* EINS

 

* I

 

Die Demonstranten standen dicht gedrängt im Märzregen vor dem Gemeindezentrum von Eastvale. Manche hielten selbst gefertigte Plakate hoch, doch die Anti-Atomkraft-Slogans waren im Nieselregen zerlaufen wie die Buchstaben im Vorspann von Horrorfilmen. Mittlerweile konnte man nur noch schwer erkennen, was sie aussagen wollten. Um halb neun war jeder gründlich durchnässt und hatte die Nase voll. Keine einzige Fernsehkamera nahm das Geschehen auf und nicht ein Reporter hatte sich unter die Menge gemischt. Protestaktionen waren out, die Medien interessierten sich nur noch für das, was drinnen vor sich ging.

  Trotz aller Frustration hatten die Demonstranten bisher Geduld bewahrt. Ihre Haare waren klatschnass und das Wasser tropfte ihnen den Nacken hinab, doch noch hielten sie ihre unleserlichen Plakate hoch und hüpften seit über einer Stunde von einem Fuß auf den anderen. Nun aber begannen viele von ihnen Platzangst zu kriegen. Die North Market Street war eng und nur spärlich von altmodischen Gaslaternen beleuchtet. Von allen Seiten waren die Protestierenden von der Polizei eingekesselt, die so nah vorgerückt war, dass man sich in keine Richtung mehr bewegen konnte. Auf den Stufen vor den schweren Eichentüren stand eine zusätzliche Reihe von Polizisten Wache, und gegenüber der Halle blockierten weitere Beamte die Schlupflöcher, die jenseits des Cardigan Drive in die gewundenen Nebenstraßen und auf die offenen Plätze führten.

  Nur um etwas Luft zu bekommen, begannen einige Leute an den Rändern schließlich zu drängeln. Die Polizei stieß sie rüde zurück. Der Aufruhr schwappte wie eine Welle bis in den dicht gedrängten Kern der Menge, wo die unterdrückte Wut zunahm. Als jemand ein Plakat auf den Kopf eines Polizisten niedergehen ließ, johlten die übrigen Demonstranten auf. Ein anderer warf eine Flasche. Ohne Schaden anzurichten, zerbrach sie hoch oben an einer Mauer. Dann begannen ein paar Leute ihre Fäuste in die Luft zu recken, und die Menge stimmte Sprechchöre an: »WIR WOLLEN REIN! LASST UNS REIN!« Vereinzelt brachen Handgemenge aus. Die Demonstranten kämpften um jeden Quadratzentimeter, während die Polizei sie zurückschob, um die Menge in Schach zu halten. Es war, als würde man auf dem Deckel eines kochenden Topfes sitzen; einer von beiden musste nachgeben.

  Später konnte niemand genau sagen, wie es passierte oder wer damit begonnen hatte, doch die meisten Demonstranten, die befragt wurden, behaupteten, dass ein Polizist geschrien hätte »Haut den Arschlöchern auf die Fresse!« und dass die Wachen auf den Stufen mit gezogenen Schlagstöcken nach unten vorrückten. Dann ging die Hölle los.

 

* II

 

Es war zu heiß im Gemeindezentrum. Detective Chief Inspector Alan Banks fummelte an seiner Krawatte herum. Er hasste Krawatten, und wenn er eine tragen musste, ließ er immer den obersten Knopf offen, um das beklemmende Gefühl erträglich zu machen. Diesmal aber spielte er nicht nur aus Unbehagen mit dem lockeren Knoten, sondern auch aus Langeweile. Er wünschte, er wäre zu Hause, einen Arm um Sandra gelegt und ein Glas mit gutem Single-Malt-Scotch in der anderen Hand.

  Aber sein Zuhause war während der letzten zwei Tage ein kalter und einsamer Ort gewesen, denn Sandra und die Kinder waren weg. Ihr Vater hatte einen leichten Schlaganfall erlitten, und Sandra war nach Croydon gefahren, um ihrer Mutter beizustehen. Banks wünschte, sie wäre zurück. Sie hatten jung geheiratet, und er fand, dass ein Dasein als Single nach fast zwanzigjähriger (zumeist) glücklicher Ehe wenig zu bieten hatte.

  Aber der Hauptgrund für Banks' zunehmende schlechte Laune war ein besonders näselndes Exemplar des Monetarismus der Londoner Grafschaften, das sich hier im überfüllten Gemeindezentrum von Eastvales produzierte. Frau Honoria Winstantley, ihres Zeichens Parlamentsabgeordnete, war gekommen, um die Wogen der Nord-Süd-Beziehungen zu glätten. Sie beehrte Eastvale, weil es, obwohl keine Großstadt, die größte und wichtigste Stadt dieses Landesteils zwischen York und Darlington war. Außerdem erfreute sich die Stadt zurzeit eines noch nie da gewesenen und unerklärlichen Wachstums und zeichnete sich daher als leuchtendes Beispiel für die Kräfte des Volkskapitalismus aus. Banks, der höflichkeitshalber anwesend war, saß eingezwängt zwischen zwei schweigsamen Beamten der Special Branch, einer Art Verfassungsschutz des Staates. Bestimmt hatte Superintendent Gristhorpe ihm diese Aufgabe zugeteilt, weil er selbst keinerlei Verlangen danach hatte, der Abgeordneten Honoria zuzuhören. Wenn man ihn danach fragte, beschrieb sich Banks als gemäßigten Sozialisten, aber Politik langweilte ihn und Politiker machten ihn meistens wütend.

  Gelegentlich blinzelte er nach links oder rechts und bemerkte dabei die wachsamen Blicke der Bodyguards neben sich, die jeden Moment eine terroristische Aktion zu erwarten schienen. Da er ihre wahren Namen nicht kannte, hatte er sie Chas und Dave getauft. Chas war der massige Typ mit den wässerigen Augen und der aufgedunsenen, roten Nase. Dave war mit dem hageren und hungrigen Äußeren eines Tory-Ministers gesegnet. Wenn jemand aus dem Publikum auf seinem oder ihrem Stuhl hin- und herrückte, eine Hand vor den Mund legte, um ein Husten zu unterdrücken, oder nach einem Taschentuch griff, ließen entweder Chas oder Dave die Hand unters Jackett zum Schulterhalfter gleiten.

  Das ist alles so blödsinnig, dachte Banks. Wenn jemand Honoria Winstantley töten wollte, dann wegen der einschläfernden Rede, die sie auf das Publikum losließ. Auf der Liste der gängigen Mordmotive stand dieser Punkt ganz weit unten, doch jeder vernünftige Richter würde einen solchen Mörder ohne Zweifel freisprechen.

  Während das Publikum applaudierte, hielt Ms. Winstantley inne und trank einen Schluck Wasser. »Und ich sage Ihnen allen«, fuhr sie äußerst pathetisch fort, »dass zu gegebener Zeit, wenn die Maßnahmen unserer Politik wirksam geworden sind und jede Spur von Sozialismus ausgemerzt wurde, alle Unstimmigkeiten beigelegt sein werden, und der Norden, diese wertvolle Wiege der Industriellen Revolution, tatsächlich genauso aufblühen wird wie der Rest unseres ruhmreichen Landes. Es wird wieder ein vereinigtes Königreich sein, vereinigt unter dem Banner des Unternehmergeistes, der Leistung und der harten Arbeit. Hier in Eastvale können Sie bereits erleben, wie es passiert.«

  Banks legte eine Hand vor den Mund und gähnte. Er schaute nach links und sah, dass Chas derart angetan war von Honoria, dass er für einen Moment vergessen hatte, ein Auge für die IRA, die PLO, die Baader-Meinhof-Gruppe und die Roten Brigaden offen zu halten.

  Dafür, dass kürzlich Mitglieder derselben Regierung dem Norden gesagt hatten, er solle aufhören, über die Arbeitslosigkeit zu jammern, da die meisten Probleme den armseligen Essgewohnheiten seiner Bewohner zuzuschreiben waren, kam die Rede gut an, dachte Banks. Doch bei einem Publikum, das fast ausnahmslos aus Mitgliedern der regionalen Konservativen Fraktion bestand - hauptsächlich kleine Geschäftsleute, Bauern und Grundbesitzer -, war solch eine uneingeschränkte Begeisterung nur zu erwarten. Die Anwesenden besaßen eine Menge Geld und außerdem ernährten sie sich bestimmt auch gut.

  Es wurde noch heißer und stickiger, aber die Abgeordnete Honoria zeigte keinerlei Ermüdungserscheinungen. Ganz im Gegenteil erging sie sich in einem Exkurs über Aktienbesitz, was in ihren Worten so klang, als könnte jeder Engländer über Nacht zum Millionär werden, wenn die Regierung nur weiterhin staatliche Industriezweige und Behörden privatisierte.

  Banks brauchte eine Zigarette. Erst vor kurzem hatte er wieder versucht, das Rauchen aufzugeben, allerdings vergeblich. Da in seinem Revier kaum etwas los war und Sandra und die Kinder fort waren, hatte er seinen Konsum sogar gesteigert. Sein einziger Fortschritt bestand darin, von Benson & Hedges Special Mild zu Silk Cut gewechselt zu sein. Er hatte irgendwo gehört, dass der Markenwechsel der erste Schritt dahin war, ganz mit dem Rauchen aufzuhören. Unglücklicherweise schmeckte ihm mittlerweile die neue Marke besser als die alte.

  Als Honoria auf die Notwendigkeit der Erhaltung, ja der Ausweitung der amerikanischen Militärpräsenz in Großbritannien zu sprechen kam, rutschte er unruhig auf seinem Stuhl umher. Chas sah ihn herausfordernd an. Banks begann sich zu fragen, ob dieser letzte Exkurs vielleicht nur ein Umweg gewesen war, um auf das Thema zu kommen, das die vielen Anwesenden hören wollten.

  Es hatte Gerüchte gegeben über ein Atomkraftwerk an der Küste jenseits des Moores von North York, nur sechzig Kilometer von Eastvale entfernt. Mit Sellafield im Westen war das selbst für einige der eher rechts gesinnten Einheimischen ein Kraftwerk zu viel. Schließlich konnte Radioaktivität eine ziemlich scheußliche Angelegenheit sein, wenn der eigene Wohlstand von Grund und Boden abhing. Jeder erinnerte sich noch an Tschernobyl und die Geschichten über kontaminierte Milch und verseuchtes Fleisch.

  Und als wäre die friedliche Nutzung der Atomkraft nicht schon schlimm genug, so wurde auch noch über eine neue amerikanische Luftwaffenbasis in der Gegend gesprochen. Die Bevölkerung hatte bereits genug von tief fliegenden Kampfjets, die tagein, tagaus die Schallmauer durchbrachen. Wenn auch die Schafe sich daran gewöhnt zu haben schienen, der Tourismusbranche taten sie überhaupt nicht gut. Aber es sah so aus, als wollte Honoria das Thema in gewohnter Manier der Politiker umgehen und jeden mit Visionen von einem neuen goldenen Zeitalter blenden. Vielleicht würde man in der Fragestunde wieder darauf zurückkommen.

  Nach einem hochfliegenden Geschwafel zur Bildungsreform, zu Gesetz und Ordnung, der Wichtigkeit militärischer Stärke und der Privatisierung des sozialen Wohnungsbaus endete Honorias Rede. Mit keinem Wort war sie auf das Atomkraftwerk oder die beabsichtigte Luftwaffenbasis eingegangen. Erst nach einer fünfsekündigen Pause bemerkte das Publikum, dass es vorbei war, und begann zu klatschen. In dieser Pause meinte Banks, von draußen Anzeichen eines Aufruhrs zu hören. Chas und Dave schienen den gleichen Verdacht zu haben; ihre Blicke schnellten zu den Türen und ihre Hände glitten unter ihre linken Achselhöhlen.

 

* III

 

Draußen schlugen und traten Polizisten und Demonstranten wild aufeinander ein. Teile der dicht gedrängten Menge waren in kleine Gefechte auseinander gebrochen, doch in der Mitte blieb ein brodelnder, kämpfender Kern zurück. Jeder schien nur noch sich selbst und seinen persönlichen Kampf wahrzunehmen. Es gab keine Individuen mehr, nur noch Fäuste, Schlagstöcke, Stiefel und Uniformen. Manchmal, wenn ein Knüppel niederknallte, schrie jemand vor Schmerz auf, fiel auf die Knie und legte fassungslos die Hände auf den Blutstrom. Die Polizei steckte genauso viel ein, wie sie austeilte. Stiefel trafen auf Leisten, Fäuste auf Köpfe. Helme flogen weg, und die Demonstranten hoben sie auf, um sie an den Riemen geschleudert als Waffe zu benutzen. Wer hinfiel, egal auf welcher Seite er stand, wurde vom Rest überrannt; es gab keinen Platz, um auszuweichen, und keine Zeit für Mitgefühl.

  Ein junger Polizist, von zwei Männern und einer Frau in die Mangel genommen, bedeckte sein Gesicht und schlug blind mit seinem Schlagstock um sich. Ein Mädchen, dem das Blut den Hals hinablief, trat auf einen Polizisten ein, der sich im Regen wie ein Fötus zusammengerollt hatte. Vier ineinander verkeilte Leute fielen hin, stürzten durch das Schaufenster von Winston's Tabakladen und verstreuten die schöne Auslage aus Havannazigarren, Dosen mit aromatisiertem Pfeifentabak und exotischen türkischen und amerikanischen Zigarettenschachteln auf dem nassen Bürgersteig.

  Das Polizeirevier von Eastvale befand sich nur hundert Meter die Straße hinab, direkt am Marktplatz. Als er den Lärm hörte, stürzte Sergeant Rowe nach draußen und schätzte rasch die Lage ab. Dann schickte er zwei Mannschaftswagen los, die an beiden Seiten die engen Straßen blockieren sollten, und eine Grüne Minna, um die Gefangenen einzusammeln. Außerdem forderte er im Krankenhaus Rettungswagen an.

  Als die Demonstranten die Sirenen hörten, waren sich die meisten darüber im Klaren, dass sie in der Falle saßen. Die Raufereien hörten auf, die verängstigten Demonstranten wollten das Weite suchen. Einige konnten vorbeischlüpfen, bevor die Wagentüren geöffnet wurden. Zwei Leute schoben den Fahrer eines Wagens beiseite und rannten über den Marktplatz in die Freiheit. Ein paar andere warfen sich auf die Polizisten, die noch versuchten, die Schlupflöcher zu blockieren, schlugen sie nieder und machten sich auf in die Sicherheit und Dunkelheit der Nebenstraßen. Ein muskulöser Demonstrant kämpfte sich die Stufen zu den Türen des Gemeindezentrums hoch, zwei Polizisten im Genick, die versuchten, ihn zurückzuzerren.

 

* IV

 

Lauter und anhaltender Applaus erstickte alle anderen Geräusche. Die Männer der Special Branch ließen ihre Waffen los. Die Abgeordnete Honoria strahlte in das Publikum und hob triumphierend ihre gefalteten Hände über den Kopf.

  Banks fühlte sich immer noch unbehaglich. Er war sicher, Geräusche eines Streites oder Kampfes von draußen gehört zu haben. Er wusste, dass eine kleine Demonstration geplant gewesen war, und fragte sich, ob es zu Ausschreitungen gekommen war. Aber was sollte er tun? Die Show musste weitergehen, um jeden Preis, und er wollte kein Aufsehen erregen, indem er aufstand und früher ging.

  Wenigstens war die Rede vorbei. Wenn sich die Fragestunde nicht zu lange hinzog, könnte er in einer halben Stunde hinausgehen und eine Zigarette rauchen. In einer Stunde könnte er zu Hause bei seinem Scotch sein und Sandra am anderen Ende der Telefonleitung hören. Außerdem war er hungrig. In Sandras Abwesenheit hatte er begonnen, sich an der haute cuisine zu versuchen, und wenn bisher auch noch nicht alles ganz klappte - dem Curry fehlte die Würze, eine Fischcasserole war verkocht -, so machte er doch Fortschritte. Ein spanisches Omelette würde er ja wohl noch hinkriegen, oder?

  Der Applaus verebbte, und der Vorsitzende eröffnete die Fragestunde. Als sich die erste Person erhob und nach dem beabsichtigten Standort für das Atomkraftwerk fragte, flogen die Türen auf und ein kräftiger, ungepflegter junger Mann taumelte mit zwei Polizisten im Schlepptau in den Saal. Ein Schlagstock krachte nieder, und die drei stürzten auf die letzte Sitzreihe. Der junge Mann schrie vor Schmerzen auf. Als die zerbrechlichen Stühle unter der Last der drei Männer umkippten und zersplitterten, kreischten ein paar Frauen auf und griffen nach ihren Pelzmänteln.

  Chas und Dave fackelten nicht lange. Sie eilten zu Honoria, schirmten sie vom Publikum ab und verließen, angeführt von Banks, den Saal durch eine Hintertür. Jenseits der voll gestopften Lagerräume kam man durch einen Ausgang auf ein Gewirr von Seitenstraßen. Banks führte sie eine enge Gasse hinab, in der die Geschäfte der York Road ihren Abfall abluden. Im Nu hatten die vier die Straße überquert und betraten das alte Riverview Hotel, wo die Abgeordnete für diese Nacht untergebracht worden war. Zum ersten Mal an diesem Abend war sie still. Im gedämpften Licht der Hotellobby bemerkte Banks, wie bleich sie geworden war.

  Erst als sie im Zimmer waren, einer Suite mit einem großartigen Blick auf die terrassenförmig angelegten Gärten am Fluss, entspannten sich Chas und Dave. Honoria seufzte und ließ sich aufs Sofa fallen. Dave verschloss die Tür und legte die Kette vor, während Chas zum Barschrank ging  »Schenk mir ein Gin Tonic ein, ja, Schatz?«, sagte Honoria mit zittriger Stimme.

  »Was zum Teufel war da los?«, fragte Chas und schenkte auch zwei Gläser Scotch ein.

  »Keine Ahnung«, sagte Banks. »Draußen war eine kleine Demonstration. Ich nehme an, sie ist vielleicht...«

  »Ziemlich miese Sicherheitsvorkehrungen haben Sie hier«, sagte Dave, nahm seinen Drink und reichte Honoria ihren Gin Tonic.

  Sie stürzte ihn runter und legte eine Hand auf die Stirn. »Mein Gott«, sagte sie, »ich dachte, hier würden nur Bauern und Pferdetrainer leben. Schaut mich an, ich zittere wie Espenlaub.«

  »Hören Sie«, sagte Banks, der an der Tür stand. »Ich gehe besser und schaue, was passiert ist.« Es war offensichtlich, dass er keinen Drink bekommen würde, und er verspürte auch keinerlei Lust, den Prügelknaben für die Sicherheitsbeamten zu spielen. »Kommen Sie hier klar?«

  »Hier sind wir auf jeden Fall wesentlich sicherer als dort«, sagte Dave. Dann wurde sein Ton etwas milder und er kam zu Banks an die Tür. »Ja, gehen Sie nur. Das ist jetzt Ihr Problem, Kumpel.« Er lächelte und senkte seine Stimme, deutete mit seinem Kopf in Honorias Richtung. »Sie ist unseres.«

  In der Eile hatte Banks seinen Regenmantel im Gemeindezentrum vergessen, und seine Zigaretten steckten in der rechten Seitentasche. Beim Gehen sah er, wie Chas sich eine anzündete, aber es war ihm zu peinlich, ihn um eine zu bitten. Es war schon alles schlimm genug. Mit hochgeschlagenem Jackenkragen lief er hinunter zum Marktplatz, bog vor der Kirche nach rechts ab und blieb wie erstarrt stehen.

  Die Verwundeten lagen stöhnend oder bewusstlos im Nieselregen. Die Polizei schlug sich immer noch mit denjenigen herum, die sie festgenommen hatte, und versuchte, sie auf die Rücksitze der Wagen oder in die Grüne Minna zu zwängen. Einige an den Haaren festgehaltene Demonstranten wanden sich und traten um sich und erhielten als Antwort Hiebe mit den Schlagstöcken. Andere gingen friedfertig mit. Sie waren jetzt verängstigt und müde; der größte Widerstand war gebrochen.

  Banks stand wie angewurzelt da und beobachtete das Geschehen. Funkgeräte knisterten, Blaulichter rotierten. Die Verletzten schrien vor Schmerz und Schrecken, während Rettungssanitäter mit Tragen herumliefen. Man wollte es nicht glauben. Ein ausgewachsener Krawall in Eastvale, wenn auch in kleinem Ausmaß, war einfach undenkbar. An die steigende Kriminalitätsrate, die selbst so kleine Orte wie Eastvale mit gerade mal vierzehntausend Einwohnern heimsuchte, hatte sich Banks gewöhnt, aber Krawalle waren doch beschränkt auf Birmingham, Liverpool, Leeds, Manchester, Bristol oder London. Hier könnte so etwas nicht passieren, hatte er immer gedacht, wenn er kopfschüttelnd die Nachrichten aus Brixton, Toxteth und Tottenham sah. Doch jetzt war es passiert, und die klagenden Opfer sowohl auf Seiten der Polizei wie der Demonstranten waren Zeugen dieser traurigen Wahrheit.

  Die Straße war am Marktplatz nach Süden hin und in der Nähe der Stadthalle, an der Kreuzung mit der Elmet Street, nach Norden hin verbarrikadiert. Die Gaslaternen und beleuchteten Schaufenster der niedlichen Touristenläden voller Strickwaren aus Yorkshire, Wanderutensilien und regionaler Produkte warfen ihr Licht auf die chaotische Szenerie. Ein Junge, nicht älter als fünfzehn oder sechzehn, schrie auf, als ihn zwei Polizisten an den Haaren über das glitzernde Kopfsteinpflaster zerrten. Ein zerrissenes Plakat, auf dem einmal trotzig ATOMKRAFT? NEIN DANKE! gestanden hatte, flatterte im Märzwind, während die Regenfäden ein zartes Muster darauftröpfelten. Ein Polizist, ohne Helm und mit zerzaustem Haar, bückte sich, um einem anderen aufzuhelfen, dessen Schnurrbart mit Blut verklebt war und dessen Nase seltsam schief im Gesicht saß.

  In den sich drehenden Blaulichtern kamen Banks die Nachwirkungen der Schlacht surreal vor. Verlängerte Schatten strichen über die Mauern. Für Sekunden tauchten im Licht seltsame Gegenstände auf der Straße auf und schienen dann wieder zu verschwinden: Ein umgedrehter Helm, eine leere Bierflasche, ein Schlüsselring, ein halb gegessener Apfel, der an den Rändern braun wurde, oder ein langer weißer Schal, der sich wie eine Schlange wand.

  Aus dem Revier waren mehrere Polizisten zu Hilfe geeilt. Banks erkannte Sergeant Rowe, der hinter einem Mannschaftswagen an der Ecke stand.

  »Was ist passiert?«, fragte er.

  Rowe schüttelte den Kopf. »Die Demo ist außer Kontrolle geraten, Sir. Noch wissen wir nicht, wie oder warum.«

  »Wie viele waren es?«

  »Ungefähr hundert.« Er schwenkte seine Hand über die Szenerie. »Aber so was haben wir nicht erwartet.«

  »Haben Sie eine Zigarette, Sergeant?«

  Rowe gab ihm eine Senior Service. Nach Silk Cut war sie stark, aber er zog den Rauch trotzdem tief in seine Lungen.

  »Wie viele sind verletzt?«

  »Weiß ich noch nicht, Sir.«

  »Und von unseren Leuten?«

  »Tja, einige, nehme ich an. Ungefähr dreißig Beamte hatten die Aufgabe, die Menge im Zaum zu halten, aber die meisten von ihnen wurden auf Überstundenbasis aus York und Scarborough abgezogen. Craig war dabei, und der junge Tolliver. Ich habe beide noch nicht gesehen. Heute Nacht werden wir im Revier alle Hände voll zu tun haben. Sieht so aus, als hätten wir die Hälfte von ihnen geschnappt.«

  Zwei Rettungssanitäter zuckelten mit einer Trage heran. Darauf lag eine Frau in mittleren Jahren, ihr linkes Auge war von Blut getrübt. Als sie vorbeigingen, drehte sie unter Schmerzen ihren Kopf zur Seite und spuckte Sergeant Rowe an.

  »Verdammte Scheiße!«, sagte Rowe. »Das war Mrs. Campbell. Sie leitet die Sonntagsschule im Gemeindehaus am Cardigan Drive.«

  »Der Krieg macht aus uns allen Tiere, Sergeant«, sagte Banks und wünschte, er könnte sich daran erinnern, wo er das gehört hatte. Dann wandte er sich ab. »Ich gehe besser ins Revier. Weiß der Superintendent schon Bescheid?«

  »Es ist sein freier Tag, Sir.« Rowe schien immer noch fassungslos zu sein.

  »Ich werde ihn lieber anrufen. Hatchley und Richmond auch.«

  »Richmond ist da hinten, Sir.« Rowe zeigte auf einen großen, schlanken Mann, der nahe bei der Grünen Minna stand.

  Banks ging hinüber und berührte Richmonds Arm.

  Der junge Polizist zuckte zusammen. »Ach, Sie sind es, Sir. Entschuldigung, das hat mich ziemlich mitgenommen.«

  »Wie lange sind Sie schon hier, Phil?«

  »Ich kam raus, als uns Sergeant Rowe erzählte, was los ist.«

  »Den Anfang haben Sie also nicht miterlebt?«

  »Nein, Sir. In fünfzehn Minuten war alles vorbei.«

  »Kommen Sie, wir gehen lieber rein und helfen den Kollegen.«

  Im Revier herrschte Chaos. Jeder verfügbare Quadratzentimeter war von verhafteten Demonstranten besetzt worden, manche bluteten aus geringfügigen Schnittverletzungen und die meisten beschwerten sich lautstark über die Brutalität der Polizei. Als sich Banks und Richmond zum Treppenhaus durchboxten, rief eine vertraute Stimme hinter ihnen her.

  »Craig!«, sagte Banks, als der junge Polizist zu ihnen aufgeschlossen hatte. »Was ist passiert?«

  »Nicht viel, Sir«, schrie Craig über den Lärm hinweg. Sein rechtes Auge war dunkel und angeschwollen, aus einem Riss in der Lippe tropfte Blut. »Ich bin noch mal davongekommen.«

  »Sie sollten im Krankenhaus sein.«

  »Es ist wirklich nicht der Rede wert, Sir. Susan Gay wurde ins Krankenhaus gebracht.«

  »Was hatte sie da draußen zu suchen?«

  »Die Männer von der Schutzpolizei brauchten Hilfe, Sir. Wir sind einfach rausgegangen. Wir konnten nicht wissen, dass es so enden würde ...«

  »Ist sie schwer verletzt?«

  »Wohl nur eine Gehirnerschütterung, Sir. Sie wurde niedergeschlagen, und irgendein Arschloch hat ihr gegen den Kopf getreten. Das Krankenhaus hat gerade angerufen. Ein Dr. Partridge möchte Sie sprechen.«

  Hinter ihnen brach ein Handgemenge aus. Jemand prallte gegen Richmonds Kreuz. Er fiel nach vorn und stieß Banks und Craig gegen die Wand.

  Banks rappelte sich auf. »Kann mal jemand diese verdammten Leute zur Ruhe bringen!«, schrie er in den Raum. Dann wendete er sich wieder an Craig. »Ich werde mit dem Doktor sprechen. Aber rufen Sie den Superintendenten an, wenn es geht. Erzählen Sie ihm, was passiert ist, und bitten Sie ihn herzukommen. Sergeant Hatchley auch. Und dann gehen Sie ins Krankenhaus. Wenn Sie Susan einen Krankenbesuch abstatten, können Sie gleich mal Ihr Auge untersuchen lassen.«

  »In Ordnung, Sir.« Craig kämpfte sich zurück durch die Menge, und Banks und Richmond gingen hoch in die Büros der Kriminalpolizei.

  Zuerst griff Banks in seine Schreibtischschublade, wo er eine Zigarettenschachtel für Notfälle aufbewahrte, dann wählte er die Nummer des Allgemeinen Krankenhauses von Eastvale.

  Der Doktor wurde ausgerufen und kam eine Minute später ans Telefon.

  »Gibt es schwere Verletzungen?«, fragte Banks.

  »Hauptsächlich handelt es sich nur um Schnitte und Schwellungen. Ein paar leichte Kopfwunden. Alles in allem würde ich sagen, es sieht schlimmer aus, als es ist. Aber deshalb habe ich nicht...«

  »Was ist mit Constable Gay?«

  »Mit wem?«

  »Susan Gay. Die Polizistin.«

  »Ach so, ja. Ihr geht es gut. Sie hat eine Gehirnerschütterung. Wir werden sie zur Beobachtung über Nacht hierbehalten, und nach ein paar Tagen wird sie wieder auf den Beinen sein. Hören Sie, ich verstehe Ihre Sorge, Detective Chief Inspector, aber ich wollte mit Ihnen über etwas anderes sprechen.«

  »Um was geht es denn?« Für einen Augenblick spürte Banks den eisigen Schauer einer irrationalen Angst. Sandra? Die Kinder? Das Ergebnis seiner letzten Röntgenuntersuchung der Lunge?

  »Es hat einen Todesfall gegeben.«

  »Bei der Demonstration?«

  »Ja.«

  »Fahren Sie fort.«

  »Tja, es handelt sich eher um Mord, schätze ich.«

  »Schätzen Sie?«

  »Ich meine, es sieht danach aus. Ich bin kein Pathologe. Ich bin nicht qualifiziert...«

  »Wer ist das Opfer?«

  »Ein Polizist. Constable Edwin Gill.«

  Banks runzelte die Stirn. »Den Namen kenne ich nicht. Woher kommt er?«

  »Einer der anderen sagte, er wäre aus Scarborough abgezogen worden.«

  »Wie ist er gestorben?«

  »Tja, das ist genau der Punkt. Nach dem, was da los war, würde man eine Schädelfraktur erwarten oder eine Platzwunde.«

  »Aber?«

  »Er wurde erstochen. Als er zu uns kam, war er noch am Leben. Leider haben wir nicht ... Zuerst war keine Wunde zu sehen. Wir dachten, er sei einfach wie die anderen niedergeschlagen worden. Er starb, bevor wir etwas tun konnten. Innere Blutungen.«

  Banks legte eine Hand auf den Hörer und drehte seine Augen zur Decke. »Scheiße!«

  »Hallo, Chief Inspector? Sind Sie noch da?«

  »Ja. Entschuldigen Sie, Doktor. Danke, dass Sie so schnell angerufen haben. Ich werde noch mehr Polizeiwachen runterschicken. Niemand darf gehen, egal wie leicht die Verletzungen sind. Ist jemand vom Revier aus Eastvale bei Ihnen? Jemand bei Bewusstsein, meine ich.«

  »Einen Moment.«

  Dr. Partridge kam mit Constable Tolliver zurück, der Susan Gay im Krankenwagen begleitet hatte.

  »Hör genau zu, Junge«, sagte Banks. »Wir haben hier alle Hände voll zu tun, also musst du die Sache im Krankenhaus allein regeln.«

  »Ja, Sir.«

  »Sobald ich jemanden entbehren kann, schicke ich euch weitere Leute, aber bis dahin gib dein Bestes. Niemand, der am Tumult heute Abend beteiligt war, darf verschwinden, hast du verstanden?«

  »Ja, Sir.«

  »Das schließt auch unsere Leute mit ein. Ich kann mir denken, dass einige von ihnen unbedingt nach Hause wollen, nachdem sie verarztet wurden, aber ich brauche Aussagen und ich brauche sie, solange in den Köpfen noch alles frisch ist. Okay?«

  »Ja, Sir. Hier sind noch zwei, drei Kerle ohne ernsthafte Verletzungen. Wir werden uns darum kümmern.«

  »Gut. Hast du von Gill gehört?«

  »Ja, Sir. Der Doktor hat es mir erzählt. Ich kannte ihn nicht.«

  »Es wäre besser, wenn du jemanden findest, der ihn offiziell identifizieren kann. Hatte er Familie?«

  »Keine Ahnung, Sir.«

  »Finde es heraus. Wenn er eine hatte, weißt du, was zu tun ist.«

  »Ja, Sir.«

  »Und lass Dr. Glendenning kommen. Er muss die Leiche untersuchen. Wir müssen in der Sache schnell handeln, bevor alle Spuren kalt werden.«

  »Ich verstehe, Sir.«

  »Gut. Dann mal los.«

  Banks legte auf und drehte sich zu Richmond, der nervös in der Tür stand und über seinen Schnurrbart strich. »Gehen Sie bitte runter, Phil, und sagen Sie jedem, der im Dienst ist, dass er die Leute beruhigen und darauf aufpassen soll, dass niemand abhaut. Dann rufen Sie in York an und fragen, ob die für heute Nacht noch ein paar Kollegen entbehren können. Wenn nicht, versuchen Sie es in Darlington. Und außerdem kümmern Sie sich darum, dass die Straße vom Marktplatz bis zur Stadthalle abgesperrt wird.«

  »Was ist los?«, wollte Richmond wissen.

  Banks seufzte und fuhr mit einer Hand durch sein kurzgeschorenes Haar. »Sieht so aus, als hätten wir einen Mord am Hals und hundert oder mehr Verdächtige.«