14

Die Flut

Die Weiße Hexe schrie. Aeriel war wie festgefroren, immer noch berührte sie die Perle. Sie spürte, wie etwas aus dem Juwel in Oriencor floss, die reglos wie eine Statue dastand, mit aufgerissenem Mund, aus dem sich eine Wehklage erhob, langgezogen und schrill.

All jene in den Barkassen und auf dem fernen Schlachtfeld hielten inne, wirbelten herum, starrten zur Feste. Bilder tanzten über die Oberfläche der Perle: Pest und Feuerwalzen, die Zerstörung von Oceanus.

»Tot?«, kreischte die Weiße Hexe. »Tot? Wie kann das sein? Nicht tot. Nicht tot! Vergiftet? Seuchen? Wie konnten sie sich selbst vernichten?«

Aeriel war zu jeglicher Bewegung unfähig, konnte weder den Blick noch die Hand von der Perle zu reißen. Ebenso wie Oriencor, deren markerschütternde Schreie anhielten. Aeriel erkannte benommen, dass obschon die Perle das Schicksal der Gottgleichen preisgab, Ravennas Tochter die Wahrheit leugnete, sich weigerte, ihr Glauben zu schenken. Aeriel schüttelte den Kopf. Die Ohren dröhnten ihr von den gellenden Protesten der Hexe. Ihr war nie in den Sinn gekommen, dass Oriencor das Geschenk von sich weisen könnte.

»Es waren nur wir, nur wir, die zum Vergnügen der Alten in den Krieg zogen. Sie können nicht … Sie können nicht tot sein! Unmöglich …«

Aeriel überfiel ein Anflug von Angst. Niemals hätte sie irgendein Wissen angezweifelt, das sie durch die Perle in Erfahrung brachte. Sie wusste nicht, was mit demjenigen geschähe, der es versuchte. Sie wusste nicht, was Oriencor nun widerfuhr. Die Hexe schien Aeriel mit aller Gewalt die Perle zurückgeben zu wollen. Der Duft von Alten Blumen stieg ihr plötzlich in die Nase, als sich ein neues Bild in der Perle zusammensetzte, das einer dunkelhäutigen Frau mit indigofarbenen Augen.

»Tochter«, sagte diese leise, »du musst mir Glauben schenken. «

Erschrocken starrte Aeriel auf das Juwel. Das Bild war keine verschwommene Darstellung der Zukunft, keine lebhafte Erinnerung der Vergangenheit. Es spiegelte die Gegenwart wider: greifbar, real. Eine lebendige Ravenna blickte die Weiße Hexe von der Oberfläche der Perle aus an.

»Nein!«, keuchte die Lorelei, wich zurück. »Ich habe dein Begräbnisfeuer gesehen …«

Die Gottgleiche schüttelte das Haupt. »Das war lediglich meine Hülle, mein Kind. Einige Künste der Gottgleichen hast du nie erlernt. Mein inneres Wesen wurde umgewandelt, so dass mich meine Botin zu dir bringen konnte. Die Perle birgt mein ganzes Dasein. All meine Zauberkraft, meine Seele vermache ich dir, wolltest du meine Gabe nur annehmen!«

Das Wehklagen der Weißen Hexe steigerte sich zu grellen Schreien und dann markerschütterndem Kreischen.

»Niemals!«

Aeriel presste die Hände auf die Ohren, sie wäre augenblicklich geflohen, hätte sie sich nur bewegen können. Die Kälte der Hexe umschloss und durchdrang sie wie nie zuvor, denn die Perle spendete nun keine Wärme mehr. Ravennas Abbild beobachtete ihre Tochter voll Entsetzen und Schmerz.

»Nimm sie zurück!«, kreischte die Hexe. »Ich will deine Zauberkraft nicht! Ich habe jetzt meine eigene Magie …«

Risse tauchten in der Winterasche um sie auf. Durch die Kraft der Perle spürte Aeriel die hauchdünnen Sprünge, die sich durch den ganzen Palast bis hinab zur Wasseroberfläche und noch tiefer zum Seegrund erstreckten. Sie erhaschte einen Blick auf die Gestalten, gefangen in den Wänden von Winterasche, die sich nun bewegten, erwachten, die Augen aufschlugen. Die ganze Feste regte sich, erzitterte mit einem tiefen Grollen, das mit dem entsetzlichen, schrillen Klagelaut der Hexe verschmolz.

»Akzeptiere oder du bist verloren!«, rief Ravenna eindringlich. »Benutze mein Geschenk, um diese Welt zu erretten …«

Das Abbild der Gottgleichen streckte flehentlich die Hände nach Oriencor aus. Aeriel vernahm Syllvas Kriegsfanfare, die in ihrer Isterner Barkasse zum Rückzug blies. Die dunkelhäutigen Inselbewohner flohen vom Palast zu ihren Jollen und hasteten zum gegenüberliegenden Ufer. Erin krallte sich in Pendarlons Mähne fest, während er mit großen Sprüngen über den See schoss, der allmählich seine dunkle Trübheit einbüßte. Die Kreaturen der Hexe krümmten und zuckten in dem lichter werdenden Gewässer.

»Glaube mir, Tochter«, beschwor Ravenna. »Mein Altes Volk und ihre Welt sind untergegangen.«

Doch Oriencor ignorierte selbst jetzt noch das Wissen der Perle. Der Palast erschauderte wieder, der Boden unter Aeriels Füßen bog sich. Sie hörte ein Krachen, als würde Kristall abbröckeln und zerschmettern.

»Lügen! Lügen … Ich glaube dir kein Wort! Sie können nicht tot sein!«

»Hör auf«, versuchte Aeriel ihr zu sagen. »Hör auf zu schreien, oder der ganze Palast stürzt ein.«

Die andere zollte ihr keinerlei Beachtung, sie umklammerte die Perle mit den Fingern, als wollte sie sie zermalmen.

»Tochter, besinn dich!«, rief Ravenna verzweifelt.

Dann barst die Perle in Aeriels Hand, und das Bild der Gottgleichen zerbrach, platzte, verschwand. Die schwimmhäutigen Finger der Hexe drückten Aeriel nieder, Splitter des Korunds bohrten sich in ihr Fleisch. Weißer Nebel quoll von der zertrümmerten Muschel empor, einer Wolke gleich, voll funkelndem Feuer. Er erfüllte das Gemach, umhüllte sie beide. Oriencor zerrte mit aller Gewalt, als wolle sie sich von der Perle lösen, schlug wild auf den Rauch und die leuchtenden Funken ein, die sie zu versengen drohten. Aeriel hingegen verspürte nichts als ein schwaches Schimmern, ein beinahe angenehmes Glühen.

Sie hatte sich den Daumen an der scharfen Kante der Perle geschnitten. Ein Teil des wabernden Lichts floss durch die Wunde in sie ein. Aeriel hieß es willkommen. Das Flimmern senkte sich auf ihre Haut, drang in ihre Poren, kroch unter ihre Fingernägel, legte sich um ihre Ohren und ihr Haar. Es schoss, siedend heiß, wie brennendes Silber durch ihre Adern. Auch sie schrie auf, doch nicht vor Schmerz, sondern Überraschung.

»Du«, keuchte Oriencor, drehte sich nun wieder zu Aeriel um. Ihre Stimme kam keuchend, als habe das verschleierte Licht ihre Lungen versengt. »Du! Kleine Zauberin. Ich verfluche den Tag, an dem dich Irrylath verschleppte, und ich verfluche die Stunde, in der du mit deiner Botschaft und deinem vergifteten Geschenk meine Feste betratest. Zunichtegemacht! All mein Hexenwerk zerstört! Durch dich, die Gehilfin meiner Mutter. Du mit deiner vorgetäuschten Unschuld.«

Die Weiße Hexe lag im Sterben, erkannte Aeriel erschrocken. Für all jene, die sich gegen das Wissen sträubten, war es todbringend. Oriencors Kreaturen bäumten sich ein letztes Mal auf, verendeten in dem entzauberten Gewässer. Aeriel hätte nie vermutet, nicht einen einzigen Augenblick, dass die Perle nicht nur heilende Kräfte barg, sondern auch Leid bringen konnte.

»Es war nie meine Absicht, dir mit der Perle Schaden zuzufügen«, rief sie. Ebenso wenig konnte sie glauben, dass Ravenna ihrer Tochter Böses wollte. »Ich versuchte dir nur zeigen, dir die Augen …«

»Mir die Augen öffnen?«, krächzte Oriencor, deren wunderschöne, glockenreine Stimme nun dem Zermahlen von Tonscherben und Knirschen von Metall glich. »Mich in die zurückverwandeln, die ich früher einmal war, eine Sterbliche, ein Halbling, die Tochter einer Gottgleichen? Verstehst du denn nicht?«

Die Feste erschauderte erneut, und der Boden sank eine Viertel Elle, bevor er sich wieder fing. Die toten Geschöpfe im See lösten sich in übelriechendem Rauch auf. Der Palast zitterte wie eine Kreatur, die zum Leben erwacht war. Beide, Oriencor und Aeriel, taumelten, doch keiner gelang es, sich von der zerbrochenen Perle zu befreien.

»Verstehst du nicht?«, kreischte Oriencor. »Erlösung ist für mich ebenso wenig möglich wie für einen meiner Engel der Nacht – einen meiner wahren Engel der Nacht. Denn ich bin nicht unvollständig, so wie Irrylath, als du ihn befreitest. Ich habe Herzen verschlungen und Blut getrunken und mich von Seelen ernährt. Mein Herz ist aus Staub. Ich könnte nicht zu dem werden, was ich einst war, selbst wenn ich wollte … Und ich will nicht! Ich will unter meinesgleichen wandeln. Ich will die Gottgleichen auf Oceanus lebend sehen, und ich verfluche dich, da du mir die Hoffnung raubtest, meinen einzigen Lebenssinn.«

Ihre letzten Worte waren ein einziger langer Schrei, der den Palast von der Turmspitze bis zu den Grundfesten erschütterte. Das Beben ließ Aeriel in die Knie sinken. Durch die Perle sah sie, dass das nun reine Wasser des Sees in die verzweigten Höhlengänge unterhalb der Feste schoss. Bekümmert entsann sie sich der Zwerge, die in den Tiefen von Winterasche gefangen waren, und hoffte inständig auf ihre Rettung.

»Aeriel! Aeriel!«

Über dem ohrenbetäubenden Getöse rief jemand ihren Namen. Als sie sich umwandte, sah sie, wie Avarclon den Prinzen von dem einstürzenden Palast forttrug. Riesige Brocken Winterasche lösten sich und stürzten in die Tiefe. Irrylath saß hilflos da, unfähig, sein ungezäumtes Ross zu lenken. Ohne Zaumzeug und Gebiss konnte der Prinz den Avarclon nicht befehligen.

Ein Fauchen ließ Aeriel jäh herumschnellen. Oriencor stand immer noch, wenn auch wankend. Ihr Gewand war zerfetzt, ihre einst weiße Haut aschgrau, schälte sich und platzte auf wie verbranntes Papier. Ihr Haar, ein Nest aus winzigen, hauchdünnen Schlangen, wehte flatternd in einem Wind, den Aeriel nicht spürte. Sie wich schreiend zurück, als die grünen Augen der Hexe sie durchbohrten.

»Ich kriege dich«, flüsterte Oriencor, und ihre entstellte Stimme wurde weich wie aneinanderreibende Kieselsteine. »Du hast mich vernichtet, aber ich werde dich ebenfalls zerstören. Ich werde mir dein Herz einverleiben, deine Augen. Kleine Zauberin, ich hole mir deine Seele!«

Mit ihren dolchartigen Fingernägeln griff sie nach Aeriel, die sich wild kreischend loszureißen versuchte. Über ihr, hoch am Himmel, in weiter Ferne, hörte sie Irrylath ebenfalls schreien. Die Hand der Weißen Hexe schoss auf sie zu. Aeriel schreckte zurück und drückte verzweifelt den Rücken durch. Sie spürte, wie Oriencors Klauen ihre geschlossenen Lider streiften. Ganz schwach, sie ritzten kaum die Haut, jedoch fest genug, dass ihre Kälte Aeriel wie ein Messer durchzuckte.

Jegliches Licht der Welt erlosch. Der aufgehende Sonnenstern verschwand. Da spürte Aeriel, wie die Hand der Hexe, die immer noch mit ihrer durch die Perle verbunden war, zu Asche zerfiel, zu Staub, just in dem Moment, als sich der Palast ein letztes Mal aufbäumte und dann erbarmungslos einstürzte, hinab in den aufgewühlten See.

Winterasche fiel in sich zusammen, doch sie bestand nicht länger aus Stein. Oriencors Zauber musste mit ihrem Tod entfleucht sein, dachte Aeriel, beinahe gefasst, während sie in die Tiefe stürzte. Überall donnerte Wasser. Sie konnte nicht sehen, nicht atmen, hörte nur das Tosen des Wassers. Der Perlenstaub in ihrem Blut offenbarte ihr einen flüchtigen Einblick in die Geschehnisse um sie herum. Sie fragte sich verwundert, wann sie den harten Boden erreichen und zerschmettern würde.

Doch der Boden kam nicht. Der rauschende Flug schien kein Ende zu nehmen. Nach einer Ewigkeit wurde sich Aeriel bewusst, dass obwohl sie immer noch fiel, nicht mehr kerzengerade nach unten schoss. Der Palast hat sich im See aufgelöst, traf sie die unheimliche Erkenntnis. Du versinkst in den Fluten.

In ihren Lungen war keine Luft mehr. Ihr Brustkorb schmerzte und brannte. Nur noch ein Weilchen, ermahnte sie sich. Halte aus, auch wenn es eigentlich keinen Sinn ergab. Sie konnte nicht schwimmen. Tief unter der Oberfläche des Sees, eingeschlossen von Wasser, wurde ihr qualvoll bewusst, dass sie umkäme, sobald sie den Mund öffnete und Luft holte.

Womöglich würden ihr zuerst die Sinne schwinden, und sie spürte ihren Tod nicht. Zumal Ertrinken kein solch schreckliches Ende bedeutete, beruhigte sie sich. Sie hatte es immer gefürchtet, seit dem Tage, als sie in ihrer Kindheit in einen Höhlentümpel gefallen und halb bewusstlos, röchelnd und spuckend von ihrer Herrin Eoduin ans Ufer gezogen worden war. Doch hier gab es kein Ufer und keine Gefährtin, die zu ihrer Rettung herbeieilte.

Das Blut pochte in ihrem Kopf. Bald würde sie das Kämpfen einstellen, den Mund öffnen und die reißende Strömung tief in sich einsaugen. Dann würde sie sterben. Zumindest ist die Weiße Hexe ebenfalls tot, dachte sie benommen, und die Welt von ihrer Schreckensherrschaft erlöst. Der Perlenstaub in ihrem Blut hatte ihr dieses Wissen enthüllt, obwohl es ihr keinen Trost spendete.

Allein ein vernichtendes Gefühl des Versagens erfüllte Aeriel. Sie war Ravennas Bitte nicht nachgekommen, hatte Oriencor nicht zum Guten geleitet. Der Welt war nun eine kurze Ruhepause vergönnt, doch könnte sie ohne Ravennas Zauberkraft jemals vollständig gesunden? Die Perle war zerbrochen, ihr Inhalt in alle Winde verstreut, verloren. Immer noch krallte sich Aeriel am Leben fest, widerstand der Flut. Ihre eigene Beharrlichkeit überraschte sie. Kämpf nicht länger, ermahnte sie sich, zum Sterben bereit. Du hast versagt.

Da packte sie jemand am Haar, zog sie durch die Strömung. Die gewaltige Naturkraft ließ nach, war zu einem starken Sog abgeklungen, der sie nicht mehr nach unten riss. Der Unbekannte zerrte ihr Gesicht an seines, legte den Mund auf ihren und flößte ihr seinen Odem ein. Aeriel packte sein Hemd und klammerte sich daran fest, atmete seine süße, berauschende Luft.

Ihr Bewusstsein wurde klar. Mit einem Schlag war ihre Willenskraft geweckt, und sie rang nach Atem. Der andere hielt sie fest umschlossen, ließ sie das weiße Wasser des Sees nicht trinken, sosehr sie auch danach trachtete. Luft! Sie brauchte Luft. Überall war Dunkelheit. Die eisige Berührung der Hexe hatte ihr die Sicht geraubt. Ihre Augen waren nutzlos, gefroren, wie Augäpfel aus Winterasche.

Sie wusste nicht, wer es war, der sie in seinem Griff gefangen hielt. Doch sie spürte seine starken Arme, seine Beine, die sich mit kräftigen Schwimmbewegungen zur Wasseroberfläche kämpften. Aeriel wurde gegen die Strömung nach oben gerissen. Von jemandem, der schnell wie ein Fisch schwamm. Jemandem, der von einer Lorelei aufgezogen worden war. Jemandem, der zehn Jahre seines Lebens tagein, tagaus im See geschwommen war: Irrylath!



Nach einer schieren Ewigkeit durchbrachen sie die Wasseroberfläche. Aeriel sog keuchend die köstliche Luft ein, wenn auch schwach, halb ohnmächtig. In ihren Gliedern pulsierte kaum noch Kraft. Sie war zufrieden, schlaff in den Armen ihres Gemahls zu liegen und von der Strömung getrieben zu werden. Meile um Meile, dachte sie traumverloren: Die Flut riss sie Wegstunden von dem Ort fort, an dem sich der Palast der Hexe einst erhoben hatte. Waren die anderen in den Barkassen und am Ufer in Sicherheit? Sie konnte nur hoffen, eingehüllt in einer Dunkelheit bar jeglichen Lichts des Sonnensterns, des Oceanus’ oder der Sterne. Den Kopf auf Irrylaths Brust geschmiegt, schlief sie ein.

Ganz allmählich kehrte ihr Bewusstsein zurück. Sie war nicht länger von Wasser umgeben, spürte nicht länger den Sog. Sie bewegten sich nicht. Zerschrammt und tropfnass lag sie auf festem, stabilem Untergrund, auch wenn dieser durchweicht war. Ihre Kleidung triefte, und ein Teil ihres Haares wehte im Wasser. Jemand rief sie beim Namen.

Sie schlug die Lider auf, ohne viel Hoffnung, etwas zu sehen. Ihre Augen schmerzten vor Kälte. Da traf etwas ihre Pupille, ein heißer, brennender Tropfen. Ein weiterer fiel auf ihre Braue, floss wie beißendes Salz in ihr anderes Auge. Sie zuckte vor Schmerz, blinzelte und gewahrte Sterne über sich, ein funkelndes Meer. Jemand beugte sich herab.

»Aeriel, Aeriel«, sagte er.

Stöhnend bewegte sie sich und erkannte, wie steif sie war. Der Perlenstaub in ihrem Blut machte sie benommen.

»Irrylath«, murmelte sie, streckte die Hand nach ihm aus. »Ich bin ertrunken, und du bist meinetwegen gekommen.«

Für ihre Rettung musste er von Avarclons Rücken gesprungen sein. Da erinnerte sie sich wieder an ihren Traum: Irrylath, der von weit oben kopfüber durch die Lüfte in die aufgewühlten Fluten stürzte. Das Sternenpferd hatte ihn in Sicherheit bringen, ihn fortragen wollen, doch er hatte sich geweigert, ohne sie gerettet zu werden, und war ihr stattdessen gefolgt. Nicht gefallen. Getaucht. Irrylath zog sie fest an sich.

»Oriencor ist tot«, flüsterte er. »Du hast sie getötet, und der Palast ist eingestürzt.«

Er schauderte. Seine Tränen liefen über Aeriels Wange und Stirn. Als sie die brennenden Tropfen aus ihren Augen blinzelte, erblickte sie Schlammbänke, die sich bis in weite Ferne erstreckten, schwarze Erde, so weit das Auge reichte. Das Wasser lag reglos da, ein kühler, dunstiger Rauch stieg in geisterhaften Wolken auf. Zerbrochene Möbel, Teppiche und Gegenstände lagen wie Strandgut um sie verstreut.

Ihr Hochzeitssari, gelb und gefeit gegen jedwede Nässe, lag zerknüllt in einem nahen Buschwerk. Der Nebel, immer noch von farbenprächtigen Funken durchdrungen, waberte wirbelnd, verdeckte bisweilen den Horizont. Oceanus hing tief am Himmel, eingehüllt von einem feurigen Sternenkranz. Sonderbarerweise fühlte sich die Nacht nicht kalt an. Schließlich löste sich Irrylath von ihr.

»Nicht ich«, wiederholte er. »Nicht ich, sondern du hast sie getötet.«

Nie zuvor war sie ihm so nahe gewesen. Selbst im Sternenlicht sah sie die vier langen Narben, die eine Seite seines Gesichts bedeckten, und die fünfte, die genau unterhalb seines Kiefers verlief. Die Narben, die Pendarlon ihm zugefügt hatte, vor einer Ewigkeit – nein, erst vor zwei Jahren –, als er als unfertiger Engel der Nacht in Avaric wütete. Aeriel fuhr sie mit der Hand nach.

»In Winterasche«, sagte sie, »als der Palast noch stand, ließ mich die Perle einen kurzen Blick auf das Gräuel erhaschen, das die Weiße Hexe dir antat.«

Sie sah, wie er zusammenzuckte, spürte das Entsetzen, das ihn packte. Er starrte sie an. »Ich dachte, du wüsstest es von jeher«, flüsterte er. »Ich dachte, deinen grünen Augen entginge nichts.«

Sie schüttelte den Kopf. War das der Grund, weshalb er sich zurückgezogen – nicht sie gemieden hatte, sondern ihr Wissen?

»Deshalb glaubte ich, Sabr zu begehren«, sagte er, »weil sie nichts von all dem weiß, und selbst, wenn sie es jemals herausfände, würde sie es nicht glauben. Sie würde darauf bestehen, ich sei mutig.«

»Du warst mutig«, sagte Aeriel. Sie erinnerte sich, wie er die Schlacht von Avarclons Rücken angeführt, zu Sabrs Rettung herabgetaucht, seinem eigenen Engel der Nacht und denen seiner Brüder getrotzt hatte. »Du bist der mutigste Mensch, den ich kenne.«

Irrylath schüttelte den Kopf. »Nein. Das bin ich nicht. Oriencor hat jede meiner Schwächen aufgespürt. Letztlich hat sie meinen Willen gebrochen und ein Spielzeug aus mir gemacht.«

»Und du dachtest, ich hätte dasselbe vor?«, grübelte Aeriel betroffen und erschüttert über ihre eigene Torheit. Blind! Bis zu diesem Moment war sie blind gewesen. »Also ließest du dich auf Sabr ein, die dich verehrt … Auf der sehnsüchtigen Suche nach jemandem, der um deine Vergangenheit nicht weiß, wolltest du dieser schmerzhaften Erinnerung entfliehen.«

Der Prinz biss die Kiefer fest zusammen und nickte bedächtig. Mit den Gedanken schien er bei der Hexe zu sein. Seine Augen glichen zwei brennenden Flammen.

»Aber Oriencor ist nun tot«, flüsterte er mit ungezügelter Leidenschaft. »Nie wieder werde ich von ihr träumen oder ihre Berührung spüren oder ihre Stimme hören. Meine Retterin! Du hast den Bann gebrochen.«

Sie wollte ihm widersprechen: Aus eigener Willenskraft hatte er sich von Oriencor losgesagt, ihren siebten Sohn in der Luft besiegt, lange bevor Aeriel ihr die Perle überreichte. Doch stattdessen drückte sie die Lippen auf seine und brachte ihn zum Schweigen. Die Nacht war auf einmal vom gleißenden Licht des Oceanus’ und der Sterne erfüllt. Der Nebel umwirbelte sie leise flüsternd, wie Geister. Vereinzelt schwebten Funken in der Luft, segelten auf Irrylaths Haar. Aeriels Gemahl legte die Arme um Aeriel, zog sie verzweifelt an sich, einem Verdurstenden gleich, der sich nun beinahe scheute, zu trinken.

Dann glitt etwas in menschlicher Gestalt, jedoch aus purem, goldenem Licht geformt, an ihnen vorbei und löste sich im Nebel auf. Mit einem Schrei schreckte Aeriel vom Prinzen zurück. Die erste Erscheinung war verschwunden, doch schon im nächsten Moment, aus einer anderen Richtung, schälte sich eine weitere Figur aus den Dunstschleiern – wieder aus goldenem Licht –, ein junger Mann, gewandet in eine Tracht, die ihr fremd war. Er schien ihnen einen flüchtigen Blick zuzuwerfen, bevor er im Nebel zerfloss. Aeriel spürte, wie Irrylath die Arme fester um sie schlang.

»Was ist das?«, keuchte sie.

»Seelen«, flüsterte er. »All die Seelen, die Oriencor und ihre Engel der Nacht geraubt oder getrunken haben. All jene, die sie in den Mauern von Winterasche gefangen hielt. Endlich erlöst. Sieh nur! Die Luft ist erfüllt von ihnen.«

Aeriel blickte auf und folgte seinem Finger. Der Horizont glühte vor Wiedergängern aus goldenem Licht, die gen Himmel emporstiegen und sich in die Fülle an Sternen einreihten. Der Nebel und die Nacht wurden hell von ihnen erleuchtet. Die Luft fühlte sich schwer und geladen an. Die Härchen auf Aeriels Armen und in ihrem Nacken stellten sich auf. Erschrocken klammerte sie sich an Irrylath.

»Sie wollen uns nichts zuleide tun«, murmelte er, hielt dann jäh inne, schauderte. »Zumindest dir nicht. Du hast sie befreit.«

Eine phosphoreszierende Gestalt, vermutlich eine Zambulanerin, blieb zehn Schritte vor ihnen stehen. Der funkelnde Nebel wurde dicker. Als die Geistererscheinung zu ihnen hinsah, verzog sie die Mundwinkel kaum merklich zu einem schwachen Lächeln. Dann hob sie die Arme und entschwand direkt vor ihren Augen.

Der Nebel verdichtete sich unablässig, bevor er sich plötzlich lichtete, ohne sich vollends aufzulösen. Als Aeriel den Blick hob, waren die Sterne verdeckt. Sie konnte den flirrenden Strom an emporsteigenden Seelen nicht länger sehen, erhaschte nur ein flüchtiges Schimmern von ihnen in weiter Ferne, schwachen Lichtblitzen gleich. Die elektrisch geladene Atmosphäre in der Luft verstärkte sich. Aeriel vernahm ein langes, tiefes Grollen, das sie nicht einordnen konnte. Weitere Blitze. Noch ein Grollen. Etwas Nasses und Kaltes berührte ihre Haut.

Überrascht zuckte sie zusammen, spürte, wie es Irrylath ähnlich erging. Der Schrecken wiederholte sich: Tröpfchen spritzten. Der Geruch von Wasser durchdrang die Luft. Die prasselnden Tropfen wurden größer und zahlreicher, fielen nun stärker und regelmäßiger. Eine feuchte Brise kam auf, zerrte an ihnen. Es fühlte sich kalt, köstlich, sonderbar an. Aeriel schmiegte sich an Irrylaths schützenden Körper. Das Geräusch von strömendem Wasser hallte wie eine Trommel in der Nacht, begleitet von einem tiefen Dröhnen und gleißenden Funkenschauern.

»Was ist das?«, rief sie.

»Wasser vom Himmel«, erwiderte er verwundert und streckte die Hand aus, um die fallenden Tropfen aufzufangen. »Wie damals, in Alten Zeiten – vor einem Dutzend Tausend Tagmonaten. «

Das Wasser donnerte nun in windgepeitschten Böen herab, ein unablässiger, unbezähmbarer Schauer. Aeriel formte die Hände zu Schalen und hielt sie an die Lippen. Es schmeckte kühl und süß, voll gesunder Luft und Mineralien. Sie hob ihre Handflächen an Irrylaths Mund und ließ ihn ebenfalls trinken. Der Prinz, der sie weiterhin fest an sich drückte, küsste ihre Finger.

»Die Dürre der Weißen Hexe ist besiegt«, sagte er. »Es regnet.«