auf Pauls Hand gesehen hatte, als er von der Demo zurückgekommen war. Auf der Hand, die sich am nächsten Morgen als unverletzt erwiesen hatte.
»Warum hast du uns nichts davon erzählt?«, wollte Seth wissen. »Ich nehme an, du hast Paul auch nicht darauf angesprochen. Vielleicht hat es eine ganz einfache Erklärung dafür gegeben.«
»Ich weiß«, sagte Mara. »Du kannst mir glauben, dass ich immer wieder darüber nachgedacht habe. Ich hatte Angst vor ihm. Ich meine, wenn er es getan hatte ... Aber ich wollte zu ihm halten. Wenn ich es euch allen erzählt hätte, hättet ihr ihn vielleicht gebeten zu gehen oder so.«
»Wie hat er reagiert, als du ihm erzählt hast, dass das Messer gefunden wurde?«, fragte Rick.
»Er wurde kreidebleich. Er konnte mir nicht mehr in die Augen schauen. Wie ein verängstigtes Tier sah er aus.« • »Also hast du ihm Geld und Klamotten gegeben?«
»Ja. Ich habe ihm deinen roten Anorak gegeben, Zoe. Tut mir Leid.«
»Schon in Ordnung«, sagte Zoe. »Ich hätte genauso gehandelt.«
»Und ich habe der Polizei erzählt, dass er wahrscheinlich einen blauen trägt. Er hat seinen blauen Anorak auch mitgenommen, aber er hat ihn nicht getragen.«
»Wo ist er hin?«, fragte Rick.
»Keine Ahnung. Ich wollte nicht, dass er es mir erzählt. Er ist jemand, der sich durchschlagen kann, er kommt auf der Straße zurecht. Ich habe ihm etwas von dem Geld gegeben, das ich aus der Arbeit im Laden und durch die Verkäufe meiner Töpferei gespart habe. Er hat genug, um dahin zu kommen, wo er hin will.«
Später am Abend, als die anderen wieder in der Scheune verschwunden waren und Seth es sich mit einem Buch bequem gemacht hatte, dachte Mara an die wenigen Monate, die Paul bei ihnen gewesen war. Wie lebendig sie sich durch ihn gefühlt hatte. Am Anfang war er mürrisch und unansprechbar gewesen, und es hatte einen Moment gegeben, wo Seth in Erwägung gezogen hatte, ihn wieder wegzuschicken. Aber damals war Paul erst vor kurzem aus dem Gefängnis entlassen worden, er war es einfach nicht gewohnt, mit Menschen umzugehen. Zeit und Fürsorge hatten Wunder gewirkt. Bald hatte er allein lange Spaziergänge durch das Heidemoor unternommen und die Klaustrophobie, die seine Nächte im Gefängnis unerträglich gemacht hatten, in den Griff bekommen. Obwohl niemand ihn dazu drängte, begann er tatsächlich mit Seth zu arbeiten.
Wenn sie an seine Fortschritte dachte und wozu sie letztlich geführt hatten, dann wurde Mara unwillkürlich traurig. Wenn er wieder geschnappt und ins Gefängnis gesteckt würde, wäre alles für die Katz gewesen. Wenn sie sich ihn frierend und einsam in einer fremden und beängstigenden Welt außerhalb Swainsdales vorstellte, wollte sie am liebsten losheulen. Doch dann sagte sie sich, dass er stark und findig war, jemand, der sich durchschlagen konnte. Für ihn würde es nicht so schlimm sein, wie es für sie wäre. Außerdem waren die schrecklichen Bedingungen, die man sich vorstellte, immer weitaus schlimmer als die Realität.
»Ich hoffe, Paul kommt so weit wie möglich«, sagte Seth in die Stille, die auf ihr Liebesspiel in dieser Nacht folgte. »Ich hoffe, sie werden ihn niemals erwischen.«
»Wie werden wir erfahren, wo er ist, wie es ihm ergangen ist?«, fragte Mara.
»Er wird einen Weg finden, es uns wissen zu lassen. Mach dir keine Sorgen darum.« Er legte seinen Arm um sie, und sie legte den Kopf auf seine Brust. »Du hast richtig gehandelt.«
Aber sie konnte nicht anders, als sich Sorgen zu machen. Sie glaubte nicht daran, jemals wieder von Paul zu hören, nicht nach allem, was passiert war. Sie wusste nicht, was sie sonst hätte tun sollen, aber sie war sich nicht sicher, ob sie richtig gehandelt hatte. Während sie versuchte einzuschlafen, sah sie wieder sein Gesicht vor sich, seinen Gesichtsausdruck, bevor er ging. Er war dankbar gewesen, ja, dankbar für die Warnung, das Geld und die Kleidungsstücke, aber sie hatte ihm auch Verärgerung und Enttäuschung ablesen können. Er hatte sie angesehen, als würde er in die Verbannung geschickt werden. Sie wusste nicht, ob er von ihr erwartet hatte, dass sie ihn zum Bleiben aufforderte. Ganz gewiss hatte sie ihm nicht gesagt, dass er gehen musste. Doch in seinen Bewegungen hatte auch eine Spur Anklage gelegen, so als wollte er sagen: »Du glaubst, ich habe es getan, nicht wahr? Du willst nicht, dass ich hier Probleme mache. Und vor allem vertraust du mir nicht. Ich bin ein Außenseiter und ich werde immer einer sein.« Davon hatte sie Seth und den anderen nichts erzählt.
Banks war an der Reihe und wartete an der voll besetzten Theke des Queen's Arms, während Burgess an einem runden Tisch nahe der Tür zur Market Street saß. Es war halb neun. Hatchley war gerade gegangen, um sich mit Carol Ellis zu treffen, und Richmond war zu einer Party im Rugby Club verschwunden.
Dirty Dick war eindeutig zufrieden mit sich. Er thronte auf seinem Stuhl und strahlte jeden, der in seine Richtung schaute, wohlwollend an. Allerdings erntete er dafür nur finstere Blicke.
»Äh, Mr. Banks«, sagte Cyril, »haben Sie eine Minute Zeit?«
»Selbstverständlich. Für Sie immer, Cyril. Und dabei könnten Sie mir auch gleich ein Pint Bitter und ein Pint Double Diamond zapfen.«
»Es ist wegen Ihres Kumpels da.« Cyril deutete mit seinem Kopf aggressiv in Burgess' Richtung.
»Ein Kumpel ist er eigentlich nicht«, sagte Banks. »Eher der Boss.«
»Aha. Auch gut. Sagen Sie ihm, er soll aufhören, meine Glenys zu belästigen. Sie hat zu viel zu tun, um sich den ganzen Tag noch mit Typen wie ihm rumzuschlagen.« Cyril beugte sich vor und senkte die Stimme. Unter seinen hochgekrempelten Hemdsärmeln wölbten sich die Muskeln. »Und Sie können ihm auch ausrichten, dass es mir egal ist, ob er ein Bulle ist - nichts gegen Sie, Mr. Banks. Aber wenn er mir nicht aus dem Weg geht, muss ich ihm wohl oder übel ein paar auf die Nuss hauen.«
Glenys, die wohl aufgeschnappt hatte, worüber sie sprachen, wurde rot und machte sich geschäftig daran, am anderen Ende der Theke ein Pint zu zapfen.
»Es wird mir eine Freude sein, diese Nachricht zu übermitteln«, sagte Banks und bezahlte die Getränke.
»Vergessen Sie nicht das Double Diamond für seine Lordschaft«, sagte Cyril verächtlich.
»Ihr dämliches Grinsen können Sie sich sparen«, sagte Burgess, nachdem Banks ihm Cyrils Warnung wiedergegeben hatte. »Den Fünfer haben Sie noch lange nicht in der Tasche. Die kleine Glenys steht auf mich, daran gibt es überhaupt keinen Zweifel. Und es geht nichts über ein bisschen Gefahr und einen Hauch Risiko, um die guten Hormone in Wallung zu bringen. Schauen Sie sie an.« Traurig, aber wahr, kaum schaute Cyril weg, lächelte Glenys Burgess mit erhitzten Wangen an. »Wenn wir nur diesen Knilch loswerden könnten ... Egal, am Montagabend hat sie frei. Normalerweise geht sie dann mit ihren Freundinnen ins Kino.«
»Wenn ich Sie wäre, würde ich vorsichtig sein«, sagte Banks.
»Ja, aber Sie sind nicht ich, oder?« Er stürzte das halbe Glas in einem Schluck runter. »Ah, das tut gut. So, wir haben den Scheißkerl. Oder bald.«
Banks nickte. Deswegen feierten sie wohl. Burgess war bereits bei seinem vierten Pint, Banks bei seinem dritten.
Sie hatten alles getan, was in ihrer Macht stand. Boyd hatte eindeutig Reißaus genommen, obwohl sich Banks nicht vorstellen konnte, wie er von der Entdeckung des Messers erfahren haben sollte. Wahrscheinlich war er zu Fuß nach Eastvale gegangen und hatte dort einen Bus genommen. Der Dreiundvierziger fuhr den Cardigan Drive entlang, am Westrand der Stadt. Er hätte einfach nur über das Moor wandern und Gallows View hochgehen müssen, um dorthin zu gelangen. Außerdem passierten die Busse nach York und Ripon dieselbe Straße. Jemand musste ihn gesehen haben. Banks hatte eine Beschreibung von Boyd bei der Busgesellschaft verteilt und ein Fahndungsfoto an die Polizei im ganzen Land verschickt, wobei Leeds, Liverpool und London besonders im Blickpunkt standen. Wie Burgess sagte, es war nur eine Frage der Zeit, bis er geschnappt wurde.
»Wo haben Sie diese verdammte Narbe her?«, wollte Burgess wissen.
»Die?« Banks berührte den weißen Halbmond neben seinem rechten Auge. »Aus Heidelberg. Eine Duellnarbe.«
»Haha, Scheiße, haha! Sie sind ein Witzbold, was? Kennen Sie den, wo ...« Burgess hielt inne und schaute zu der Person auf, die vor ihnen stand. »Schau mal an«, sagte er und rutschte mit seinem Stuhl zur Seite, um Platz zu machen. »Wenn das nicht...«
»Dr. Füller«, sagte Jenny. Sie schaute Banks an und zog einen Stuhl neben seinen.
»Natürlich. Wie konnte ich das vergessen? Was zu trinken, Schätzchen?«
Jenny lächelte süßlich. »Ja, danke. Ich nehme ein kleines Bier.«
»Ach, kommen Sie, nehmen Sie ein Pint«, insistierte Burgess.
»Na gut. Ein Pint.«
»Schön.« Burgess rieb seine Hände und machte sich auf an die Theke. Beim Aufstehen knallte er mit der Hüfte gegen den Tisch. Das Bier in den Gläsern plätscherte, schwappte aber nicht über.
Jenny sah Banks fragend an. »Was ist denn mit dem los?«
Banks grinste. »Er feiert.«
»Das sehe ich.« Sie rutschte näher. »Hör zu, ich muss dich was fragen ...«
Banks legte einen Finger auf die Lippen. »Nicht jetzt«, sagte er. »Er wird schon bedient. Gleich ist er zurück.« Tatsächlich war Burgess im Nu auf dem Rückweg, drei Pints in den Händen, aus denen das Bier auf seine Schuhe schwappte.
»Und was wird gefeiert?«, wollte Jenny wissen, nachdem Burgess es geschafft hatte, die Gläser auf den Tisch abzustellen, ohne noch mehr zu verschütten.
Banks erzählte ihr von Paul Boyd.
»Schade.«
»Schade? Du hast gesagt, dass du bei ihm das kalte Grausen kriegst.«
»Stimmt. Ich habe nur an die anderen gedacht. Das muss ein fürchterlicher Schlag für Seth und Mara sein. Sie haben so viel für ihn getan. Besonders Mara.« Jenny schien bei dem Gedanken an Mara Delacey ungewöhnlich beunruhigt zu sein, und Banks fragte sich, warum.
»Wissen Sie«, sagte Burgess, »mir tut es fast ein bisschen Leid, dass sich herausgestellt hat, es war Boyd.«
Jenny schaute ihn überrascht an. »Ja? Warum?«
»Nun ...« Er rückte näher an sie heran. »Ich habe gehofft, es wäre Ihr Freund. Dann könnten wir ihn für eine ganze Weile einbuchten, und Sie und ich könnten ... na Sie wissen schon.«
Zu Banks Überraschung lachte Jenny. »Sie haben eine blühende Phantasie, das muss man Ihnen lassen, Superintendent Burgess.«
»Nennen Sie mich Dick. So nennen mich fast alle meine Freunde.«
Jenny unterdrückte ein Lachen. »Ich glaube wirklich nicht, dass ich das kann. Ehrlich.«
»Bist du nicht erleichtert, dass es vorbei ist?«, fragte Banks sie. »Ich wette, Osmond ist erleichtert.«
»Natürlich. Vor allem, wenn das bedeutet, wir müssen uns keine weiteren Besuche von ihm gefallen lassen.« Sie deutete mit ihrem Kopf auf Burgess.
»Ich könnte immer noch vorbeischauen«, sagte Dirty Dick und zwinkerte.
»Oh, legen Sie mal eine andere Platte auf. Und was glaubt ihr, wo Paul ist?«, fragte sie Banks.
»Wir haben keine Ahnung. Er ist am frühen Nachmittag verschwunden, kurz bevor wir die Bestätigung bekommen haben. Er kann überall sein.«
»Aber du bist zuversichtlich, dass ihr ihn kriegt?«
»Ich denke schon.«
Jenny wandte sich an Burgess. »Dann ist Ihr Job ja erledigt, oder? Ich nehme nicht an, dass Sie noch länger in diesem gottverlassenen Kaff rumhängen wollen, was?«
»Ach, ich weiß nicht.« Burgess zündete sich eine Zigarre an und grinste sie lüstern an. »Andere Dinge machen das wieder wett.«
Jenny hustete und wedelte den Rauch weg.
»Spaß beiseite«, fuhr er fort, »ich werde hier bleiben, bis er gefasst ist. Da gibt es eine Menge Fragen, die ich ihm stellen möchte.«
»Aber das kann doch Tage oder Wochen dauern.«
Burgess zuckte mit den Achseln. »Es ist das Geld des Steuerzahlers, Schätzchen. Sie sind wieder dran, Banks.«
»Für mich nichts mehr«, sagte Jenny. »Ich muss gleich wieder los.« Ihr Glas war noch halb voll.
Leicht benommen ging Banks an die Theke.
»Haben Sie es ihm gesagt?«, wollte Cyril wissen.
»Ja.«
»Gut. Ich hoffe nur, dass er weiß, was gut für ihn ist. Gucken Sie sich diesen Scheißkerl an, er kann die Finger nicht von ihnen lassen.«
Banks drehte sich um. Dirty Dick schien noch näher an Jenny herangerückt zu sein, sein Ellbogen lag jetzt auf der Rückenlehne ihres Stuhls. Sie verhält sich sehr ruhig, dachte Banks. Eigentlich nahm sie eine solche sexistische Vereinnahmung nicht so einfach hin. Vielleicht steht sie auch auf ihn, ging Banks plötzlich durch den Kopf. Wenn Glenys auf ihn steht, dann vielleicht auch Jenny. Möglicherweise hatte er wirklich den Schlag weg bei Frauen. Immerhin war er frei und ungebunden. Außerdem sah er einigermaßen gut aus. Dieses lässige Äußere, die abgewetzte Lederjacke, das aufgeknöpfte Hemd, es stand ihm gut, genau wie die grauen Strähnen an den Schläfen.
Banks fegte den Gedanken beiseite. Lächerlich. Jenny war eine intelligente Frau, die Geschmack hatte. Eine Frau wie sie würde niemals auf Dirty Dicks dreisten Charme reinfallen. Andererseits waren Frauen geheimnisvolle Wesen, dachte Banks bedrückt, als er die Getränke zum Tisch trug. Sie fielen immer auf Männer herein, die nichts wert waren. Er konnte sich noch genau an die schöne Anita Howarth erinnern, Objekt der Begierde seiner Jugendzeit. Für den schlanken, gut aussehenden Banks hatte sie kein Auge gehabt und war stattdessen hinter diesem pickeligen Tunichtgut Steve Naylor her gewesen. Und Naylor hatte sich einen Dreck um sie geschert. Er hatte den Eindruck gemacht, lieber Cricket oder Rugby zu spielen, als irgendetwas mit Anita anstellen zu wollen. Aber dadurch war sie nur noch verrückter nach ihm geworden. Und währenddessen hatte sich Banks die ganze Zeit damit herumschlagen müssen, ungebetene Annäherungsversuche von Cheryl Wagstaff abzuwehren. Das war die mit den gelben, vorstehenden Zähnen.
»Ich habe dieser schönen, jungen Dame gerade angeboten, ihr die Sehenswürdigkeiten von London zu zeigen«, sagte Burgess.
»Ich bin mir sicher, die hat sie bereits gesehen«, entgegnete Banks steif.
»Aber nicht so, wie ich sie ihr zeigen würde.« Burgess manövrierte seinen Arm so, dass seine Hand jetzt auf Jennys Schulter lag.
Banks überlegte, ob er sich diesmal galant verhalten und Jennys Ehre verteidigen sollte. Schließlich waren sie jetzt gewissermaßen außer Dienst. Aber dann erinnerte er sich daran, dass sie sehr gut auf sich selbst aufpassen konnte. Ihr Gesicht nahm einen bedrohlich süßlichen Ausdruck an.
»Bitte nehmen Sie Ihre Hand von meiner Schulter, Superintendent«, sagte sie.
»Ach, kommen Sie, Schätzchen«, sagte Burgess. »Seien Sie nicht so schüchtern. Und sagen Sie Dick zu mir.«
»Bitte!«
»Geben Sie mir eine Chance. Wir hatten kaum ...«
Burgess hielt abrupt inne, denn Jenny hatte seelenruhig und langsam ihr Glas genommen und den Rest ihres kühlen Bieres auf seinen Schoß gekippt.
»Ich hatte Ihnen ja gesagt, dass ich nur ein kleines Bier wollte«, sagte sie, nahm ihren Mantel und verschwand.
Burgess stürzte auf die Herrentoilette. Da Jenny so unaufgeregt gehandelt hatte und alle anderen Gäste um sie herum so ins Gespräch vertieft waren, blieb der Vorfall im Großen und Ganzen unbemerkt. Cyril hatte es jedoch gesehen und schüttelte sich vor Lachen.
Draußen holte Banks Jenny ein. Sie lehnte gegen das historische, steinerne Marktkreuz in der Mitte des Platzes, eine Hand vor dem Mund. »Mein Gott«, sagte sie, lachte lauthals los und klopfte sich auf die Brust. »Seit Jahren habe ich nicht mehr so viel Spaß gehabt. Der Mann bringt alles Gute in mir zurück. Was mich allerdings überrascht, ist, dass du dich anscheinend prächtig mit ihm verstehst.«
»So schlimm ist er nicht«, sagte Banks. »Besonders nach ein paar Gläsern.«
»Genau, man muss mindestens halb besoffen sein, um ihn auszuhalten. Und man muss ein Mann sein. Wenn es drauf ankommt, seit ihr alle pubertierende Bengels.«
»Er hat einen ziemlichen Ruf als Frauenheld.«
»Dann müssen die im Süden ganz schön verzweifelt sein.«
Banks' Glaube an die Frauen war teilweise wiederhergestellt.
Es war kalt draußen auf dem verlassenen Platz. Das Kopfsteinpflaster, immer noch nass vom Regen, glitzerte im schwachen Licht der Laternen. Die Kirchenglocken schlugen halb zehn. Banks schlug seinen Jackenkragen hoch und zog ihn fest um den Hals. »Was wolltest du mich fragen?«
»Nichts. Spielt keine Rolle.«
»Komm schon, Jenny, du verheimlichst mir etwas. Ich sehe es dir sofort an. Hat es mit Paul Boyd zu tun?«
»Indirekt. Aber wie gesagt, es spielt keine Rolle.«
»Weißt du, warum er weggelaufen ist?«
»Natürlich nicht.«
»Schau, ich weiß, dass du mit Mara befreundet bist. Hat es mit ihr zu tun? Es könnte wichtig sein.«
»Okay, okay«, sagte Jenny und hob ihre Hand. »Mach mal halblang. Ich erzähle dir alles, was du willst. Du wirst schon fast genauso schlimm wie dein Kumpel da drinnen. Mara hat sich nur gefragt, wie die Ermittlung verläuft, das ist alles. Oben auf der Farm sind alle ein bisschen angespannt und wollen wissen, ob sie noch weitere Besuche von Gottes Geschenk an die Frauenwelt erwarten müssen. Glaubst du mir jetzt, dass es keine Rolle spielt?«
»Wann hast du mit ihr gesprochen?«
»Heute Mittag im Black Sheep.«
»Sie muss das Messer gesehen haben«, sagte Banks, mehr zu sich selbst.
»Was?«
»Der Schafhirte, Jack Crocker. Er hat das Messer gefunden. Sie muss es gesehen haben, muss es als das von Paul identifiziert haben und ist dann losgestürmt, um ihn zu warnen. Deshalb hat er sich gerade noch rechtzeitig aus dem Staub gemacht.«
»Alan, das kann doch nicht wahr sein?!«
»Als ich heute Nachmittag mit ihr sprach, hatte ich den Eindruck, dass sie lügt. Ist dir etwas aufgefallen?«
»Sie ist ziemlich hastig aufgebrochen, aber mir war nicht klar, warum. Du wirst sie doch nicht festnehmen, oder?«
Banks schüttelte den Kopf. »Dadurch hat sie sich mitschuldig gemacht«, sagte er, »aber ich bezweifle, dass wir es beweisen können. Und wenn Burgess Boyd kriegt, glaube ich nicht, dass er noch einen Gedanken an Mara und die anderen verschwendet. Es war nur verdammt dumm von ihr, so zu handeln.«
»Tatsächlich? Würdest du einfach so einen Freund verpfeifen? Was würdest du tun, wenn jemand Richmond des Mordes anklagt? Oder mich?«
»Das ist was anderes. Natürlich würde ich alles tun, was in meiner Macht steht, um dich da rauszuboxen. Aber sie hätte uns benachrichtigen sollen. Boyd könnte gefährlich sein.«
»Paul ist ihr ans Herz gewachsen. Sie würde ihn niemals einfach so an die Polizei ausliefern.«
»Ich frage mich, ob sie ihm gesagt hat, wo er hingehen und sich verstecken soll.«
Jenny fröstelte. »Es ist kalt hier draußen«, sagte sie. »Ich gehe besser, bevor Dirty Dick rauskommt und mich zusammenschlägt. Das würde genau seinem Niveau entsprechen. Und du gehst lieber wieder rein, sonst denkt er noch, du hättest ihn verlassen. Richte ihm alles Liebe von mir aus.« Sie küsste ihn schnell auf die Wange und lief dann zu ihrem Wagen. Für einen Augenblick stand Banks noch in der Kälte und dachte an Mara und das, was Jenny gesagt hatte, dann ging er zurück ins Queen's Arms, um zu schauen, was aus dem besudelten Superintendent geworden war.
»Auf jeden Fall hat sie Mut, das muss man ihr lassen«, sagte Burgess, kein bisschen verärgert über den Vorfall. »Noch ein Bier?«
»Lieber nicht.«
»Ach, na los, Banks. Seien Sie kein Spielverderber.« Ohne auf eine Antwort zu warten, ging Burgess an die Theke.
Banks hatte das Gefühl, bereits genug getrunken zu haben. Er befand sich kurz vor dem Punkt, an dem es kein Zurück mehr gab. Andererseits, dachte er, noch ein paar Bier mehr und dann ist alles scheißegal. Er spürte, dass Burgess einsam war und im Moment seines Triumphes Gesellschaft brauchte, und fühlte sich nicht dazu in der Lage, den Scheißkerl einfach im Stich zu lassen. Außerdem erwartete ihn zu Hause nur ein leeres Haus. Er könnte den Cortina auf dem Parkplatz des Reviers stehen lassen und später zu Fuß nach Hause gehen, ganz egal, wie viel er noch trinken würde. Er hatte es nicht viel weiter als einen Kilometer. Und so tranken sie fröhlich immer weiter. Wenn man sich erst mal an seine großkotzige Art gewöhnt hatte und Themen wie Politik und Polizeimethoden ausklammerte, war Burgess ein recht unkomplizierter Gesprächspartner, fand Banks. Er hatte ein breit gefächertes Repertoire an Witzen auf Lager, kannte sich außerordentlich gut mit Jazz aus und wusste eine Menge Anekdoten über Einsätze zu erzählen, die in die Hose gegangen waren. So wie Banks sich erinnerte, gab es bei der Polizei der Hauptstadt derart viele verschiedene Abteilungen und Dezernate, die in ihre eigenen Operationen verstrickt waren, dass es nicht ungewöhnlich war, wenn ein Einsatzkommando in eine Überwachung des Betrugsdezernats platzte und die Aktion völlig vermasselte.
Eine Stunde und zwei Pints später, als Burgess sich dem Ende einer Geschichte über einen vom Pech verfolgten Constable des Drogendezernates näherte, der sich selbst in den Fuß geschossen hatte, meinte Banks, dass es an der Zeit sei zu gehen.
»Sieht wohl so aus«, sagte Burgess widerstrebend, trank sein Bier aus und stand auf.
Er schien kein bisschen betrunken zu sein. Er sprach normal und seine Augen waren klar. Als sie jedoch nach draußen kamen, hatte er Schwierigkeiten, über das Pflaster zu gehen. Um sich aufrecht zu halten, legte er einen Arm um Banks' Schulter, und so schaukelten die beiden über den Markplatz. Gott sei Dank ist das Hotel gleich um die Ecke, dachte Banks.
»Das ist mein einziges Problem, wissen Sie«, sagte Burgess. »Im Kopf glockenklar, das Gedächtnis intakt, aber jedes Mal, wenn ich mal einen über den Durst trinke, macht mein Fahrgestell, was es will. Wissen Sie, wie mich meine Kumpels bei Scotland Yard nennen?«
»Keine Ahnung.«
»Bambi.« Er lachte. »Scheiß-Bambi. Sie wissen schon, dieses kleine Dingsda aus dem Zeichentrickfilm. Ich laufe so wie dieses verfluchte Vieh. Die nennen mich nicht Bambi, weil ich so ein süßer und sanfter Kerl bin.« Er legte eine Hand auf die Leiste. »Verfluchte Scheiße, das fühlt sich immer noch an, als hätte ich mich vollgepisst. Diese gottverdammte Frau.«
Die Einladung, Burgess auf sein Zimmer zu begleiten, um noch gemeinsam eine Flasche Scotch zu leeren, lehnte Banks ab. Ganz egal, wie Leid ihm dieser einsame Scheißkerl auch tat, so ein Masochist war er nun auch wieder nicht. Widerwillig ließ Burgess ihn gehen. »Dann trinke ich sie eben alleine«, lauteten seine letzten Worte, die er in Anwesenheit eines verlegenen Nachtportiers in die Hotellobby posaunte.
Auf dem Nachhauseweg hätte Banks gerne seinen Walkman dabei gehabt. Dann hätte er beim Gehen Blind Willie McTell oder Bukka White hören können. Aber er war auch so gut zu Fuß und erreichte die Eingangstür des leeren Hauses in ungefähr zwanzig Minuten. Da er müde war und mit Sicherheit nichts mehr trinken wollte, ging er geradewegs ins Bett. Doch wie immer, wenn ihn bestimmte Dinge beschäftigten, konnte er nicht sofort einschlafen. Und Gills Ermordung warf eine Menge Fragen auf, die ihn immer noch vor ein Rätsel stellten.
Ein Problem war das Motiv, es sei denn, Burgess hatte Recht und Boyd hatte einfach wahllos um sich geschlagen. Zu wissen, wer es getan hatte, schien in diesem Fall nicht das Warum zu erklären. So weit bekannt, war Boyd nicht politisch engagiert, und selbst Punks von der Straße wie er hatten nicht die Angewohnheit, bei Anti-Atomkraft-Demos wahllos Polizisten niederzustechen. Wenn jemand private Gründe hatte, um Gill aus dem Wege zu räumen, dann gab es bei den anderen Verdächtigen eine Menge zu berücksichtigen: Osmonds Anklage wegen Körperverletzung, Maras Religionsgemeinschaft, der Unfall von Seths Frau und sogar Zoes Wahrsagerei an der Küste. Zu diesem Zeitpunkt war es schwer, sich eine Verbindung vorzustellen, aber es waren schon seltsamere Dinge passiert. Tony Grants Bericht könnte sich als hilfreich erweisen, vorausgesetzt, er traf jemals ein.
Seltsam erschienen Banks auch die Fingerabdrücke auf dem Messer. Wenn normalerweise ein Messer in einen Körper gestoßen wird, verrutschen die Finger, die den Griff halten, sodass jeder Abdruck verwischt wird. Boyds Abdrücke waren jedoch vollkommen deutlich gewesen, gerade so, als hätte er jeden einzelnen sorgfältig aufgetragen. Das könnte dabei passiert sein, als er das Messer zusammengeklappt und in der Hand gehalten hat, bevor er es wegwarf. Oder aber er hat es einfach aufgehoben, nachdem es jemand anderes benutzt hatte. Unter den seinen waren noch andere Abdrücke zu sehen, aber auch die waren zu verschwommen, um sie identifizieren zu können. Natürlich könnte es sich ebenfalls um seine handeln, doch mit Sicherheit konnte man das nicht wissen.
Auf jeden Fall hatte Boyd das Messer in seiner Tasche getragen. Die Spuren im Taschenfutter des Parkas stimmten mit Constable Gills Blutgruppe überein. Aber wenn er das Messer benutzt hatte, warum war er dann so dumm gewesen, es wieder aufzuheben, nachdem er es bereits fallen gelassen hatte? Denn er musste es zu einem bestimmten Zeitpunkt fallen gelassen haben, weil mehrere Leute gesehen hatten, dass es von der Menge hin und her getreten wurde. Hätte er das Messer einfach dort liegen lassen, wäre es sehr unwahrscheinlich gewesen, die Spur bis zur Farm zurückverfolgen zu können.
Wenn Boyd jedoch nicht der Mörder gewesen war, warum hatte er dann ein Messer aufgehoben, das nicht ihm gehörte? Um jemanden zu schützen? Und wen würde er mit größerer Wahrscheinlichkeit schützen als die Bewohner von Maggie's Farm? Oder war dort noch jemand anderes gewesen, den er kannte und der ihm etwas bedeutete, der Zugriff auf das Messer hatte? Immer mehr Fragen wollten jetzt beantwortet werden, dachte Banks, und Burgess war sehr voreilig gewesen, schon heute Abend seinen Sieg zu feiern.
Dann war da noch die Sache mit der Nummer auf der aus Seths Notizbuch gerissenen Seite. Banks wusste nicht, welche Bedeutung sie hatte, aber aus irgendeinem Grund kam sie ihm bekannt vor, verdammt bekannt. Boyd stand Seth nahe und verbrachte eine Menge Zeit bei ihm in der Werkstatt. Könnte die Nummer etwas mit ihm zu tun haben? Könnte ihnen die Nummer einen Hinweis darauf geben, wohin er verschwunden war?
Natürlich könnte es sich um eine Telefonnummer handeln. In der Gegend von Swainsdale gab es noch viele vierstellige Telefonnummern. Aus einem Impuls heraus stieg Banks aus dem Bett und ging nach unten. Es war bereits nach elf Uhr, aber er beschloss, es trotzdem zu versuchen. Er wählte 1139 und hörte am anderen Ende das Telefon klingeln. Lange ging niemand heran. Er wollte schon aufgeben, als sich eine Frau meldete. »Hallo. Rossghyll Gästehaus, Bed and Breakfast.« Die Stimme klang höflich, aber angespannt.
Banks stellte sich vor, und als klar wurde, dass er kein potenzieller Gast war, verblasste die Höflichkeit der Frau ein wenig. »Wissen Sie, wie spät es ist?«, sagte sie. »Konnte das nicht bis morgen warten? Wissen Sie, wann ich morgen wieder raus muss?«
»Es ist wichtig.« Banks gab ihr eine Beschreibung von Paul Boyd und fragte, ob sie ihn gesehen hatte.
»An solche Leute vermiete ich nicht«, meinte die Frau ärgerlich. »Für wen halten Sie uns? Dies ist ein anständiges Haus.« Und mit diesen Worten legte sie auf.
Banks trottete zurück ins Bett. Er würde natürlich jemanden hinschicken müssen, nur um sicherzugehen, aber es war höchst unwahrscheinlich, dass etwas dabei herauskommen würde. Und wenn es sich um eine Telefonummer außerhalb der Region handelte, dann könnte es fast überall sein. Ohne die dazugehörige Vorwahl konnte man nichts mit ihr anfangen.
Banks lag noch eine Weile länger wach, bis er schließlich in den Schlaf driftete und von einem Burgess träumte, der sich reumütig geschlagen geben musste.