Das Windspiel klapperte, und der Regen prasselte auf das wilde Heidegras. Mara Delacey hatte gerade die Kinder zu Bett gebracht und ihnen aus den Geschichten des Eichhörnchens Nutkin von Beatrix Potter vorgelesen. Jetzt konnte sie sich entspannen, konnte die Ruhe und Einsamkeit genießen, das Zusammenspiel der Stille und der Geräusche der Natur. Es erinnerte sie an frühere Zeiten, als sie noch nach ihrem Mantra meditierte.
Wie immer war es ein anstrengender Tag gewesen: Wäsche waschen, das Essen kochen, auf die Kinder aufpassen. Dazwischen hatte sie noch ein paar Stunden Zeit gefunden, im Hinterraum von Elsbeths Kunstgewerbeladen zu töpfern. Wenn es ihr Lebensschicksal war, eine Erdenmutter zu sein, dachte sie mit einem Lächeln, dann war es besser, dies hier zu sein, weit entfernt von den strengen Regeln und der selbstgerechten Spiritualität des Ashrams, wo sie nach dem Essen nicht einmal eine Zigarette rauchen durfte. Sie war froh, diesen ganzen Mist hinter sich gelassen zu haben.
Jetzt hatte sie wenigstens etwas Zeit ganz für sich, ohne immer das Gefühl zu haben, sie müsste unter die Leute, um sie zu bekehren oder Lobeshymnen auf ihren Guru zu singen. Seit er wegen Betrugs und Steuerhinterziehung im Gefängnis saß, taten das sowieso nicht mehr viele. Seine Anhänger waren in alle Winde verstreut: Manche, einsam und verlassen, waren losgezogen, um sich neue Führer zu suchen; andere, wie Mara, hatten sich anderen Lebensinhalten zugewandt.
Seth Cotton hatte sie ein Jahr, nachdem er einen Hof in der Nähe von Relton gekauft hatte, kennen gelernt. In dem Moment, in dem er ihr den Hof, den er Maggie's Farm getauft hatte, das erste Mal zeigte, wusste sie, dass er ihr Zuhause werden musste. Es war ein typisches Bauernhaus der Dales aus dem achtzehnten Jahrhundert, der inmitten einiger Morgen Land in der Heide über dem Tal lag. Die Mauern waren aus Kalkstein errichtet, die Ecken mit Sandstein verkleidet und das Dach war mit Steinschindeln bedeckt. Nischenfenster gingen nach Norden über das Tal, und in die schweren, von Mauerwerk gestützten Türbalken waren die Initialen T.J.H., die für den ursprünglichen Besitzer standen, sowie die Jahreszahl 1765 geritzt. Der einzige Zusatz außer Seths Werkstatt, ein Schuppen am hinteren Ende des Gartens, war ein Kalksteinvorbau mit einem Schieferdach. Jenseits des hinteren Gartenzaunes, ungefähr fünfzig Meter östlich des Haupthauses, stand eine alte Scheune, die Seth gerade renovierte, als sie ihn kennen lernte. Er hatte sie in ein oberes Studioapartment, in dem der Künstler Rick Trelawney mit seinem Sohn lebte, und eine Einzimmerwohnung im Erdgeschoss aufgeteilt, die von Zoe Hardacre und ihrer Tochter bewohnt wurde. Paul, ihr neuester Mieter, hatte ein Zimmer im Haupthaus.
Obwohl die Einrichtung der Scheune moderner war, bevorzugte Mara das Bauernhaus. Die Eingangstür führte direkt in das geräumige Wohnzimmer, einen sauberen und gepflegten Ort, der mit allem möglichen Krimskrams eingerichtet war: Einem Perserimitat, einem neu gepolsterten Sofa aus den fünfziger Jahren sowie einem großen Tisch und vier Stühlen aus weißer Kiefer, die Seth eigenhändig getischlert hatte. Große Kissen aus grobem Stoff lehnten der Gemütlichkeit halber an den Wänden.
An der Wand gegenüber dem Steinkamin hing ein riesiger Wandteppich mit einer chinesischen Landschaft. Gewaltige Berge waren darauf zu sehen, deren schneebedeckte Gipfel über den Kiefernwäldern nadelscharf in den Himmel ragten. Auf halber Höhe bewegten sich vereinzelte Grüppchen von Menschen einen gewundenen Pfad hinauf. Mara schaute sich das Bild häufig an. In dem Zimmer gab es kein Deckenlicht. Die Stehlampen stellte sie nur schwach ein und ergänzte sie mit dicken roten Kerzen, denn sie mochte die Schatten, die die Flammen auf den Wandteppich und die weiß getünchten Steinwände warfen. Sie kuschelte sich mit Vorliebe in einen alten Schaukelstuhl in der Nähe des Fensters, den Seth restauriert hatte. Von dort konnte sie deutlich das Windspiel hören, während sie Wein trank und las.
Früher hatte sie Kerouac, Burroughs, Ginsberg, Carlos Castaneda und all die anderen verschlungen, doch mit achtunddreißig fand sie deren Werke peinlich pubertär. Mittlerweile bevorzugte sie wieder die Klassiker, an die sie sich aus ihrem Studium erinnerte. Diese langatmigen, viktorianischen Romane hatten etwas an sich, was zu einem so einsamen und ruhigen Ort wie Maggie's Farm passte.
Jetzt wollte sie sich hinsetzen und in Die Mühle am Floß versinken. Eine selbst gedrehte Old Holborn und ein Glas Barsac würden es noch gemütlicher machen. Und vielleicht etwas Musik. Sie ging zur Stereoanlage, wählte Holsts The Planets aus, die Seite mit »Saturn«, »Uranus« und »Neptun«, machte es sich dann im Schaukelstuhl bequem, um im Kerzenlicht zu lesen. Die anderen waren alle auf der Demo, und bestimmt würden sie auf dem Rückweg auf ein oder zwei Bier im Black Sheep in Relton Halt machen. Die Kinder schliefen oben im Gästezimmer, also musste sie nicht rüber zur Scheune hasten, um nach ihnen zu sehen. Es war jetzt halb zehn. Sie würde wohl noch ein paar Stunden für sich haben.
Aber sie schien sich nicht konzentrieren zu können. Das Prasseln draußen hörte auf. Es wurde abgelöst von dem gleichmäßigen Tropfen des Regens aus den Dachrinnen, vom Vorbau und den Bäumen, die Maggie's Farm vor den strengen Westwinden schützten. Das Windspiel klang nun wie Warnglocken. Irgendetwas lag in der Luft. Wenn Zoe zu Hause wäre, hätte sie sicherlich wieder mit ihren Geschichten von übersinnlichen Kräften angefangen - wahrscheinlich lag es am Mond.
Mara schüttelte mit einem Achselzucken ihr Unbehagen ab und widmete sich wieder ihrem Buch. »Und dies ist die Mühle von Dorlcote. Ich muss eine oder zwei Minuten hier auf der Brücke verharren und sie anschauen, auch wenn die Wolken bedrohlich wirken und es schon spät am Nachmittag ist...« Es ging nicht, sie war nicht in der richtigen Stimmung. George Eliots Zauber wirkte heute Abend einfach nicht. Mara legte das Buch nieder und konzentrierte sich auf die Musik.
Als gegen Ende von »Neptun« der entrückte Chor einsetzte, öffnete sich die Eingangstür mit einem Knarren und Paul hetzte herein. Seine Armeejacke war dunkel vom Regen und die enge Jeans klebte ihm an den spindeldürren Beinen.
Mara runzelte die Stirn. »Du bist früh zurück«, sagte sie. »Wo sind die anderen?«
»Keine Ahnung.« Paul war außer Atem, seine Stimme klang zittrig. Er zog seine Jacke aus und hängte sie an den Haken an der Tür. »Ich bin ganz allein über die Heide zurückgerannt.«
»Aber das sind mehr als sechs Kilometer. Was ist los, Paul? Warum hast du nicht auf Seth und die anderen gewartet? Du hättest im Wagen mitfahren können.«
»Es hat Ärger gegeben«, sagte Paul. »Die Sache ist völlig aus dem Ruder gelaufen.« Er nahm eine Zigarette aus seiner Schachtel Players und zündete sie an. Er hielt sie in der hohlen Hand, wie Soldaten es in alten Kriegsfilmen tun. Seine Hände zitterten. Mara fiel wieder auf, wie kurz und dick seine Finger waren. Die Nägel waren bis aufs Fleisch abgekaut. Sie drehte sich eine neue Zigarette. Paul begann, im Zimmer auf und ab zu laufen.
»Was ist denn das?«, fragte Mara und zeigte erschrocken auf eine wunde Stelle am Knöchel seines linken Daumens. »Das sieht wie Blut aus. Du hast dich verletzt.«
»Das ist nichts.«
Mara streckte ihre Hand aus, aber er zog seine zurück.
»Warte, ich hol dir ein Pflaster.«
»Ich hab doch gesagt, es ist nichts. Ich kümmere mich später darum. Willst du gar nicht wissen, was passiert ist?«
Mara wusste, dass es nichts brachte, wenn sie darauf bestand, ihn erst zu verarzten. »Okay, dann setz dich hin«, sagte sie. »Es macht mich ganz verrückt, wenn du ständig auf und ab läufst.«
Paul ließ sich auf die Kissen an der Wand fallen, wobei er darauf achtete, seine blutige Hand zu verbergen.
»Und?«, sagte Mara.
»Die Polizei ist auf uns losgegangen, das ist passiert. Verdammte Arschlöcher.«
»Warum?«
»Sie haben uns einfach fertig gemacht, das ist alles. Frag mich nicht, warum. Keine Ahnung, was im Kopf eines Bullen vor sich geht. Kann ich ein bisschen Wein haben?«
Mara schenkte ihm ein Glas Barsac ein. Er nahm einen Schluck und verzog das Gesicht.
»Tut mir Leid«, sagte sie. »Ich habe vergessen, dass du das süße Zeug nicht magst. Im Kühlschrank ist noch Bier.«
»Super.« Paul zog sich hoch und ging in die Küche. Als er zurückkam, hatte er eine Dose Carlsberg in der Hand. Auf seinem Daumen klebte ein Pflaster.
»Was ist mit den anderen?«, wollte Mara wissen.
»Keine Ahnung. Eine Menge Leute sind verhaftet worden. Die Polizei ist einfach in die Menge gestürmt und hat die Leute nach allen Seiten rausgezogen. Viele sind auch im Krankenhaus.«
»Wart ihr nicht alle zusammen?«
»Am Anfang schon, ganz vorne, aber als der Kampf losging, wurden wir getrennt. Ich bin irgendwie an ein paar Bullen vorbeigeschlichen und in einer Gasse verschwunden. Dann bin ich durch Seitenstraßen und über die Heide bis hierher gerannt. Ich bin völlig kaputt.« Je aufgeregter er wurde, desto mehr kam sein Liverpooler Akzent durch.
»Also sind die Leute davongekommen?«
»Manche, ja. Aber ich weiß nicht, wie viele. Ich bin nicht dageblieben, um auf die anderen zu warten. Jeder musste an sich selbst denken, Mara. Als ich Rick das letzte Mal sah, versuchte er, auf den Marktplatz zu kommen. Zoe konnte ich nicht sehen. Du weißt ja, wie klein sie ist. Es war ein richtiges Massaker. Sie fuhren plötzlich alles auf, von Wasserwerfern bis Gummigeschossen. Ich habe schon einigen Ärger erlebt, aber mit so was hätte ich nie gerechnet, nicht in Eastvale.«
»Was ist mit Seth?«
»Tut mir Leid, Mara. Ich habe keine Ahnung, was aus ihm geworden ist. Aber mach dir keine Sorgen, es wird ihnen schon gut gehen.«
»Ja.« Mara drehte sich weg und schaute aus dem Fenster. Sie konnte ihr Spiegelbild auf der dunklen, vom Regen verschmierten Scheibe sehen. Es sah aus, als würde aus ihrer rechten Schulter eine Kerzenflamme brennen.
»Vielleicht sind sie davongekommen«, setzte Paul hinzu. »Vielleicht sind sie gerade jetzt auf dem Rückweg.«
Mara nickte. »Vielleicht.«
Aber sie wusste, dass es Ärger geben würde. Bald würde die Polizei da sein, herumschnüffeln und alle tyrannisieren, genau wie damals, als Seths alte Freundin Liz aus dem Irrenhaus weggelaufen war und sich für ein paar Tage bei ihnen versteckt hatte. Da Liz früher drogenabhängig gewesen war, suchte die Polizei damals nach Heroin. Aber soweit sich Mara erinnern konnte, hatten sie in der gesamten Wohnung nur eine riesige Unordnung angerichtet. Ihr gefiel eine solche Störung ihres Lebens nicht und sie wollte das nicht noch einmal durchmachen.
Sie griff nach der Weinflasche, aber noch bevor sie sich ein neues Glas einschenken konnte, sprang die Eingangstür erneut auf.
Als Banks die Treppen hinabging, war die Lage entschieden ruhiger geworden. Richmond hatte den uniformierten Beamten geholfen, alle Verhafteten in den Keller zu führen, bis sie verhört, angeklagt und freigelassen werden konnten. Das Revier von Eastvale hatte nicht viele Zellen, aber dort unten gab es eine Menge unbenutzten Lagerraum.
Auch Sergeant Hatchley war eingetroffen. Strohblond und einen Kopf größer als die anderen, sah er wie ein abgehalfterter Rugbystürmer aus. Er lehnte am Tresen beim Eingang und machte ein verblüfftes und verärgertes Gesicht, als Richmond ihm erzählte, was vorgefallen war.
Banks ging zu ihnen. »Ist der Superintendent schon hier?«
»Auf dem Weg, Sir«, entgegnete Richmond.
»Würden Sie alle zusammentrommeln, solange wir warten?«, fragte Banks. »Ein paar Dinge möchte ich gleich bekannt geben.«
Richmond ging in das Großraumbüro, die Domäne der uniformierten Polizei von Eastvale, und sammelte jeden ein, den er finden konnte. Die Männer und Frauen saßen auf den Schreibtischen oder lehnten sich gegen die Trennwände und warteten auf Anweisungen. Einige von ihnen wiesen noch Spuren der vergangenen Schlacht auf: ein geschwollener Wangenknochen, zerrissene Uniformen, ein blaues Auge, gebrochene Nasenbeine.
»Weiß jemand, wie viel genau wir verhaftet haben?«, fragte Banks als Erstes.
»Sechsunddreißig, Sir.« Es hatte ein Constable mit aufgeschlagener Lippe geantwortet, dem an der Uniformjacke der oberste Knopf fehlte. »Und ich habe gehört, dass im Krankenhaus zehn weitere sind.«
»Irgendwelche ernsthaften Verletzungen?«
»Nein, Sir. Außer, nun ja, außer Constable Gill.«
»Ja. Wenn also ungefähr hundert Leute auf der Demo waren, stehen die Chancen fast fünfzig zu fünfzig, dass wir den Mörder bereits haben. Zuerst möchte ich, dass jeder durchsucht und nach Gills Blutspuren untersucht wird und dass von jedem Fingerabdrücke genommen werden. Constable Reynolds, würden Sie als Verbindungsmann zum Krankenhaus fungieren?«
»In Ordnung, Sir.«
»Dort wird genauso verfahren. Bitten Sie den Doktor, die zehn Patienten nach Blutspuren zu untersuchen. Als Nächstes müssen wir die Tatwaffe finden. Alles, was wir bisher wissen, ist, dass Gill erstochen wurde. Wir wissen nicht, welche Art Messer benutzt wurde, also ist jeder Gegenstand mit einer Klinge verdächtig, vom Küchenmesser bis zum Stilett. Aus York sind zusätzliche Leute unterwegs, aber ich möchte, dass ein paar von Ihnen die Straße sofort gründlich absuchen. Das schließt auch einen sorgfältigen Blick in die Gullys mit ein. So weit alles klar?«
Jemand brummte: »Ja, Sir.« Andere nickten.
»Okay. Jetzt kommen wir zum schwierigen Teil. Wir brauchen eine Liste der Namen. Von jedem, den wir haben, sowie jeden anderen, den wir aus ihnen herauskriegen. Denken Sie daran, ungefähr sechzig Leute sind davongekommen, und wir müssen wissen, wer sie sind. Wenn jemand von Ihnen sich daran erinnern kann, ein bekanntes Gesicht gesehen zu haben, jemanden, der weder hier noch im Krankenhaus ist, dann notieren Sie das. Ich nehme an, dass die Leute, die wir verhören, ihre Freunde nicht verraten wollen, aber bearbeiten Sie sie ein bisschen, versuchen Sie Ihr Bestes. Lassen Sie sich auf keine Ausflüchte ein. Nutzen Sie jeden Kniff, den Sie drauf haben. Wir wollen auch wissen, wer die Organisatoren waren und welche Gruppierungen vertreten waren.
Ich möchte von allen eine Aussage, selbst wenn sie nichts zu sagen haben. Wir werden die Verhöre getrennt abhalten, also legen Sie sich ins Zeug. Halten Sie sich an den Mord, fragen Sie nach jeder Person mit einem Messer. Finden Sie heraus, ob wir irgendwelche aktenkundigen Unruhestifter in den Zellen haben. Sehen Sie sich die Akten an, vielleicht bringen uns die weiter. Wenn Sie glauben, dass jemand lügt oder ausweichend reagiert, setzen Sie ihn mächtig unter Druck, machen Sie dann neben der Aussage einen Vermerk zu Ihren Vorbehalten. Mir ist klar, dass wir von Papierkram überschwemmt werden, aber es geht nicht anders. Irgendwelche Fragen?«
Niemand sagte ein Wort.
»Gut. Noch etwas: Wir brauchen auch die Aussagen aller Zeugen, nicht nur der Demonstranten. In den Wohnungen, von denen aus man in die Straße sehen kann, muss jemand die Sache beobachtet haben. Gehen Sie von Haus zu Haus. Und zerbrechen Sie sich Ihren eigenen Kopf. Sie wissen, dass es eine offizielle Untersuchung zu der Frage geben wird, warum das alles überhaupt passieren konnte. Deshalb sollte jeder von Ihnen, der dabei war, gleich eine Aussage machen, solange die Vorgänge noch frisch im Gedächtnis sind. Ich möchte, dass alle Aussagen morgen in aller Frühe getippt auf Superintendent Gristhorpes Schreibtisch liegen.«
Banks schaute auf seine Uhr. »Jetzt ist es halb zehn. Wir legen besser gleich los. Habe ich irgendwas übersehen?«
Einige Beamte schüttelten den Kopf, andere standen schweigend da. Schließlich hob eine Polizistin ihre Hand. »Was machen wir mit den Leuten, Sir, nachdem wir alle Aussagen haben?«
»Verfahren Sie wie gewöhnlich«, sagte Banks. »Stellen Sie nur die Anklage und lassen Sie sie gehen, wenn Sie keinen Grund haben zu glauben, sie haben was mit Gills Tod zu tun. Sie werden so schnell wie möglich vor Gericht geladen. Ist das alles?« Er hielt inne, aber niemand sagte etwas. »Gut. Dann los. Ich will von jeder Spur wissen, sobald sie sich ergibt. Mit ein bisschen Glück können wir das bis morgen früh abgewickelt haben. Und würde jemand ein paar von den Verhafteten hochbringen? Sobald der Superintendent eingetroffen ist, werden drei von uns oben verhören.« Er wandte sich an Richmond. »Wir brauchen Sie am Computer, Phil. Es werden ein Menge Akten kontrolliert werden müssen.«
»Der Superintendent ist jetzt hier, Sir.« Constable Telford zeigte zur Tür, die außerhalb von Banks' Sichtfeld lag.
Superintendent Gristhorpe, ein massiger Mann Ende fünfzig mit buschigen, grauen Haaren und Augenbrauen, rotem, pockennarbigem Gesicht und borstigem Schnurrbart ging zur Treppe, wo die drei Kriminalbeamten standen. Sein Blick, normalerweise arglos wie der eines Babys, war von Sorgen getrübt. Dennoch erzeugte seine Anwesenheit eine Aura der Ruhe und gelassenen Besonnenheit.
»Bist du im Bilde?«, fragte Banks.
»Ja«, sagte Gristhorpe. »Ich kenne noch nicht alle Einzelheiten, aber es reicht. Lass uns hochgehen, dann kannst du mir bei einer Tasse Kaffee alles erzählen.« Er legte behutsam eine Hand auf Banks Arm.
Banks wandte sich an Sergeant Hatchley. »Sie können schon mal mit den Verhören anfangen«, sagte er. »Wenn ich den Superintendent informiert habe, werden wir Ihnen sofort helfen.« Dann trotteten die vier Kriminalbeamten nach oben. Constable Telford schob ein Paar nasser, verängstigter Demonstranten hinter ihnen die Treppe hoch.
»Zoe! Gott sei Dank ist dir nichts passiert!«
Paul und Mara starrten auf die zierliche Gestalt in dem glitzernden roten Anorak. Ihr kupferrotes Haar war klatschnass, sodass man die dunklen Wurzeln sehen konnte. Regen tropfte auf die Strohmatte vor der Türschwelle. Sie schlüpfte aus ihrer Jacke, hängte sie neben die von Paul und ging auf die beiden zu, um sie zu umarmen.
»Hast du ihr erzählt, was passiert ist?«, fragte sie Paul.
»Ja.«
Zoe schaute Mara an. »Wie war es mit Luna?«
»Problemlos. Sie ist eingeschlafen, als das Eichhörnchen Nutkin Mr. Brown mit einer Nessel zu kitzeln begann.«
Ein kurzes Lächeln huschte über Zoes Gesicht. Sie ging zum Bücherregal hinüber. »Ich habe heute Morgen ein I Ching gelegt«, sagte sie, »und es kam >Konflikt< heraus. Ich hätte wissen sollen, was passieren wird.« Sie schlug das Buch auf und las daraus vor: »»Konflikt. Du bist offen und du bist blockiert. Ein sicherer Halt auf halbem Weg bringt Glück. Bis zum Ende zu gehen bringt Unglück. Es bringt einen dazu, den großen Mann zu erkennen. Es bringt einen nicht dazu, das große Wasser zu überqueren.««
»Man darf das nicht so wörtlich nehmen«, sagte Mara. »Das ist das Problem. Es sagt dir nicht, was passieren wird oder wie es passieren wird.« Obwohl sie selbst sehr an I Ching und Tarot interessiert war, dachte Mara oft, dass Zoe zu weit ging.
»Für mich ist es ganz eindeutig. Ich hätte wissen müssen, dass so etwas passieren würde: >Bis zum Ende zu gehen bringt Unglück.« Genauer kann man es gar nicht gesagt bekommen.«
»Was wäre gewesen, wenn du es gewusst hättest?«, meinte Paul. »Du hättest die Demo nicht absagen können, oder? Du wärst trotzdem hingegangen. Alles wäre genauso abgelaufen.«
»Ja«, murmelte Zoe, »aber ich wäre darauf vorbereitet gewesen.«
»Wie denn?«, fragte Mara. »Meinst du, du hättest bewaffnet sein sollen oder so?«
Zoe seufzte. »Weiß ich nicht. Ich wäre einfach darauf vorbereitet gewesen.«
»Hinterher kann man das leicht sagen«, meinte Paul.
»Die Wahrheit ist, dass niemand die leiseste Ahnung hatte, dass die Demo so schlimm werden würde, und dass niemand irgendetwas dagegen tun konnte. Eine Menge Leute waren dran beteiligt, Zoe, und wenn jeder heute Morgen dieses I Ching gemacht hätte, dann hätte jeder eine andere Antwort erhalten. Das ist nichts als Scharlatanerie, wenn du mich fragst.«
»Setz dich hin«, sagte Mara. »Trink ein Glas Wein. Hast du gesehen, was mit den anderen passiert ist?«
»Ich bin nicht sicher.« Zoe setzte sich im Schneidersitz auf den Teppich und nahm Pauls Glas. »Ich glaube, Rick wurde verhaftet. Ich habe gesehen, wie er am Rande der Menge mit ein paar Polizisten kämpfte.«
»Und Seth?«
»Ich weiß es nicht. Ich konnte nichts sehen.« Zoe lächelte traurig. »Die meisten Leute sind größer als ich. Ich habe nur Schultern und Nacken gesehen. Weil ich so klein bin, konnte ich mich auch davonmachen. Und wegen des Regens. Ein Bulle packte meine Kapuze, aber sie war so nass, dass seine Hand abrutschte. Mein Sternzeichen ist Fisch, ich bin ein glitschiger Fisch.« Sie hielt inne und nippte an dem Barsac. »Was werden sie wohl mit denen machen, die sie verhaftet haben, Mara?«
Mara zuckte mit den Achseln. »Ich könnte mir vorstellen, dass sie eine Anzeige kriegen und dann gehen können. So läuft das normalerweise. Dann entscheidet das Gericht, zu welcher Geldstrafe sie verurteilt werden oder ob sie ins Gefängnis müssen. Meistens müssen sie nur eine Geldstrafe bezahlen oder werden auf Kaution freigelassen.«
Mara wünschte, so zuversichtlich zu sein, wie sie klang. Ihre Sorge lag nicht in der Botschaft begründet, die Zoe aus dem I Ching gezogen hatte, doch hatten die Worte des Orakels sie irgendwie bestärkt und ihrer Unruhe eine tiefere Glaubwürdigkeit gegeben: »Bis zum Ende zu gehen bringt Unglück. Es bringt einen dazu, den großen Mann zu sehen.« Wer war der große Mann?
»Sollten wir nicht etwas unternehmen?«, meinte Paul.
»Was denn?«
»Zum Polizeirevier zurückfahren und herausfinden, was passiert ist. Versuchen, die beiden da rauszuholen.«
Mara schüttelte den Kopf. »Wenn wir das tun, dann werden wir noch eingesperrt, wegen Behinderung der Justiz oder so was.«
»Ich fühle mich einfach nur so verdammt machtlos, so nutzlos, wenn ich nicht in der Lage bin, irgendetwas zu tun.« Paul ballte die Fäuste, und Mara konnte die Worte lesen, die krumm und schief genau unter seine Fingerknöchel tätowiert waren. Im Gegensatz zu der geläufigen Kombination, LOVE auf der einen Hand und HATE auf der anderen, stand bei ihm auf beiden Händen HATE. Der Anblick der ungeschickt tätowierten Großbuchstaben erinnerte Mara daran, wie hart und brutal Pauls Vergangenheit gewesen war und wie sehr er sich entwickelt hatte, seit sie ihn zu Beginn des letzten Winters auf dem Weg zur Kunstgewerbemesse in Wensleydale schlafend im Freien aufgelesen hatten.
»Wenn wir ein Telefon hätten, könnten wir wenigstens im Krankenhaus anrufen«, sagte Zoe. »Vielleicht sollte einer von uns nach Relton laufen und von dort anrufen.«
»Ich werde gehen«, sagte Mara. »Ihr beide habt heute Abend schon genug durchgemacht. Außerdem wird mir die Bewegung gut tun.«
Bevor einer der anderen anbieten konnte, an ihrer statt zu gehen, stand sie auf. Nach Relton, einem Dorf hoch oben am südlichen Hang von Swainsdale, war es kaum mehr als einen Kilometer, und der Spaziergang würde angenehm sein. Mara schaute aus dem Fenster. Es nieselte wieder leicht. Sie nahm ihr gelbes Fahrradcape und den dazu passenden Regenhut aus dem Schrank und öffnete die Tür. Als sie losging, war Paul auf dem Weg zum Kühlschrank, um sich ein zweites Bier zu holen, und Zoe widmete sich ihren Tarotkarten.
Zoe beunruhigte Mara manchmal. Nicht, dass sie keine gute Mutter war, aber sie schien zu leichtfertig zu sein. Sicherlich hatte sie nach Luna gefragt, aber sie hatte kein Bedürfnis, nach ihr zu schauen. Stattdessen hatte sie sich sofort ihren okkulten Hilfsmitteln zugewandt. Mara liebte beide Kinder abgöttisch: Die vierjährige Luna und den fünfjährigen Julian. Selbst Paul, der gerade dem Teenageralter entwachsen war, erschien ihr manchmal wie ein Sohn. Sie wusste, dass sie gerade deshalb eine solche Zuneigung zu ihnen verspürte, weil sie keine eigenen Kinder hatte. Viele ihrer alten Schulfreundinnen hatten wahrscheinlich schon Kinder in Pauls Alter. Welche Ironie, dachte sie, als sie auf den Pfad zuging - eine unfruchtbare Erdenmutter!
Der Regen war so spärlich, dass man kaum eine Regenjacke benötigte. Doch er verstärkte die Kälte, die in der Märzluft lag, und so war Mara froh um den Pullover, den sie unter ihrem Cape trug. Der gerade, schmale Weg, dem sie folgte, war Teil einer alten Römerstraße, die quer durch die Heide über dem Tal bis nach Fortford führte. Gerade breit genug für einen Wagen, war sie auf beiden Seiten mit Natursteinmauern eingefasst und mit Kies und Schottersteinen befestigt, die unter den Füßen knirschten. Am Fuße des Hanges konnte Mara die Lichter von Relton sehen. Hinter ihr schien die Kerze im Fenster. Maggie's Farm sah aus wie eine Arche, die auf dunkler See dahintrieb.
Sie schob ihre Hände durch die Schlitze des Capes, tief in die Taschen ihrer Cordhose, und marschierte den Weg entlang, von dem sie sich vorstellte, dass ihn schon ein antiker Römer gegangen war. Hinter den Wolken konnte sie den perlmuttfarbenen Schein des Halbmondes erkennen.
Die tiefe Stille ringsherum verstärkte die kleinen Geräusche - das Klacken der Kiesel, das rhythmische Knirschen des Schotters, das Scheuern ihrer Cordhose gegen das Cape - und Mara spürte, wie immer, wenn sie bergab ging, die Zerrung in ihrem schwachen linken Knie. Sie hob den Kopf, ließ die kühlen Regenfäden auf ihre geschlossenen Augenlider fallen und atmete die Luft ein, die nach nassem Hund roch. Als sie die Augen öffnete, sah sie vor dem dunkelgrauen Himmel die schwarze Masse entfernter Berge.
Am Ende des Weges bog Mara nach Relton ein. Der Wechsel vom Schotter zum glatten Asphalt der Mortsett Lane fühlte sich im ersten Moment seltsam an. Alle Geschäfte des Dorfes waren geschlossen. Hinter zugezogenen Gardinen flackerten Fernsehgeräte auf.
Nur um sicherzugehen, schaute Mara zuerst im Black Sheep vorbei, aber weder Seth noch Rick waren dort. In der Ecke der behaglichen Wirtschaft knisterte ein Holzfeuer, doch der Raum war fast leer. Larry Grafton, der Wirt, lächelte und sagte hallo. Wie viele Einheimische hatte er die Einwohner von Maggie's Farm mittlerweile akzeptiert. Wenigstens, so hatte er Mara einmal erzählt, waren sie nicht so wie diese Londoner Yuppies, die heutzutage jeden freien Grundbesitz in den Dales aufzukaufen schienen.
»Kann ich dir was bringen?«, rief Grafton.
»Nein, nein danke«, sagte Mara. »Wollte nur sehen, ob Seth da ist. Du hast ihn nicht zufällig gesehen, oder?«
Zwei alte Männer schauten von ihrem Dominospiel auf, und ein Trio junger Landarbeiter hielt in seinem Streit über Subventionen inne und schaute Mara mit heimlicher Neugier an.
»Nein, Mädchen«, sagte Grafton. »Seit Mittag waren sie nicht mehr hier. Sie sagten, sie wollten zu dieser Demonstration nach Eastvale.«
Mara nickte. »Stimmt. Es hat Ärger gegeben und sie sind noch nicht zurück. Ich dachte nur ...«
»Dann stimmt es also?«, fragte einer der Landarbeiter. »Tommy Exton kam vor einer halben Stunde vorbei und sagte, in der Market Street hätte es Ausschreitungen gegeben.«
Mara erzählte ihm das wenige, das sie wusste, und er schüttelte den Kopf. »Es lohnt sich nicht, in solche Sachen reingezogen zu werden. Am besten bleibt man zu Hause«, sagte er und widmete sich wieder seinem Bier.
Mara verließ das Black Sheep und ging zur öffentlichen Telefonzelle in der Mortsett Lane. Warum sie auf dem Hof kein Telefon installiert hatten, war ihr schleierhaft. Seth hatte einmal gesagt, er wollte so ein Ding nicht im Haus haben, hatte aber nie erklärt, warum. Jedes Mal, wenn er ein paar Telefonate zu erledigen hatte, ging er ohne zu murren runter ins Dorf. Wenigstens konnte man auf dem Lande normalerweise sicher sein, dass die Telefonzellen nicht Opfer von Vandalen geworden waren.
Eine Frau an der Aufnahme des Allgemeinen Krankenhauses von Eastvale nahm den Anruf entgegen und fragte, was sie wollte. Mara erklärte, dass sie gerne etwas über einen Freund erfahren wollte, der von der Demonstration nicht nach Hause zurückgekehrt war. »Einen Augenblick«, sagte die Frau, und das Telefon gab ein paar komische Geräusche von sich. Schließlich ertönte die Stimme eines Mannes.
»Kann ich Ihnen helfen, Miss?«
»Ja. Ich würde gerne wissen, ob Sie einen Patienten namens Seth Cotton oder einen namens Rick Trelawney haben.«
»Wie ist Ihr Name?«
»Das ... das möchte ich lieber nicht sagen«, entgegnete Mara, die plötzlich Angst hatte, dass sie sich mit der Nennung ihres Namens Ärger einhandeln würde.
»Sind Sie eine Verwandte?«
»Ich bin eine Freundin. Eine sehr enge Freundin.«
»Verstehe. Nun, wenn Sie sich nicht selbst ausweisen, Miss, kann ich Ihnen leider keine Informationen geben.«
»Hören Sie«, sagte Mara und wurde ärgerlich, »das ist doch lächerlich. Ich verlange ja nicht, dass Sie irgendein Schweigegelübde brechen oder so. Ich möchte nur wissen, ob meine Freunde da sind, und wenn, wie schwer sie verletzt sind. Wer sind Sie überhaupt?«
»Constable Parker, Miss. Wenn Sie irgendwelche Beschwerden haben, dann tragen Sie diese besser Detective Chief Inspector Banks von der Kriminalpolizei in Eastvale vor.«
»Detective Chief Inspector Banks? Kriminalpolizei?«, wiederholte Mara langsam. Sie erinnerte sich an den Namen. Er war derjenige, der zum Hof gekommen war, als Liz sich dort aufhielt. »Warum? Das verstehe ich nicht. Was geht da vor sich? Ich möchte nur wissen, ob meine Freunde verletzt sind.«
»Tut mir Leid, Miss. Befehl von oben. Sagen Sie mir Ihren Namen, und ich werde sehen, was ich tun kann.«
Mara hängte ein. Da stimmte etwas ganz und gar nicht. Sie hatte bereits genug Schaden angerichtet, indem sie Seth und Rick erwähnt hatte. Die Polizei würde sich nun bestimmt die Namen der beiden besonders merken und sie noch härter behandeln als den Rest. Sie konnte nichts weiter tun, als zu warten und sich Sorgen zu machen. Stirnrunzelnd öffnete sie die Tür und trat wieder hinaus in den Regen.
»Ich fühl mich wie ein kaputter Wagen ohne Lenkrad«, sang Blind Willie McTell.
»Ich weiß genau, was du meinst, Kumpel«, murmelte Banks vor sich hin, als er sich ein Glas Laphroaig SingleMalt-Whisky einschenkte, ein Luxus, den er sich eigentlich kaum leisten konnte. Es war fast zwei Uhr am Morgen, und die Verhöre hatten bisher noch keine Ergebnisse erzielt. Müde hatte Banks die weitere Arbeit den anderen überlassen und war für ein paar Stunden Schlaf nach Hause gekommen. Er meinte, es sich verdient zu haben. Die anderen hatten nicht den Morgen vor Gericht verbracht, waren nicht am Nachmittag für nichts und wieder nichts hinter einem gestohlenen Traktor her gewesen und mussten abends nicht der Abgeordneten Honoria zuhören, die mittlerweile bestimmt den Schlaf der Gerechten schlief, bevor sie mit großer Erleichterung am Morgen zurück in den Süden reiste.
Banks legte die Füße hoch, zündete sich eine Zigarette an und schloß die Hände um das Glas. Da läutete es plötzlich an der Tür. Er sprang auf und fluchte, als er einen Teil des kostbaren Scotchs auf sein Hemd verschüttete. Er rieb mit dem Handballen darüber, ging in die Diele und öffnete die Tür, so weit es die Kette zuließ.
Es war Jenny Füller, die Psychologin, die er kennen gelernt hatte, als er seinen ersten Fall in Eastvale gemeinsam mit ihr bearbeitete. Darüber hinaus, das musste er zugeben, hatte es eine gegenseitige Anziehung zwischen ihnen gegeben. Natürlich war nichts passiert, und Jenny war auch für Sandra zu einer guten Freundin geworden. Die drei waren oft gemeinsam ausgegangen. Doch die Anziehung blieb bestehen, ohne sich aufzulösen. Solche Dinge verschwanden nicht so leicht, wie sie sich einstellten.
»Jenny?« Er zog die Kette aus der Arretierung und machte die Tür ein Stückchen weiter auf.
»Ich weiß. Es ist zwei Uhr morgens und du fragst dich, was mich um diese Zeit zu dir führt.«
»So ähnlich. Ich nehme an, es ist nicht nur mein unwiderstehlicher Charme, oder?«
Jenny lächelte. Um ihre grünen Augen bildeten sich Lachfältchen. Doch das Lächeln war gezwungen und nur von kurzer Dauer.
»Was ist los?«, fragte Banks.
»Dennis Osmond.«
»Wer?«
»Ein Freund. Er steckt in Schwierigkeiten.«
»Dein Freund?«
»Ja, mein Freund.« Jenny wurde rot. »Oder soll ich Auserwählter sagen? Liebhaber? Derjenige welcher? Hör zu, kann ich reinkommen? Hier draußen ist es kalt und es regnet.«
Banks trat zur Seite. »Ja, natürlich. Tut mir Leid. Willst du einen Drink?«
»Wenn es dir keine Umstände macht, gern.« Jenny ging in das Wohnzimmer, nahm ihren grünen Seidenschal ab und schüttelte ihr rotes Haar. Die gedämpfte Trompete klagte, und Sara Martin sang »Death Sting Me Blues«.
»Ist die Opernphase vorbei?«, wollte Jenny wissen.
Banks schenkte ihr ein Glas Laphroaig ein. »Es gibt eine Menge Musik auf der Welt«, sagte er. »Ich möchte so viel wie möglich davon hören, bevor ich den Löffel abgebe.«
»Schließt das auch Heavy Metal und Mainstream-Pop ein?«
Banks setzte einen finsteren Blick auf. »Dennis Osmond. Was ist mit ihm?«
»Oh, sind wir heute empfindlich?« Jenny verdrehte die Augen und senkte die Stimme. »Übrigens, ich hoffe, ich habe Sandra oder die Kinder nicht geweckt.«
Banks erklärte ihre Abwesenheit. »Das war alles ein bisschen plötzlich«, fügte er hinzu, um die Stille auszufüllen, die darauf folgte und die irgendwie schwerer wog, als sie sollte. Jenny drückte ihr Mitgefühl aus und rutschte auf ihrem Sitz umher. Sie holte tief Luft. »Dennis wurde heute Nacht während der Demonstration verhaftet. Er konnte mich vom Polizeirevier aus anrufen. Bisher ist er noch nicht zurückgekommen. Ich war gerade dort, und man hat mir gesagt, du seist schon weg. Man wollte mir überhaupt keine Auskünfte über die Verhafteten geben. Was ist los?«
»Wohin sollte er zurückkommen?«
»Zu mir.«
»Wohnt ihr zusammen?«
Jennys Blick wurde hart und durchbohrte ihn wie ein Laserstrahl. »Das geht dich einen feuchten Dreck an.« Sie nahm einen großen Schluck Scotch. »Aber wenn du es genau wissen willst, nein, wir wohnen nicht zusammen. Er wollte vorbeikommen und mir von der Demonstration erzählen. Das hätte vor Stunden sein sollen.«
»Du warst nicht dabei?«
»Ist das jetzt ein Verhör?«
»Nein, nur eine Frage.«
»Ich glaube an die Sache - das heißt, ich bin gegen Atomkraft und amerikanische Raketenstützpunkte -, aber ich sehe keinen Sinn darin, im Regen vor dem Gemeindezentrum von Eastvale rumzustehen.«
»Verstehe.« Banks lächelte. »Es war ein entsetzlicher Abend, oder?«
»Es gibt keinen Grund, zynisch zu werden. Ich hatte zu tun.«
»Drinnen war es auch ein schlimmer Abend.«
Jenny zog ihre Augenbrauen hoch. »Die Abgeordnete Honoria?«
»Allerdings.«
»Du warst dort?«
»Ich hatte die zweifelhafte Ehre, ja. Dienst.«
»Armer Kerl. Da ist man ja draußen mit einem blauen Auge noch gut davongekommen.«
»Du hast die Nachrichten also noch nicht gehört?«
»Welche Nachrichten?«
»Bei dieser friedlichen kleinen Demonstration gestern Abend wurde ein Polizist ermordet. Keiner von hier, aber trotzdem einer von uns.«
»Ist Dennis deshalb noch immer im Revier?«
»Wir verhören immer noch die Leute, ja. Es ist eine ernste Angelegenheit, Jenny. Ich habe Dennis Osmond nicht gesehen, ich habe noch nicht mal von ihm gehört. Aber sie werden ihn nicht gehen lassen, bevor sie seine Aussage haben. Und noch geben wir keine Informationen an die Öffentlichkeit weiter. Das bedeutet nicht, dass er unter Verdacht steht oder so, nur dass er noch nicht verhört worden ist.«
»Und dann?«
»Dann werden sie ihn gehen lassen. Wenn alles gut läuft, könnt ihr den Rest der Nacht noch gemeinsam verbringen.«
Einen Augenblick senkte Jenny ihren Kopf, dann starrte sie ihn wieder zornig an. »Du bist ein Arschloch, weißt du das?«, sagte sie. »Ich mag es nicht, so dämlich behandelt zu werden.«
»Was verlangst du von mir?«, wollte Banks wissen. »Warum bist du hergekommen?«
»Ich ... ich wollte nur herausfinden, was passiert ist.«
»Bist du sicher, dass du nicht versuchst, ihm eine Sonderbehandlung zu verschaffen?«
Jenny seufzte. »Alan, wir sind Freunde, oder?«
Banks nickte.
»Also«, fuhr sie fort, »mir ist klar, dass du nicht aus deiner Haut als Polizist schlüpfen kannst, aber wenn du nicht weißt, wo dein Job aufhört und deine Freundschaft beginnt ... Muss ich weiterreden?«
Banks rieb sein stoppeliges Kinn. »Nein. Tut mir Leid. Es war eine harte Nacht. Aber du hast meine Frage noch nicht beantwortet.«
»Ich hatte nur gehofft, eine Ahnung davon zu kriegen, was mit ihm passiert ist, mehr nicht. Ich hatte den Eindruck, wenn ich noch einen Moment länger auf dem Revier geblieben wäre, hätten sie mich auch noch verhört. Ich wusste nichts von dem Todesfall. Ich schätze, das ändert die Situation?«
»Natürlich. Das bedeutet, wir haben einen flüchtigen Polizistenmörder. Ich bin sicher, es hat nichts mit deinem Dennis zu tun, aber er wird die gleichen Fragen zu beantworten haben wie der Rest. Ich kann nicht genau sagen, wie lange er dort bleiben muss. Immerhin weißt du, dass er nicht im Krankenhaus ist. Da sind nämlich auch eine Menge Leute.«
»Ich kann es nicht glauben, Alan. Ich kann verstehen, dass sich die Gemüter erhitzen und die Fäuste fliegen, aber ein Mord? Was ist passiert?«
»Er wurde erstochen. Und zwar vorsätzlich, daran gibt es nichts zu rütteln.«
Jenny schüttelte den Kopf.
»Tut mir Leid, weiter kann ich auch nicht helfen«, sagte Banks. »Was hatte Dennis mit der Demo zu tun?«
»Er war einer der Organisatoren, zusammen mit der Studentenvertretung und diesen Leuten von Maggie's Farm.«
»Dieser Hof in der Nähe von Relton?«
»Genau. Die regionale Frauengruppe war auch daran beteiligt.«
»FEEF? Dorothy Wycombe?«
Jenny nickte. Banks war schon einmal auf die Frauen von Eastvale für Emanzipation und Freiheit gestoßen - besonders auf Dorothy Wycombe - und bei dem Gedanken, noch einmal mit ihnen zu tun haben zu müssen, bekam er ein flaues Gefühl im Magen.
»Ich kann es immer noch nicht glauben«, fuhr Jenny fort. »Dennis erzählte mir immer wieder, dass eine gewalttätige Auseinandersetzung das Letzte wäre, was sie wollten.«
»Ich nehme an, das wollte niemand, aber solche Aktionen geraten leicht außer Kontrolle. Schau, warum gehst du nicht nach Hause? Ich bin sicher, er wird bald zurück sein. Er wird nicht misshandelt werden. Wir werden nicht plötzlich zu bösartigen Fieslingen, wenn so etwas passiert.«
»Du vielleicht nicht«, sagte Jenny. »Aber ich habe gehört, wie ihr Polizisten zusammenhaltet.«
»Mach dir keine Sorgen.«
Jenny trank ihr Glas aus. »Okay. Ich merke, du willst mich loswerden.«
»Überhaupt nicht. Wenn du willst, kannst du noch einen Scotch haben.«
Jenny zögerte. »Nein«, sagte sie schließlich. »Ich wollte dich nur ärgern. Du hast Recht. Ich gehe lieber nach Hause.« Sie hob ihren Schal auf. »Aber es hat gut getan. Der Scotch. Der zergeht richtig auf der Zunge.«
Banks brachte sie zur Tür. »Wenn es irgendwelche Probleme geben sollte«, sagte er, »sag mir Bescheid. Und ich könnte auch deine Hilfe gebrauchen. Du scheinst etwas mehr darüber zu wissen, was hinter den Kulissen vor sich geht.«
Jenny nickte und band ihren Schal um.
»Vielleicht kommst du mal zum Abendessen?«, schlug Banks spontan vor. »Und probierst meine Gourmetküche.«
Jenny lächelte und schüttelte den Kopf. »Lieber nicht.«
»Wieso? So schlecht koche ich nicht. Immerhin ...«
»Es ist nur ... es wäre nicht richtig, solange Sandra weg ist, das ist alles. Die Nachbarn ...«
»Na gut. Gehen wir aus. Wäre dir das Royal Oak in Lyndgarth recht?«
»Sehr«, sagte Jenny. »Ruf mich an.«
»Mache ich.«
Sie küsste ihn auf die Wange, und er beobachtete, wie sie den Weg hinunterging und in ihren Metro stieg. Als sie losfuhr, winkten sie sich zu, dann verschloss er seine Tür vor der feuchten, kalten Nacht. Er nahm die Scotchflasche und zog den Korken heraus, überlegte einen Moment, schob ihn dann zurück und ging ins Bett.