* SIEBEN

 

* I

 

Banks bog auf den Weg zu Gristhorpes altem Bauernhaus am Hang über Lyndgarth ein und fragte sich, was der Superintendent an einem Mittwochmorgen zu Hause machte. Die Nachricht, die von Sergeant Rowe auf seinen Schreibtisch gelegt worden war, enthielt keine Erklärung, sondern nur die Einladung zu einem Besuch.

  Als er vor dem gedrungenen, massiven Haus parkte, drückte er seine Zigarette aus und stoppte die LightningHopkins-Kassette, die er gehört hatte. Er atmete die frische, kalte Luft ein, sah hinunter über Swainsdale und war beeindruckt, wie Relton und Maggie's Farm genau auf der gegenüberliegenden Seite des Tals beinahe ein Spiegelbild von Lyndgarth und Gristhorpes Haus darstellten. Wie Letzteres befand sich Maggie's Farm höher am Berghang als das nahe gelegene Dorf, ganz weit oben am Rande der Heidelandschaft, die sich kilometerweit über die Gipfel zwischen den einzelnen Tälern erstreckte.

  Als er vor dem Bauernhaus den Hang hinunterschaute, konnte Banks westlich von Lyndgarth die graubraunen Ruinen der Devraulx-Abtei erkennen. In der Talsohle markierte Fortford die westliche Grenze der Flussauen. Dort, wo der Fluss Swain sich durch die Ebene schlängelte, und zwar bevor er mit einer scharfen Kurve südöstlich nach Eastvale weiterströmte und schließlich außerhalb Yorks in den Ouse mündete, war die breiteste Stelle des Tales.

  Im Sommer waren die saftigen grünen Auenwiesen mit goldenen Butterblumen gesprenkelt. Am Flussufer im Schatten der Eschen und Weiden wuchsen Glockenblumen, Vergissmeinnicht und Bärlauch. Die Wiesen, Leas wurden sie im Volksmund genannt, waren beliebte Ausflugsziele für Familienpicknicks. Zudem stellten Künstler ihre Staffeleien dort auf, und an den Ufern verbrachten Angler müßige Nachmittage oder wateten in der Dämmerung ins seichte Wasser. Obwohl sich die Vorboten des Frühlings bereits in der Farbe des Grases zeigten und wie ein grüner Dunst über den Zweigen der Bäume hingen, schienen die Wiesen jetzt ein unheimlicher und trostloser Ort zu sein. Zwischen den Bäumen funkelte der sich dahinschlängelnde Fluss, der Wind jagte die Wolken von Westen herüber. Ihre Schatten flitzten mit einer solchen Geschwindigkeit über die steilen grünen Hänge, dass einem beim Zuschauen fast schwindelig wurde.

  Gristhorpe öffnete die Tür, führte Banks ins Wohnzimmer, wo im Kamin ein Torffeuer brannte, und verschwand dann in der Küche. Banks zog seine mit Schaffell gefütterte Jacke aus und rieb vor dem Feuer seine Hände. Draußen vor dem Fenster stand ein Stapel Steine neben der unvollendeten Natursteinmauer, die der Superintendent in seiner Freizeit errichtete. Sie zäunte nichts ein und verlief ins Nirgendwo, doch Banks hatte mit Gristhorpe schon viele Stunden in kameradschaftlicher Stille damit zugebracht, weitere Steine aufzuschichten. Heute war es allerdings zu kalt für eine solche Beschäftigung im Freien.

  Gristhorpe brachte auf einem Tablett Tee und Scones herbei und setzte sich in seinen Lieblingssessel, um den Tee einzuschenken. Nachdem sie ein wenig über die Mauer und das Wetter - sollte es noch einmal schneien? - gesprochen hatten, erzählte der Superintendent Banks die Neuigkeit: Die Untersuchung über die Demonstration war eingestellt worden.

  »Ich wurde einfach abserviert, wie man so schön sagt«, meinte er. »Der stellvertretende Polizeipräsident möchte, dass jemand von außerhalb den Bericht beendet. Vielleicht jemand aus der Abteilung von Avon und Somerset.«

  »Weil wir zu voreingenommen sind?«

  »Ja, teilweise. Ich habe nichts anderes erwartet. Sie haben mich erst mal nur deshalb darauf angesetzt, damit es so aussieht, als würden wir schnell handeln.«

  »Hast du was herausgefunden?«

  »Es sieht so aus, als hätten ein paar von unseren Jungs überreagiert.«

  Banks erzählte ihm, was er von Jenny sowie Tim und Abha erfahren hatte.

  Gristhorpe nickte. »Dem stellvertretenden Polizeipräsidenten gefällt das nicht. Wenn du mich fragst, ich glaube nicht, dass es eine offizielle Untersuchung geben wird. Das wird so lange aufgeschoben, bis es kein Thema mehr ist. Er hofft, dass Superintendent Burgess schnell einen Mörder findet. Dann wäre jeder zufrieden, die restlichen Umstände werden die Leute schnell vergessen.«

  »Was heißt das für dich?«

  »Ich nehme ein paar Tage Urlaub, wie mir der Stellvertretende geraten hat. Sollte nichts anderes passieren, irgendwas, das nichts mit Gills Tod zu tun hat, dann bleibe ich, wo ich bin. Er hat natürlich Recht. Das ist Burgess' Fall und da müssen wir uns nicht gegenseitig auf den Füßen rumtrampeln. Aber wehe, du lässt das Arschloch mit seinen stinkigen Zigarren in mein Büro! Wie kommst du mit ihm klar?«

  »Geht schon irgendwie. Er hat eine Menge Energie, und blöd ist er auch nicht. Das Problem ist nur, dass er sich auf Terroristen und Linke im Allgemeinen eingeschossen hat.«

  »Und du siehst das anders?«

  »Ja.« Banks erzählte ihm von seinem Treffen mit Tony Grant und den Möglichkeiten, die sich daraus für den Fall ergeben hatten. »Außerdem«, fügte er hinzu, »wenn irgendeine terroristische Aktion geplant gewesen wäre, dann kann man ja wohl davon ausgehen, dass die Special Branch davon gewusst hätte, oder?«

  Gristhorpe verdaute die Informationen und grübelte einen Augenblick darüber nach. Dann sah er Banks mit seinen hellblauen Augen an und rieb sich das Kinn. »Ich möchte nicht bestreiten, dass du Recht haben könntest«, sagte er, »aber bleib um Himmels willen auf dem Boden. Wenn du dich in diese Sache verrennst, kannst du dir eine Menge Ärger einhandeln - und mir auch. Ich habe Verständnis dafür, dass du deinem Riecher folgen willst - andernfalls wärst du ein schlechter Polizist - und vielleicht möchtest du es auch Dirty Dick zeigen. Aber sei vorsichtig. Nur weil sich Gill als Arschloch erwiesen hat, muss er deswegen noch nicht umgebracht worden sein. Burgess könnte Recht haben.«

  »Ich weiß. Es ist nur eine Theorie. Aber danke für die Warnung.«

  Gristhorpe lächelte. »Nimm keine Rücksicht darauf. Aber häng es nicht an die große Glocke. Wenn Burgess herausfindet, dass du eine private Ermittlung durchführst, dann macht er aus deinen Eingeweiden Hosenträger. Und nicht nur er. Der stellvertretende Polizeipräsident wird mit deinen Eiern Billard spielen.«

  »Da werden mir wohl schnell die Organe ausgehen«, sagte Banks grinsend.

  »Und dieses Gespräch hat nie stattgefunden. Ich habe keine Ahnung, was du vorhast, abgemacht?«

  »Abgemacht.«

  »Aber halte mich auf dem Laufenden. Gott, wie ich diese verdammte Taktiererei hasse.«

  Banks wusste, dass Gristhorpe aus einer radikal gesinnten Familie stammte - Anhänger der ersten organisierten Arbeiterbewegung waren darunter, der Chartisten, sowie Gegner der Getreidegesetze. Im Familienstammbaum lauerte sogar ein Luddit, einer jener aufrührerischen Arbeiter, die Anfang des neunzehnten Jahrhunderts aus Furcht vor Arbeitslosigkeit Maschinen zerstörten. Gristhorpe selbst war konservativ, allerdings nicht im Sinne einer Parteizugehörigkeit. Er war wertkonservativ; die Menschenrechte, für die jahrhundertelang gekämpft und schließlich gewonnen worden war, lagen ihm am Herzen. So sah er auch seinen Job, er wollte die Menschen verteidigen und nicht angreifen. Banks vertrat die gleiche Berufsauffassung, und das war ein Grund, warum die beiden sich so gut verstanden.

  Banks trank seinen Tee aus und schaute auf die Uhr. »Wo wir gerade bei Dirty Dick sind, ich muss los. Er hat für ein Uhr eine Konferenz im Queen's Arms anberaumt.«

  »Sieht so aus, als hätte er sich ganz dort niedergelassen.«

  »Da liegst du gar nicht so falsch.« Banks erzählte von Glenys und zog seine Jacke an. »Davon mal abgesehen«, fügte er hinzu, »säuft er wie ein Loch.«

  »Also ist er nicht nur wegen Glenys und ihrer Reize dort?«

  »Nein.«

  »Hast du ihn schon besoffen erlebt?«

  »Noch nicht.«

  »Gut, pass auf ihn auf. Hier trinkt zwar jeder, aber irgendwann ist der Spaß vorbei. Das Letzte, was du gebrauchen kannst, ist, in einer brenzligen Situation auf einen Schluckspecht angewiesen zu sein.«

  »Ich glaube nicht, dass man sich da Sorgen machen muss«, sagte Banks und ging zu seinem Wagen. »Er hat schon immer gut geschluckt. Und ein geiler Bock war er auch immer. Aber was soll ich machen, wenn er es übertreibt? Ich sehe schon seinen Blick vor mir, wenn ich ihm vorschlage, sich bei den Anonymen Alkoholikern zu melden.«

  Gristhorpe stand neben dem Wagen. Banks kurbelte das Fenster herunter, schob die Lightning-Hopkins-Kassette wieder in den Schlitz und zündete sich eine Zigarette an.

  Der Superintendent schüttelte den Kopf. »Es wird auch Zeit, dass du diese furchtbare Angewohnheit aufgibst«, sagte er. »Und was diesen Krach angeht, den du Musik nennst...«

  Banks lächelte und drehte den Schlüssel im Zündschloss herum. »Weißt du was?«, sagte er. »Ich glaube, du wirst langsam ein unerträglicher, alter Kauz. Ich weiß, dass du kein Gehör für Musik hast und Mozart nicht von den Beatles unterscheiden kannst, aber vergiss nicht, es ist noch nicht lange her, dass du selbst mit Rauchen aufgehört hast. Hast du gar keine schlechten Angewohnheiten mehr?«

  Gristhorpe lachte. »Habe ich alle vor Jahren sein lassen. Meinst du, ich sollte mir wieder ein paar aneignen?«

  »Keine schlechte Idee.«

  »Und womit soll ich anfangen?«

  »Versuch es mit Schafeficken«, sagte Banks, nachdem er das Fenster hochgekurbelt hatte. Doch seinen erhobenen Augenbrauen und dem überraschten Lächeln nach zu urteilen, war Gristhorpe anscheinend des Lippenlesens mächtig. Grinsend bog Banks in den Weg, blickte auf die friedlichen, verlassenen Flussauen unten im Tal und fuhr auf die Straße nach Eastvale zu.

 

* II

 

Jenny hatte bereits fünf Minuten Verspätung. Mara stellte ihr kleines Bier ab und drehte sich eine Zigarette. Es war Mittwochmittag, und das Black Sheep war fast leer. Außer dem Wirt, der die Sun las, und zwei alten Männern, die Domino spielten, war sie der einzige andere Gast in der gemütlichen Bar.

  Jetzt, wo Jenny bald da sein würde, wurde sie unruhig und kam sich blöd vor. So gut kannte sie Jenny schließlich nicht, außerdem klang ihre Geschichte ziemlich fadenscheinig. Sie wusste nicht, wie sie das wirkliche Problem in Worte fassen sollte. Wie konnte sie beschreiben, dass sie Paul des Mordes an dem Polizisten verdächtigte und sogar schon Angst bekam, mit ihm unter einem Dach zu leben, sie ihn aber trotzdem nicht gehen lassen würde, sondern weiterhin wollte, dass er bei ihnen blieb? Ohne die Gefühle, die damit verbunden waren, klang es verrückt. Und Jenny zu erzählen, dass sie lediglich Informationen für eine Geschichte brauchte, an der sie schrieb, erklärte kaum die Wichtigkeit des Treffens, die sie am Telefon vorgeschoben hatte. Vielleicht kam Jenny ja gar nicht. Vielleicht hatte Mara nicht richtig auf den Anrufbeantworter reagiert und sie hatte die Nachricht nicht mal erhalten.

  Alles, was sie hören konnte, war das asthmatische Atmen von einem der alten Männer, ein gelegentliches Rascheln der Zeitung sowie das Klacken der Dominosteine, wenn sie auf die harte Spielfläche gelegt wurden. Sie schwenkte das Bier auf dem Grund des Glases und blinzelte erneut auf ihre Uhr. Viertel nach eins.

  »Noch ein Bier, Schätzchen?«, rief Larry Grafton.

  Mara lächelte ihn an und schüttelte den Kopf. Wie kam es, dass es ihr nicht so viel ausmachte, von den Einheimischen »Schätzchen« genannt zu werden, sie aber vor lauter Wut an die Decke gegangen war, als Burgess sie so angesprochen hatte? Es muss an der Betonung liegen, dachte sie sich. Die alten Männer aus Yorkshire, die das Wort benutzten, waren wahrscheinlich genauso chauvinistisch wie der Rest, denn die Geschlechterrollen waren in den Familien der Dales nicht weniger traditionell als irgendwo sonst in England, doch wenn die Männer hier Frauen »Schätzchen« nannten, dann schwang dabei wenigstens noch ein liebevoller Unterton mit. Bei Burgess allerdings war das Wort eine Waffe, mit der er die Frauen erniedrigte und sich über sie stellte.

  Da erschien Jenny und unterbrach ihren Gedankenfluss.

  »Tut mir Leid, dass ich zu spät dran bin«, sagte sie atemlos. »Der Kurs dauerte länger, als ich gedacht hatte.«

  »Kein Problem«, sagte Mara. »Ich bin auch noch nicht lange hier. Willst du was trinken?«

  »Ich gehe was holen.«

  Jenny ging zur Theke, und Mara beobachtete sie. Jedes Mal, wenn sie Jenny sah, fühlte sie sich von ihrem Auftreten eingeschüchtert. Immer schien Jenny die richtige, teuer aussehende Kleidung zu tragen. Heute war es eine taillenlange Pelzjacke (natürlich ein Imitat, Jenny würde niemals mit echtem Tierfell herumlaufen), eine grüne Seidenbluse, eine eng sitzende, rostfarbene Kordhose und blank polierte, kniehohe Stiefel. Mara würde sich nicht so kleiden wollen, es passte nicht zu ihrer Persönlichkeit, aber neben Jenny fühlte sie sich in ihrem von Motten zerfressenen Pullover und den schlammverschmierten Gummistiefeln schäbig. Ihre Jeans waren auch nicht gebleicht wie die von Jugendlichen, es war alles echt daran.

  »Nicht viel los hier, was?«, sagte Jenny und stellte die Gläser ab. »Du hast so nachdenklich ausgesehen, als ich reinkam. Woran hast du gedacht?«

  Mara erzählte ihr von ihren Empfindungen, wenn sie »Schätzchen« genannt wurde.

  »Ich weiß, was du meinst. Ich hätte Burgess erwürgen können, als er mich so genannt hat.« Sie lachte. »Dorothy Wycombe hat einmal ihren Drink über einen Stallburschen gekippt, weil er sie >Schätzchen< genannt hat.«

  »Dorothy hat mit uns nicht viel zu tun«, sagte Mara. »Ich glaube, für ihren Geschmack sind wir zu traditionell.«

  Jenny lachte. »Dann kannst du dich ja glücklich schätzen.« Sie zog ihre Pelzjacke aus und setzte sich hin. »Ich habe gehört, dass sie Hackfleisch aus Burgess gemacht hat. Alan hat sie auch schon mal den Marsch geblasen. Er macht jetzt einen weiten Bogen um sie.«

  »Alan? Ist das der Polizist, den du kennst? Chief Inspector Banks?«

  Jenny nickte. »Er ist in Ordnung. Warum? Wolltest du darüber mit mir reden?«

  »Was meinst du?«

  »Tu doch nicht so geheimnisvoll. Ich weiß, dass ihr seit der Demo die Polizei auf dem Hals habt. Ich habe mich nur gefragt, ob du deswegen mit mir sprechen wolltest. Deine Nachricht war ja nicht gerade aufschlußreich.«

  Mara lächelte. »Ich kenne mich mit Anrufbeantwortern einfach nicht so gut aus, tut mir Leid.«

  »Kein Problem. Du hast dich nur furchtbar besorgt und ernst angehört. Bist du das?«

  Ein Dominostein klackte laut auf das Spielbrett, offensichtlich der letzte Zug zum Sieg. »Nein, nicht so sehr, wie ich wahrscheinlich geklungen habe«, sagte Mara. »Aber es geht um die Demo. Jedenfalls zum Teil.« Da Jenny Banks erwähnt hatte, konnte sie auch gleich versuchen, etwas über den Stand der Ermittlung und die Gedanken der Polizei herauszufinden.

  »Dann schieß los.«

  Mara holte tief Luft und erzählte Jenny von den jüngsten Vorgängen auf der Farm, besonders von Burgess' Besuch.

  »Ihr solltet euch beschweren«, riet ihr Jenny.

  Mara schnaubte. »Beschweren? Bei wem denn? Er hat uns erzählt, was passieren würde, wenn wir es tun. Anscheinend ist sein Boss ein noch größeres Arschloch als er.«

  »Versuch es hier. Superintendent Gristhorpe ist kein schlechter Kerl.«

  Mara schüttelte den Kopf. »Du verstehst das nicht. Die Polizei würde sich niemals eine Beschwerde von Leuten wie uns anhören.«

  »Sei dir da nicht so sicher, Mara. Alan möchte es verstehen. Er ist nur hinter der Wahrheit her.«

  »Ja, aber ... ich kann es nicht richtig erklären. Was denken sie wirklich von uns, Jenny? Glauben die, dass einer von uns den Polizisten umgebracht hat?«

  »Keine Ahnung. Wirklich, ich weiß es nicht. Ihr steht im Mittelpunkt des Interesses, ja. Ich würde lügen, wenn ich das bestreiten wollte. Aber ich glaube nicht, dass es so weit geht, dass sie wirklich jemanden verdächtigen. Noch nicht.«

  »Aber warum belästigen sie uns dann die ganze Zeit? Wann wird das aufhören?«

  »Wenn sie den Mörder gefunden haben. Sie belästigen nicht nur euch, sondern jeden, der bei der Demo engagiert war. Sie waren auch bei Dennis, bei Dorothy Wycombe und den Studenten. Einstweilen werdet ihr das über euch ergehen lassen müssen.«

  »Sieht so aus.« Die alten Männer mischten die Dominosteine für ein neues Spiel. Im Kamin verrutschte ein Holzscheit und schickte einen Funkenschwall und eine Rauchwolke in den Raum. Die Flammen stiegen wieder auf und züngelten vor der schwarzen Schornsteinwand. »Hör mal«, fuhr Mara fort, »würdest du mir eine fachliche Frage beantworten? Es geht um Psychologie. Ich brauche es für eine Geschichte, an der ich arbeite.«

  »Ich wusste gar nicht, dass du schreibst.«

  »Ach, ich schreibe eigentlich nur für mich. Ich meine, ich habe bisher noch nicht versucht, etwas zu veröffentlichen.« Schon während sie es aussprach, wusste Mara, dass ihre Ausrede nicht wahr klang.

  »Okay«, sagte Jenny. »Ich hole nur erst noch eine neue Runde.«

  »O nein. Jetzt bin ich dran.« Mara ging an die Theke und bestellte ein weiteres kleines Bier für sich und einen Wodka Tonic für Jenny. Wenn sich nur nach diesem Gespräch einige ihrer Befürchtungen wegen Paul zerstreuen würden - natürlich ohne sie preiszugeben -, dann würde sie sich mit Sicherheit um einiges besser fühlen.

  »Also, worum geht es?«, fragte Jenny, als Mara mit den Getränken zurückkam.

  »Ich bin mir nur im Unklaren über einen Begriff, den ich gehört habe, und würde gerne wissen, was dahinter steckt. Was ist ein Soziopath?«

  »Ein Soziopath? Du lieber Gott, das ist ja fast eine Prüfungsfrage. Lass mich ein bisschen nachdenken. Aber ohne Lehrbuch werde ich dir wohl eine vereinfachte Antwort geben müssen.«

  »Das reicht völlig aus.«

  »Nun ... ich schätze, im Grunde ist es jemand, der ständig auf Kriegsfuß mit der Gesellschaft steht. Ein Rebell ohne Grund, wenn du so willst.«

  »Aber warum? Ich meine, wie werden Menschen so?«

  »Dafür gibt es keine Regeln«, sagte Jenny, »aber man glaubt, dass es viel mit den familiären Verhältnissen zu tun hat. Die Menschen, die wir Soziopathen nennen, haben normalerweise von klein auf Missbrauch, Grausamkeit und Ablehnung durch ihre Eltern erlitten, oder wenigstens von einem Elternteil. Als Reaktion darauf lehnen sie die Gesellschaft ab und werden selbst grausam.«

  »Was sind die Anzeichen?«

  »Antisoziale Handlungen: Diebstahl, Rücksichtslosigkeit, Grausamkeit zu Tieren. Schwer zu sagen.«

  »Was sind das für Menschen?«

  »Sie fühlen nichts bei dem, was sie tun. Sie können jede grausame Handlung - selbst Mord - vor sich rechtfertigen. Sie erkennen nicht wirklich, dass sie etwas Falsches getan haben.«

  »Kann man ihnen helfen?«

  »Manchmal. Das Problem ist, dass sie durch das, was ihnen widerfahren ist, vom Rest der Gesellschaft isoliert sind. Sie haben selten Freunde und keinerlei Sinn für Treue.«

  »Also ist es unmöglich, ihnen zu helfen?«

  »Für sie ist es sehr schwer, anderen Menschen Liebe und Vertrauen zu schenken oder die Gefühle anderer zu erwidern. Wenn man seine Liebe nicht zeigt, dann besteht auch nicht die Gefahr, im Falle einer Zurückweisung verletzt zu werden. Da steckt das eigentliche Problem: Sie brauchen jemanden, der ihnen vertraut und Gefühle für sie hat, aber genau diese Dinge können sie am schwersten annehmen.«

  »Also ist es hoffnungslos.«

  »Oft ist es zu spät«, sagte Jenny. »Wenn sie früh behandelt werden, kann man ihnen helfen, doch manchmal sitzt das Verhaltensmuster schon wenn sie in die Pubertät kommen so tief, dass es beinahe unabänderlich ist. Aber hoffnungslos ist es nie.« Sie beugte sich nach vorn und legte ihre Hand auf Maras. »Du sprichst von Paul, nicht wahr?«

  Schroff wich Mara zurück. »Wie kommst du darauf?«

  »Dein Gesichtsausdruck, der Ton in deiner Stimme. Es geht nicht um eine Geschichte, die du schreibst. Es ist eine wahre Geschichte, oder?«

  »Und wenn?«

  »Ich kann dir nicht sagen, ob Paul ein Soziopath ist oder nicht, Mara. Ich kenne ihn nicht gut genug. Aber das Leben auf der Farm scheint ihm gut zu tun.«

  »O ja«, sagte Mara. »Es tut ihm gut, meine ich. Seit er bei uns lebt, ist er wesentlich offener und freundlicher. Abgesehen von den letzten Tagen.«

  »Tja, logisch, dass ihn diese Polizeibesuche mitnehmen. Aber das hat nichts zu bedeuten. Du glaubst doch nicht, er könnte den Polizisten umgebracht haben, oder?«

  »Du darfst niemandem von diesem Gespräch erzählen«, sagte Mara schnell. »Besonders Inspector Banks nicht. Die Polizei sucht ja nur nach einem Grund, um Paul mit der Sache in Verbindung zu bringen. Und ich bin mir sicher, dass Burgess dann ein Geständnis aus ihm herauspresst.«

  »Das werden sie nicht tun«, sagte Jenny. »Du hast doch keinen konkreten Grund, Paul für schuldig zu halten, oder?«

  »Nein.« Mara war unsicher, ob sie überzeugend klang. Das Gespräch war ihr aus den Händen geglitten, aber jetzt schien es unmöglich zu sein, sich auf neutralen Boden zurückzuziehen. »Ich mache mir nur Sorgen um ihn, das ist alles«, fuhr sie fort. »Er hat es immer schwer gehabt. Seine Eltern haben ihn abgelehnt und seine Pflegeeltern haben ihn gefühllos behandelt.«

  »Aber das hat nicht viel zu bedeuten«, sagte Jenny. »Wenn das alles ist, worüber du dir Sorgen machst, dann solltest du dir nicht weiter den Kopf zerbrechen. Viele Menschen stammen aus zerrütteten Verhältnissen und schlagen sich durch. Es sind schon extreme Umstände nötig, um einen Soziopathen hervorzubringen. Man hat auch nicht bei jedem Wehwehchen oder Schmerz gleich Krebs, oder?«

  Mara nickte. »Tut mir Leid, dass ich versucht habe, dich anzuschwindeln«, sagte sie. »Das war nicht fair von mir. Aber jetzt fühle ich mich besser. Vergessen wir das einfach alles, ja?«

  »Na gut, wenn du willst. Aber sei vorsichtig, Mara. Ich habe nicht gesagt, dass Paul ungefährlich ist. Ich weiß es einfach nicht. Wenn du einen wirklichen Verdacht hast...«

  Doch Mara hörte nicht mehr zu. Die Tür ging auf und ein seltsam aussehender Mann kam herein. Aber es war nicht seine merkwürdige Erscheinung, die ihr zu schaffen machte, es war das Messer, das er vorsichtig in seiner Hand hielt. Bleich und zitternd stand sie auf.

  »Ich muss gehen«, sagte sie. »Entschuldige, mir ist da gerade was eingefallen ...« Und schon war sie verschwunden und ließ eine erstaunte Jenny zurück, die ihr mit offenem Mund hinterherstarrte.

 

* III

 

»Schwachsinn!«, sagte Burgess. »Das sind verdammte Unruhestifter. Mittlerweile sollten Sie das wissen. Warum wollen sie wohl ein atomwaffenfreies England? Was glauben Sie? Weil sie den Frieden lieben? Träumen Sie weiter, Constable.«

  »Ich weiß nicht«, sagte Richmond und strich sich über den Schnurrbart. »Es sind nur Studenten, die ...«

  »Nur Studenten? Schwachsinn! Wer versucht denn in solchen Ländern wie Korea oder Südafrika die Regierung zu stürzen? Die verdammten Studenten, wer sonst. Nur Studenten! Wachen Sie auf, Mensch! Erinnern Sie sich an das Chaos, das Studenten während des Vietnamkrieges in Amerika angerichtet haben. Die haben den Krieg fast im Alleingang für die Kommunisten gewonnen.«

  »Was ich sagen will, Sir«, fuhr Richmond fort, »ist, dass keiner von ihnen als militant bekannt ist. Sie sitzen nur zusammen und reden über Politik, mehr nicht.«

  »Aber die Special Branch führt eine Akte über Tim Fenton.«

  »Ich weiß, Sir. Aber er hat nichts verbrochen.«

  »Nicht bis jetzt, vielleicht.«

  »Aber was hätte er davon, Constable Gill umzubringen?«

  »Anarchie, was sonst?«

  »Bei allem Respekt«, mischte sich Banks ein, »aber das passt nun wirklich nicht zusammen. Die Studenten unterstützen die Abrüstung, stimmt, aber Marxisten sind keine Anarchisten. Sie glauben an das Klassen...«

  »Ich weiß, woran die verdammten Marxisten glauben«, unterbrach ihn Burgess. »Sie glauben an alles, was ihre Sache weiter bringt.«

  Banks gab auf. »Setzen Sie sich besser noch mal dran, Phil«, sagte er. »Vielleicht können Sie einen von ihnen mit einer extremeren Gruppierung oder mit früheren politischen Gewaltakten in Verbindung bringen. Ich bezweifle, dass Sie irgendetwas herausfinden werden, was die Branch nicht schon weiß, aber versuchen Sie es.«

  »Ja, Sir.«

  »Ich brauche noch einen Drink«, sagte Burgess.

  Sergeant Hatchley ging freiwillig zum Bestellen an die Theke. Das Queen's Arms war voll. Mittwochs fand in Eastvale der Bauernmarkt statt und die ganze Stadt war mit Käufern und Händlern bevölkert. Selbst wenn sie gewollt hätte, Glenys war zu beschäftigt, um mit Burgess Blicke auszutauschen.

  Burgess wandte sich an Banks. »Und was Osmond angeht, bin ich auch nicht zufrieden. Er ist ebenfalls aktenkundig, und ich habe das untrügliche Gefühl, dass er jedes Mal lügt, wenn ich mit ihm spreche.«

  Banks war der gleichen Meinung.

  »Wir werden noch einmal zu ihm gehen«, sagte Burgess. »Sie können mich wieder begleiten. Wer weiß, vielleicht ist seine Tussi auch wieder da. Wenn ich die Kleine ein bisschen in die Mangel nehme, wendet sich Osmond vielleicht Hilfe suchend an Sie und lässt etwas raus.«

  Banks griff nach einer Zigarette, um seine Wut zu verbergen. Das Letzte, worauf er Lust hatte, war, erneut Osmond und Jenny gemeinsam gegenüberzustehen. Doch irgendwo hatte Burgess ja Recht. Sie suchten nach einem Polizistenmörder und brauchten Ergebnisse. Mit jedem Tag, der verstrich, wurde der Aufschrei der Medien lauter.

  Als Constable Craig hereinkam und vor ihrem Tisch stehen blieb, schien er unsicher zu sein, an wen er sich wenden sollte. Nachdem er wie ein den Tennisball verfolgender Zuschauer erst Banks und dann Burgess anschaute, entschied er sich für Banks.

  »Wir haben gerade einen Anruf aus Relton erhalten, Sir. Ein Mann im Pub dort behauptet, er hätte ein Messer gefunden. Ich dachte nur ... Sie wissen schon ... es könnte das sein, wonach wir suchen.«

  »Worauf warten wir?« Burgess sprang so schnell auf, dass er gegen den Tisch stieß und den Rest seines Bieres verschüttete. Er zeigte auf Hatchley und Richmond. »Sie beide gehen zurück ins Revier und warten, bis Sie von uns hören.«

  Die beiden liefen zu Banks' weißem Cortina, der auf dem Parkplatz hinter dem Polizeirevier stand. Die Market Street und der Platz waren so bevölkert, dass Banks über Nebenstraßen zur Hauptstraße nach Swainsdale fuhr.

  Automatisch schob er eine Kassette in das Autoradio. »Was dagegen?«, fragte er Burgess und drehte die Lautstärke auf. »Hello Central« ertönte.

  »Nein. Das ist Lightning Hopkins, oder? Ich stehe selbst auf Blues. Billie Holiday neulich hat mir auch gut gefallen.« Er lehnte sich zurück und steckte sich mit dem Zigarettenanzünder eine Zigarre an. »Mein Vater ist im letzten Krieg mit einem Geschwader Yankees getürmt. Da ist er auf den Geschmack an Jazz und Blues gekommen. Das richtig gute Zeug konnte man hier damals natürlich kaum kriegen, aber nach dem Krieg blieb er mit den Yankees in Kontakt, und sie schickten ihm 78er-Platten. Ich bin mit dieser Musik aufgewachsen und sie scheint einfach haften geblieben zu sein.«

  Banks fuhr schnell, achtete aber auf Wanderer am Straßenrand. Selbst im März machten sich ganze Rudel mit Rucksäcken auf in die Berge. Als sie sich Fortford näherten, schaute Burgess hinaus auf die Flussauen. »Sehr hübsch«, sagte er. »Kein schlechter Platz, um sich zur Ruhe zu setzen, wenn hier nicht so ein Scheißwetter wäre.«

  In Fortford bogen sie scharf nach links ab, folgten der unbefestigten Nebenstraße den Talhang hinauf nach Relton und parkten vor dem Pub. Banks war bereits im Black Sheep gewesen, das Lokal war im ganzen Tal berühmt für das Bier, das der Wirt selbst braute. Das Black Sheep Bitter, das nirgendwo sonst ausgeschenkt wurde, hatte bei nationalen Wettbewerben schon Preise gewonnen.

  Auch wenn Banks beim Eintreten nicht als Erstes an Bier dachte, der Einladung des Wirtes zu einem Pint konnte er auf jeden Fall nicht widerstehen. Burgess lehnte das hausgebraute Bier ab und bestellte ein Pint Watney's.

  Banks wusste, dass es in dieser Gegend Schafhirten gab, aber es war ein so zurückgezogenes Völkchen, dass er noch nie ein Exemplar von ihnen zu Gesicht bekommen hatte. Bauern, die ihre eigenen Schafe hüteten, waren ein gewohntes Bild. In den südlichen Gemeinden Swainsdales jedoch hatten sich die Bauern zusammengetan und drei Schafhirten angestellt. Die meisten Schafe wurden auf den Farmen groß und streunten nicht weit herum. Aber nicht alle. In harten Wintern wurden viele Tiere von Schneeverwehungen begraben. Die Schafhirten kannten die Heidemoore, jede Schlucht und jedes Erdloch besser als alle anderen. Außerdem konnten sie die einzelnen Schafe genauso voneinander unterscheiden wie Menschen.

  Jack Crockers Gesicht hatte mehr Falten als der Rock mancher Frau und die Haut sah aus wie das gegerbte Leder einer Handtasche. Seine Nase war ein verunstalteter Klumpen und seine Augen lagen so tief, dass sie aussahen, als wären sie gegen den Wind ständig zusammengekniffen. Eine Wollmütze und ein alter, flatternder Mantel rundeten sein Erscheinungsbild ab. Sein Hirtenstab, ein langer Haselnussschaft mit einem Metallhaken, lehnte gegen die Wand.

  »Himmel«, hörte Banks Burgess hinter sich murmeln. »Ein verdammter Schafhirte.«

  »Da sage ich nicht nein«, meinte Crocker und nahm die Einladung zu einem Bier an. »Ich hab nur gerad ein paar Mutterschafe zum Lammen eingefangen, da bin ich auf dieses Messer getreten.« Er legte das Messer auf den Tisch. Es war ein Klappmesser mit fünfzehn Zentimeter langer Klinge und einem abgegriffenen Knochenknauf. »Ich habe es nicht berührt«, fuhr er fort und legte einen überraschend gepflegten und schlanken Zeigefinger auf den Nasenflügel. »Das habe ich schon mal im Fernsehen mitbekommen.«

  »Wie haben Sie es aufgehoben?«, wollte Burgess wissen. Banks fiel auf, dass seine Stimme einen respektvollen und nicht wie gewöhnlich herrischen Tonfall hatte. Vielleicht hatte er eine Schwäche für Schafhirten.

  »So.« Crocker hielt das Ende des Griffes zwischen Daumen und Zeigefinger. Er hatte wirklich schöne Hände, bemerkte Banks, Hände, die man sich bei einem Konzertpianisten vorstellen würde.

  Burgess nickte und nahm einen Schluck von seinem Watney's. »Gut. Das haben Sie richtig gemacht, Mr. Crocker.«

  Banks nahm einen Umschlag aus seiner Tasche, ließ das Messer hineinfallen und versiegelte ihn.

  »Ist es denn das richtige? Das, mit dem dieser Bobby umgebracht wurde?«

  »Können wir noch nicht sagen«, erklärte Banks. »Wir müssen es erst untersuchen lassen. Aber wenn es das richtige ist, dann haben Sie uns einen großen Dienst erwiesen.«

  »Keine Ursache. Ich habe ja nicht extra danach gesucht«, Crocker schaute verlegen weg und hob sein Glas an die Lippen. Banks bot ihm eine Zigarette an.

  »Danke, mein Junge«, sagte er. »Aber in meinem Job braucht man so viel Luft, wie man nur kriegen kann.«

  »Wo haben Sie das Messer gefunden?«, fragte Burgess.

  »Oben in der Heide. Am Weg nach Eastvale.«

  »Können Sie uns die Stelle zeigen?«

  »Klar.« Crocker lächelte schüchtern. »Aber es ist ein ganzes Stück. Und mit dem Auto kommt man da nicht hin.«

  Burgess schaute Banks an. »Tja«, sagte er. »Das ist Ihre Heimat. Sie sind der Naturbursche. Warum gehen Sie nicht mit Mr. Crocker da hoch, während ich im Revier anrufe und mir einen Wagen schicken lasse?«

  Genau, dachte Banks, und dann trinkst du noch ein Pint Watney's und wärmst dir vor dem Kamin die Hände.

  Banks nickte. »Wenn ich Sie wäre, würde ich das Messer direkt ins Labor bringen«, sagte er. »Auf normalem Weg kann es Tage dauern, bis die Tests fertig sind. Fragen Sie nach Vic Manson. Wenn er einen Moment Zeit hat, dann wird er es gleich nach Fingerabdrücken untersuchen und einen der Jungs überreden, mögliche Blutspuren auf die Blutgruppe zu überprüfen. Es war Wind und Wetter schon ein Weilchen ausgesetzt, aber vielleicht kann man trotzdem noch was finden.«

  »Klingt gut«, sagte Burgess. »Wo ist das Labor?«

  »Kurz vor Wetherby. Der Fahrer kann Sie direkt hinbringen.«

  Während Burgess zum Telefon ging, tranken Banks und Crocker ihre Pints Black Sheep Bitter aus und machten sich auf den Weg.

  Am östlichen Ende der Mortsett Lane kletterten sie über einen Zaunübertritt und gingen weiter über die offene Heidelandschaft. Das mit Moosflechten und Heidekrautbüscheln durchzogene Gras machte Banks das Gehen nicht leicht. Crocker, immer voraus, schien wie ein Luftkissenboot darüber zu schweben. Je höher sie kamen, desto rauer und stärker wurde der Wind.

  Zudem war Banks für so eine Wanderung nicht vernünftig gekleidet. Seine Schuhe waren bald schlammig und nass. Wenigstens hatte er seine warme, mit Schaffell gefütterte Jacke an. Der Anstieg war nicht besonders steil, schien aber nicht aufhören zu wollen, sodass Banks bald außer Atem war. Trotz des kalten Windes, der ihm ins Gesicht blies, begann er zu schwitzen.

  Schließlich gelangten sie auf das ebene, hochgelegene Heidemoor. Crocker hielt an und wartete mit einem Lächeln, bis Banks zu ihm aufschloss.

  »Herrgott noch mal, Junge, was machen Sie denn, wenn Sie hinter einem Gangster herjagen müssen?«

  »Das kommt glücklicherweise nicht so oft vor«, keuchte Banks.

  »Na gut. Hier habe ich auf jeden Fall das Messer gefunden. Genau hier im Gras.« Er deutete mit seinem Hirtenstab auf den Boden. Banks beugte sich hinab und stocherte in den Grassoden herum. Nichts deutete mehr darauf hin, dass das Messer hier gelegen hatte.

  »Sieht so aus, als ob es einfach hier hingeworfen wurde«, sagte er.

  Crocker nickte. »Es wäre kein Problem gewesen, es zu verstecken«, sagte er. »Hier sind eine Menge Felsen, unter die man es legen könnte. Er hätte es auch vergraben können.«

  »Hat er aber nicht. Wer immer es war, muss also in Panik gewesen sein und es einfach weggeworfen haben.«

  »Das müssen Sie wissen.«

  Banks schaute sich um. Die Stelle lag ungefähr drei Kilometer von Eastvale entfernt. Unten in der Talsohle, wo der Ort lag, waren in der Entfernung gerade noch die gezackten Burgzinnen sichtbar. In der anderen Richtung, ebenfalls ungefähr drei Kilometer entfernt, konnte er das Haus und die Nebengebäude von Maggie's Farm erkennen.

  Es hatte den Anschein, dass das Messer ungefähr auf der Hälfte der Strecke zwischen Eastvale und der Farm in die wilde Heidelandschaft geworfen worden war. Wenn jemand von der Farm einer Verhaftung oder Verletzung während der Demo entgangen war, dann wäre dies die natürliche Richtung gewesen, um nach Hause zu laufen. Da Rick und Seth verhaftet und durchsucht worden waren, konnte es sich nur um Paul oder Zoe handeln. Oder um die andere Frau, Mara, die dann mit ihrer Aussage, den ganzen Abend zu Hause gewesen zu sein, gelogen hätte.

  Andererseits konnte in den letzten paar Tagen jeder hier hochgekommen sein, um das Messer wegzuwerfen. Doch da dies eine einfallslose Methode der Beseitigung und eher eine spontane denn eine geplante Handlung war, erschien diese Möglichkeit wesentlich unwahrscheinlicher. Auf jeden Fall fiel Banks' Theorie, dass ein anderer Polizist den Mord begangen haben könnte, dadurch wie ein Kartenhaus zusammen. Erneut schien alles auf Maggie's Farm hinzudeuten.

  Banks zog den Schaffellkragen eng um seinen Hals und kniff die Augen zusammen, um die Tränen, die der Wind hervorpresste, zu unterdrücken. Kein Wunder, dass Crockers Augen so tief lagen, dass sie fast geschlossen schienen. Hier oben gab es nichts mehr zu tun, entschied er. Er würde die Stelle nur noch irgendwie markieren müssen.

  »Würden Sie die genaue Stelle wiederfinden?«, fragte er.

  »'türlich«, antwortete der Schafhirte.

  Banks hatte keine Ahnung, wie er das anstellen wollte. Die Stelle unterschied sich in nichts vom Rest der Heidelandschaft. Aber es war ja Crockers Job, mit jedem Quadratzentimeter seines Gebietes vertraut zu sein.

  Er nickte. »Gut. Wir werden wohl ein paar Leute hier hochbringen müssen, um die Gegend gründlicher abzusuchen. Wo kann ich Sie erreichen?«

  »Ich wohne in Mortsett.« Crocker gab ihm seine Adresse.

  »Kommen Sie wieder mit runter?«

  »Nee. Ich muss noch mehr Mutterschafe einfangen. Sie lammen gerade, wissen Sie.«

  »Na gut, danke jedenfalls, dass Sie sich die Zeit genommen haben.«

  Crocker nickte knapp und marschierte weiter den Hang hinauf, genauso so schnell und mühelos, als wäre er in der Ebene. Wenigstens, dachte Banks, als er sich umdrehte, würde der Abstieg einfacher werden. Aber kaum hatte er diesen Gedanken vollendet, blieb er mit seinem Fuß in einem Heidekrautbüschel hängen und fiel mit dem Gesicht nach vorne zu Boden. Er fluchte, bürstete sich mit der Hand ab und ging weiter. Glücklicherweise war Crocker in die entgegengesetzte Richtung gegangen und hatte seinen kleinen Unfall nicht gesehen. Sonst wäre er am Abend wohl zum Gespött des ganzen Tales geworden.

  Ohne weitere Vorfälle gelangte er wieder zum Zaunübertritt; er kehrte auf ein schnelles Bier und um sich aufzuwärmen kurz im Black Sheep ein. Jetzt konnte er nur noch darauf warten, dass Burgess aus dem Labor zurückkam. Selbst dies bedeutete noch nicht, dass zwangsläufig Resultate zu erwarten waren. Doch auf einer glatten Oberfläche konnte ein hübscher Satz schwitziger Fingerabdrücke die schlechtesten Wetterbedingungen überstehen, und Banks meinte zudem, ein paar Spritzer getrockneten Blutes im Schlitz zwischen Klinge und Griff gesehen zu haben.