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Das Sandmeer

Aeriel öffnete die Augen.

Sie fand sich sitzend im äußeren Gemach wieder. Draußen, am Firmament, flimmerten die dreizehn Gestirne der Mädchen.

Im Schloss war es vollkommen ruhig. Die Dienerschaft war noch nicht zurückgekehrt. In Isternes herrschte die Sitte, nach Untergang des Sonnensterns zu speisen, dann zu schlafen. Nach etwa zwölf Stunden würde die Stadt wieder erwachen.

Aeriel erhob sich. Sie hatte noch etwas Zeit. Alle Müdigkeit war von ihr abgefallen, und ihr Entsetzen, nach Orm reisen zu müssen, hatte einem kleinen, dumpfen Schmerz Platz gemacht. Die Sibylle aufzusuchen bedeutete eine weite Reise.

Das Rätsel der Mädchen war ihr deutlich im Gedächtnis geblieben:

Doch zuerst müssen sie sich vereinen, die Feinde der Engel der Nacht,

Eine Braut, die im Tempel durch Feuer schreitet, hat teil an der Schlacht,

Weit jenseits des Sandmeers kommen Streitrösser für die Zweitgeborenen,

Und neu geschmiedete Waffen, ein geflügelter Stab –

Dann kostet die königliche Prinzessin von dem Baum – sonst wär sie verloren.

Also geschehen die Dinge, von der Stadt Esternesse weitab:

Eine Zusammenkunft von Gargoyles, ein Fest auf dem Stein,

Der Weißen Hexe Helferin wird nicht mehr sein.

Aeriel wickelte sich aus ihrem Hochzeitsgewand und faltete Meter um Meter den hauchdünnen Stoff zusammen. Dann ging sie zu einer großen Truhe aus Rosenholz, klappte den Deckel auf und entnahm ihr das einzige andere Kleidungsstück, das sie noch besaß: den ärmellosen Überwurf, den sie bei den Ma’a-mbai getragen hatte.

Aeriel streifte das Wüstengewand über. Wieder war sie überrascht, wie leicht es sich anfühlte. Mit weiten, luftigen Armlöchern, ohne Kragen hing es ihr gürtellos bis zu den Knien.

»Jetzt fehlt nur noch mein Wanderstab«, murmelte sie, »und ich wäre wieder ein wahrer Wüstenwanderer.«

Sie klappte den schweren Deckel der Truhe wieder zu. Dann nahm sie ihr gefaltetes Hochzeitsgewand und verließ den Raum.

Aeriel eilte durch den leeren Palast. Die Höflinge und Bediensteten schliefen alle. Sie holte ihre Laute aus dem Musikzimmer und trug sie an ihrem Band über der Schulter.

»Sie gehört mir«, sagte sie. »Die Königin hat sie mir geschenkt, und irgendwie muss ich ja meinen Lebensunterhalt verdienen. «

Sie lief durch die große Empfangshalle und wieder nach draußen in den Garten. Dort sammelte sie Mandeln, Datteln und Feigen. Auch nahm sie einen der Kürbisse, die neben dem Bach wuchsen. Die Fischer benutzten die Hüllen der Früchte als Wasserflaschen.

Sie verknotete alles im Stoff ihres Hochzeitsgewandes, klemmte sich das schwere Bündel unter den Arm und eilte auf das Kliff zu, von wo aus man das Meer überblickte. So erreichte sie schließlich die kleine Landspitze und folgte der steinernen Mauer, bis sie an die Treppe kam, deren Stufen nach unten führten. Dort lagen die Sandboote vertäut. Alle waren aus hellem, unbearbeitetem Holz gefertigt und mit zwei flachen Paddeln versehen, die Gleiter genannt wurden. Außerdem war jedes Boot mit einem Mast und einem Lateinsegel ausgestattet.

Aeriel suchte nach Hadins kleinem Fahrzeug. Der jüngste Sohn der Königin hatte sie in der Kunst des Segelns auf dem Sandmeer unterrichtet und ihr gezeigt, wie man am besten mit den Wellen aus feinem Staub fertigwurde. Sie fand das Boot, nahm die Laute von ihrem Rücken und öffnete das Gewand. Sie verstaute ihre Vorräte im Bug und bedeckte sie mit einem aus Hanffaser gewebten Tuch, damit sie nicht einstaubten.

»Aeriel!«

Sie fuhr erschrocken zusammen und drehte sich um. Hadin stand auf der Landzunge. Er war barfuß, trug seine Schuhe in einer Hand und hatte sein gelbes Gewand über eine Schulter geworfen. Er trug nur die knielangen Pantalons, die Unterhosen der Männer in Isternes.

Aeriel löste das Tau und schob das Boot fort. Hadin kam näher, und Aeriel bemerkte überrascht, dass er vollkommen durchnässt war. Der jüngste Sohn der Königin lachte und schüttelte das Wasser aus seinem Haar.

»Ich bin in den Fluss gefallen, als ich Arat vom Fest nach Hause brachte. Die anderen sind noch dort. Ich stand am Ufer und wrang gerade mein Gewand aus, als ich dich vorbeigehen sah.« Aeriel stand jetzt am Ende des Piers. »Schwester, wohin willst du zu einer solchen Stunde allein?«

»Hadin, leih mir dein Boot«, sagte sie und blickte auf die See.

»Willst du segeln gehen?«, fragte der Prinz, der nun ebenfalls auf dem Pier angekommen war. »Dann begleite ich dich …«

Aber Aeriel schüttelte den Kopf. Der blondhaarige Jüngling wurde plötzlich ernst.

»Schwester, wo willst du hin?« Als Aeriel ihn anblickte, fuhr er zusammen. Dann berührte er sanft ihre Wange und Schulter. »Was ist das?«

Erst da merkte Aeriel, dass ihre Wange, ihr Arm, eine Hand – wo immer die Mädchen sie berührt hatten – mit feinem goldenem Staub bedeckt waren.

»Sie haben mich mit ihrem Gold bestäubt«, murmelte sie und strich mit der Hand darüber. Es leuchtete im Dunkeln.

»Mit wem warst du verabredet?«

Aeriel sah weg. »Botinnen«, sagte sie.

Hadin blickte sie an. »Heute sind keine Botinnen in die Stadt gekommen, jedenfalls nicht durch die Stadttore.«

»Sie kamen nicht auf diesem Weg.«

Der Sohn der Königin schwieg. Dann sagte er: »Wir alle wissen, dass du mehr bist, als du zu sein scheinst, Aeriel.«

Sie sprang ins Boot, wollte endlich lossegeln. »Du redest, als wäre ich eine Hexe.«

Hadin kniete auf dem Pier. »Willst du mir nicht verraten, wohin deine Reise geht?«

»Ich habe eine Aufgabe zu erfüllen«, antwortete sie und fühlte die Furcht wieder in sich emporsteigen. Sie kämpfte sie nieder. »Ich muss mich sofort auf den Weg machen.« Sie hisste das Segel und mied seinen Blick.

»Aeriel«, sagte er plötzlich. »Hier, nimm mein Gewand. Du wirst es brauchen, der Fetzen, den du trägst, kann nicht mal eine Katze wärmen.«

Aeriel lachte und musste schlucken. Sie hatte nicht geglaubt, dass ihr der Abschied so schwerfallen würde. Sie nahm sein Gewand aus gelber Seide. Es fühlte sich nass und kühl an.

»Dann nimm du das«, sagte sie und gab ihm ihr zerknittertes Hochzeitsgewand.

Hadin starrte darauf. »Was soll ich damit anfangen?«

»Gib es Irrylath«, sagte sie leise und wandte sich ab. Sie gab vor, sich an dem Boot zu schaffen zu machen. Das Herz tat ihr weh, aber gleichzeitig war es ihr leicht. Abrupt drehte sie sich nach Hadin um. »Aber nicht sofort. Ich muss erst weit weg sein, ehe Irrylath davon erfährt.«

Das Boot tänzelte auf den Sandwellen. Aeriel zog das Segel höher. Hadin nahm ihre Hand, und einen Augenblick glaubte sie, er wolle sie zurückhalten. Aber er zog sie nur näher, um sie auf beide Wangen zu küssen, wie die Sitte es beim Abschied in Isternes verlangte.

»Komm zu uns zurück.«

Sie versuchte ein Lächeln. »Ehe der Avarclon zu neuem Leben erwacht, bringe ich dir anstelle deines Bootes ein Schlachtross. «

Der Wind blähte die Segel. Als Hadin dem Boot einen Stoß gab, ergriff Aeriel die Ruderpinne, und das Sandschiff entfernte sich von der Küste. Die steife Brise trug sie schnell fort. Am Ufer wurde Hadin auf dem fernen Pier immer kleiner. Sie änderte den Kurs, hart am Wind, in Richtung Westernesse.



Aeriels Fahrzeug schoss über das Sandmeer, es ritt auf den Sandwogen wie auf Wasser. Das Sternenlicht verlieh den feinen Partikeln ein eigenes, inneres Feuer. Der Wind blies von den Kronen dieser Wellen wirbelnden Staub zum nächtlichen Himmel empor.

Die Körner waren so fein, dass Aeriel sie kaum sehen konnte, sie kaum fühlte, wenn sie atmete. Sie bemerkte sie erst, als sie ihren schwachen Geschmack nach Tang auf der Zunge spürte. Nach einigen Stunden jedoch wurde ihre Kehle trocken, ihre Augen brannten, und ihre Fingerkuppen fühlten sich wie Pergament an.

Sie zurrte Segel und Ruderpinne fest und aß den Kürbis. Sein Fleisch schmeckte süß und erfrischend. Sie brauchte nur ein paar Bissen, und das Gefühl der Trockenheit verschwand. Die Farben der See veränderten sich jetzt. In Küstennähe war der Staub grau gewesen. Doch als sie weiter aufs offene Meer hinaussegelte, wurde der Sand blasser, war von einem klaren Gelbgrün und später violett und die Wogen waren manchmal malvenfarben.

Die Sterne versanken. Die Nacht ging zu Ende. Oceanus erschien am Horizont. Aeriels Herz jubilierte erleichtert. Das Licht war von einem gespenstischen Blau. Langsam stieg der Planet auf.

Aeriel aß von den Datteln, Feigen und Mandeln. Eine ermüdende Reise, mehr als einmal sehnte sie sich nach dem kleinen Samtbeutel, den der Zwerg ihr einst geliehen hatte. Sein Vorrat an köstlichen Speisen war schier unerschöpflich gewesen.

Manchmal stand sie auf und suchte den Horizont nach einer Küste ab oder befestigte Ruderpinne und Segel und schlief. Als sie das erste Mal erwachte, war der Boden des Bootes zentimeterdick mit Sand bedeckt. Danach schöpfte sie ihn alle paar Stunden aus und schlief nur noch kurze Zeitspannen.

Der Wind blies stetig; sie musste nur selten den Kurs korrigieren. Dabei richtete sie sich nach Oceanus und den Sternen. Die Hälfte eines Tagmonats verging. Zweimal kam ihr Schiff in der Nähe von Inseln vorbei, die Vogelschwärme umkreisten.

Manchmal konnte sie in der Ferne Sandwale beobachten, große fischähnliche Körper, wohl mehr als hundert Fuß lang. Sie schossen aus der See empor, prusteten Sand aus und gaben seltsame Geräusche von sich.

Einmal, als sie in der Nähe von Walen segelte, entdeckte sie auf dem Meer hellgrüne Klumpen, die Masse roch bittersüß, wie sehr altes Parfüm. Sie fischte sie, ohne zu wissen warum, heraus und bewahrte sie im Bug auf. Sie hatte keine Ahnung, was es war.

Ein andermal geriet sie in einen Schwarm Seevögel, schlanke Gestalten, mit silbernen Körpern, langen Schwingen und schwarz umrandeten Augen. Sie schwirrten über den Wellen und pickten irgendetwas aus dem Staub auf.

Als Aeriel näher kam, sah sie, dass es sich um winzige Panzerkrebse oder Langusten handelte. Ein Schwarm von ihnen hatte sich versammelt und fraß Algen, die wie rötliche Blüten auf dem Meer lagen. Aeriel lehnte sich über das Dollbord und schnippte eine der kleinen Langusten ins Boot.

Der in Segmente unterteilte Körper des Tieres war so klar wie Kristall. Es hatte Fühler am Kopf, zwei kleine schwarze Augen auf Stielen und einen breiten, flachen Schwanz. Augenblicklich vergrub es sich im Sand auf dem Boden des Schiffs.

Ein Seevogel landete auf dem Dollbord und krächzte. Er spähte auf die Stelle, wo die kleine Languste verschwunden war, aber Aeriel verscheuchte ihn. Nach einer Weile waren das Plankton und die Seevögel am Horizont verschwunden. Aeriel glitt durch den Sand.

Zuerst floh die kleine Kreatur vor ihren suchenden Fingern und versteckte sich wieder, aber mit der Zeit wurde sie zahmer und ließ sich mit kleinen Dattelstückchen füttern. Schon bald versteckte sich die kleine Languste in den Falten von Ariels Gewand, sie schien diesen Aufenthaltsort dem Sand vorzuziehen.

Das dritte Viertel des Tagmonats verstrich. Einmal kamen sie an einer Art unterirdischer Quelle mitten im Meer vorbei. Der Sand war weder grün noch golden oder rot oder grau, sondern blau, dunkelblau wie geblasenes Glas. Er rann in kleinen Strömen durch die anderen Farbschattierungen und schien schwerer, denn man verlor ihn bald außer Sicht.

Aeriel schöpfte im Vorbeifahren eine Handvoll davon, der Sand war so hübsch anzusehen, und barg ihn in einem der Ärmel von Hadins Gewand. Sobald es trocken war, hatte sie ihre Laute darin eingewickelt, ebenso das graugrüne, wachsähnliche Zeug. Die kleine Sandlanguste schnappte sich ein paar blaue Sandkörner und verspeiste sie. Aeriel gab ihr noch mehr davon, so viel sie wollte, und danach leuchtete ihr kristallener Panzer blau.

Einmal segelte sie an einer Inselgruppe vorbei, die in einem großen Halbkreis angeordnet dalag. An den Stränden konnte sie lange, schlanke Boote sehen, die an den Enden hochgebogen waren, wie die Fahrzeuge in Isternes. Sie glaubte auch, dunkle Gestalten am Strand zu erkennen.

Und dann wäre sie aus Unachtsamkeit, weil sie zu den Stränden hingesehen hatte, fast auf ein Riff gelaufen. Hart riss sie das Steuer herum, damit ihr Boot nicht zerschellte. Und auf einem dieser Felsen kniete ein sehr dunkelhäutiger Knabe. Er war bis auf einen Lendenschurz nackt.

Er hatte gerade ein Krabbennetz aus dem Staub gezogen und holte die Krabben heraus, die er in einen geflochtenen Korb warf. Er hatte sie nicht gesehen. Doch als sie vorbeisegelte, blickte er auf, entdeckte sie und zuckte zusammen.

Sie starrten sich an, während Aeriel in ihrem Boot vorbeiglitt: der schlanke, dunkelhäutige Junge, selbst seine Augen waren schwarz, und das hellhäutige Mädchen. Zwei Krabben befreiten sich aus seinem herunterhängenden Netz, fielen aufs Riff und vergruben sich sofort im Sand.

Dann verstärkte sich die Brise vor den Inseln, blähte das Segel und trug Aeriel wieder aufs offene Meer hinaus. Die dunklen Klippen und der Krabbenfischer blieben hinter ihr zurück. Nach ein paar Stunden Schlaf erspähte Aeriel die Westküste und die bewaldeten Hügel von Bern hinter dem Strand. Die See hatte hier eine grünliche Farbe angenommen; und der Tagmonat war fast vorüber.

Als Aeriel sich der Küste näherte, klang dumpfes Dröhnen an ihre Ohren. Gischt umgab sie, feinster Staub, und wirbelte zwischen den Wellentälern, aus denen scharf gezackte Felsen emporragten, hoch.

Aeriel ergriff die Ruderpinne und das Segeltau. Etwa eine Stunde segelte sie an der Küste entlang, aber die Felsen streckten sich endlos und gewährten keinen Zugang. Geht das immer so weiter?, fragte sie sich schließlich, als ihre Arme vor Schmerz ganz taub waren. Das Dämmerlicht ließ die Gebirgskuppen hinter der Küste golden erstrahlen.

Dann spürte sie plötzlich unter dem Boot eine Bewegung. Das Fahrzeug neigte sich, ein Paddel hing in der Luft. Aeriel verlor fast das Gleichgewicht. Sie brachte das Boot an den Wind und lehnte sich über Bord. Das Schiff richtete sich wieder auf, doch die Strömung hatte sie viel näher an die Küste getrieben.

Eine schmale Landzunge lag vor ihr, nicht weiter als eine halbe Meile entfernt. Auf ihr stand ein großer Turm, hoch über den Wellen, die gischtsprühend um die gezackten Felsen tanzten. Zwei parallel verlaufende Riffe bildeten eine schmale Zufahrt. Dann erblickte Aeriel unter der Oberfläche des grün leuchtenden Meeres ein breites rötliches Band. Handelte es sich um irgendeine unterschiedliche gefärbte Strömung? Wie ein Aal wand sie sich durch die enge Passage. Aeriel folgte ihr.

Felsen schlossen sie zu beiden Seiten ein. Der Wind zerrte an ihrem Segel; sie steuerte mit aller Kraft.

Das rechte Paddel kratzte über Stein. Sein Blatt zersplitterte. Sie spürte, wie das Ruder über Felsengrund schrammte, ächzte und dann in ihrer Hand zersplitterte. Der Kiel des Bootes bog sich.

Der Mast kippte um. Das Segel riss sich los. Entsetzt griff sie nach dem nächstbesten festen Gegenstand. Ihre Hand umschloss etwas Hartes, es war in Seide gewickelt. Sie ließ das Segeltau los, und das Segel wurde vom Wind auf die Küste zugetrieben. Das Boot sank.

Sie verhaspelte sich, versuchte zu waten, fand aber keinen festen Grund unter den Füßen. Wellen feinsten Sandes schlugen über ihrem Kopf zusammen. Sie schloss die Augen und hielt den Atem an. Nur dreißig Schritte vor ihr lag der Strand, und sie konnte ihn nicht erreichen. Sie ertrank im Sand.

Da hob sie etwas unter ihr an, stemmte sie hoch und trug sie an Land. Sie bekam wieder Luft sog sie keuchend ein. Blinzelnd versuchte sie, etwas zu sehen. Die grüne See hatte eine zinnoberrote Farbe angenommen.

In diesem Augenblick berührten ihre Handflächen und Knie etwas Festes, es war warm und nicht kalt wie der Sand. Sie war auf harte, flache Steine geschleudert worden.

Keuchend kroch sie aus dem Brandungsstreifen. Irgendetwas schleifte an ihrer Seite über den Boden. Überrascht sah sie, dass es ihre Laute war. Aeriels Kräfte ließen nach. Sie rollte sich auf den Rücken und starrte in den schwarzen Abendhimmel.

Ein riesiger, mit zinnoberroten Federn geschmückter Kopf tauchte aus dem Meer auf und blickte sie mit schlangengleichen Augen unverwandt an.

Das Bild der Schlangenaugen verfolgte Aeriel im Traum, bis sie erwachte. Es war Tag. Sie lag auf dem warmen, harten, zerklüfteten Küstenstreifen. Sie rieb sich den Sand aus ihren Augen und richtete sich auf. Das Gebirge war in Licht getaucht, der breite Strand lag noch im Schatten. Der Alptraum von dem Schlangenkopf war vorbei. Sie kniete und bemerkte, dass sie noch immer ihre in Seide gewickelte Laute umklammerte. Sie wickelte sie aus; das kleine Instrument aus Silberholz schien keinen Schaden genommen zu haben.

In der Nähe lag das Wrack ihres kleinen Bootes. Sie ging hin. Das Holz war zersplittert, das Segel zerfetzt. Ihre Vorräte waren fortgespült worden. Aeriel seufzte. Ihr Magen schmerzte vor Hunger.

»Nie werde ich die Sibylle in Orm aufsuchen können noch die lons von Westernesse finden«, murmelte sie, »wenn ich vor Hunger an diesem Strand sterbe.« Sie lachte. »Jetzt könnte ich wirklich den Beutel des Zwerges gut gebrauchen.«

Gerade als sie sich von dem Wrack abwenden wollte, sah sie, wie sich etwas darin bewegte. Dann krabbelte die kleine kristallene Sandlanguste aus dem Staub und winkte mit ihren winzigen Scheren. Aeriel lachte wieder, kniete nieder und barg das Tier in einer Falte ihres Gewandes.

»Nun«, sagte sie, »wollen wir mal sehen, ob wir etwas zu essen finden.«

So weit sie sehen konnte, war der Strand leer. Das Kliff vor ihr schien nur aus weißem Stein zu bestehen, doch als sie näher kam, sah sie, dass eine Treppe in den Felsen gehauen war. Die Stufen waren schmal und steil. Aeriel stieg langsam hinauf.

Oben stellte sie fest, dass die Landzunge sehr schmal war. In der Nähe stand der runde steinerne Turm. Daneben wuchs ein Baum.

Sein schlanker Stamm war knorrig; er hatte viele Äste von dunkelroter Farbe mit kleinen blassen Blättern. Genau in Augenhöhe entdeckte Aeriel eine Frucht. Sie war etwa halb so groß wie ihre Faust und herzförmig; von rotgoldener Farbe, leuchtete sie wie Bernstein im Licht des frühen Morgens.

Die Frucht fühlte sich warm an; der Sonnenstern hatte sie erhitzt. Ihre zarte Haut war mit feinen Härchen bedeckt wie der Pelz einer Hummel. Sie ließ sich leicht vom Stängel lösen. Die kristallenen Blätter klingelten. Die knorrigen Äste schwangen hin und her. Die Frucht roch wie mit Zimt verfeinerter Honig.

Aeriel fühlte sich schwach. Sie rieb die Schale; die Härchen fielen wie rötlicher Staub ab. Darunter war die Haut golden. Sie biss in die Frucht. Ihr Nektar war warm und süß, das Fleisch zart und würzig. Sie genoss es.

Ihre Schwäche schwand.

Nach ein paar weiteren Bissen blieb nur der harte Stein zurück. Mit dem letzten Bissen fütterte sie die Staublanguste.

»Diebin!«

Aeriel drehte sich überrascht um.

»Aprikosendiebin!«

Die Stimme kam aus dem Turm hinter ihr. Die kleine Languste versteckte sich schnell in einer Falte ihres Gewandes. Eine alte, gebeugte Gestalt erschien in der Türöffnung neben dem Baum. »Diebin meiner Aprikosen, glaubst du, du könntest dich ungestraft davonstehlen?«

Die dünne Gestalt humpelte auf einen Stock gestützt auf sie zu. Aeriel starrte mit weit aufgerissenen Augen. Auf der Türschwelle wuchsen Grasbüschel. Der Turm stand dunkel da.

»Ich wusste nicht, dass hier jemand lebt«, fing sie an.

»Du wuustest es nicht?«, schrie der Alte. »Dachtest wohl, der Turm hätte sich selbst gebaut, wie?« Er ordnete die Falten seines langen, schäbigen Gewandes. »Man kann nicht einmal einen Moment dösen, und schon kommen Diebe …«

»Ich bin kein Dieb«, beharrte Aeriel. »Ich wusste nicht, dass der Baum dir gehört. Ich habe nur eine sehr lange Reise hinter mir und seit Stunden nichts mehr gegessen und getrunken.«

»Das geht mich nichts an!«, schnappte der Alte. »Nur Reisende, die das Sandmeer überquert haben, dürfen von meinen Aprikosen essen.«

»Ich bin über das Sandmeer gekommen«, sagte Aeriel.

Der Alte blinzelte. »Unmöglich. Seit Jahren hat niemand mehr diese Reise gewagt.«

»Ich bin erst vor ein paar Stunden gelandet«, entgegnete Aeriel. »Mein Boot ist an den Felsen zerschellt.«

Der Alte sah sie aus zusammengekniffenen Augen an, humpelte dann zum Rand des Kliffs und spähte hinunter.

»Ganz recht. Ich sehe dein Boot«, murmelte er, als er zurückkam. »Total zersplittert. Ein Wunder, dass es dich nicht erwischt hat. Nun, in diesem Fall darfst du von der Frucht essen, aber du musst mir den Stein geben.«

Aeriel merkte, dass sie ihn noch immer in der Hand hielt. Der Alte entriss ihn ihr, ehe sie ihn daran hindern konnte. »Was machst du damit?«

Der andere schnaubte nur und drehte den Stein gedankenverloren in seinen knochigen Händen.

»Ich heiße Aeriel«, fügte sie nach einer Weile hinzu. »Und ich komme aus Isternes.«

Der Alte erwachte aus seinem Traum. »Du meinst wohl Esternesse? « Sie nickte. »Hm.« Er starrte sie wieder an. »Du trägst nicht die Tracht derer aus Esternesse.«

»Meine erste Heimat war Terrain. Dann lebte ich in Avaric. Dieses Gewand stammt aus Pendar.«

»Weit gereist«, murmelte der Alte. »Dann lebt deine Familie wohl in Terrain?«

Aeriel schüttelte den Kopf. »Ich habe keine Familie. Ich wuchs ohne Mutter auf, wurde als Baby verkauft.«

»Verkauft?«, rief der Alte. »Verkauft?« Dann schüttelte er den Kopf und murmelte: »Harte Zeiten, wenn man Kinder in Terrain verkauft, und wahrscheinlich auch anderswo, wenn es in Terrain geschieht. Wie lange ich geschlafen habe.« Dann wandte er sich wieder an sie. »Aber wie ich sehe, bist du keine Sklavin mehr. Eine reisende Geschichtenerzählerin, bist du deshalb unterwegs? «

Aeriel griff nach ihrer Laute, die über ihrer Schulter hing. »Das möchte ich werden.« Der Alte schwieg, er schien wieder tief in Gedanken versunken. »Und wer bist du?«, wagte sie zu fragen.

Er seufzte. »Hm? Oh, ich hüte den Turm. Ich kümmere mich um den Baum.« Er humpelte auf die Tür zu. »Komm mit, wenn du sehen willst, was ich mit dem Stein mache.«