14

Erwachen

Der Zwerg stand wie erstarrt da und sah voller Erstaunen und Verwunderung, wie Aeriel den Klumpen Blei aus der Brust des Vampirs herausschnitt und ihm ihr eigenes Herz einpflanzte. Er hätte nicht geglaubt, dass sie dazu imstande wäre, wo seine eigene Lösung des Problems so offenkundig schien. Nein, mit Sicherheit hätte er das niemals getan. Auch hätte er niemals geglaubt, dass irgendjemand Mitleid oder Erbarmen, geschweige denn Liebe für einen Engel der Nacht empfinden könnte. Erst als Aeriel zwischen den Aschehäufchen zu Boden sank und die Augen schloss, kam er wieder zur Besinnung und wusste, dass er schleunigst etwas tun musste, um sie zu retten.

Er nahm eine brennende Öllampe aus einer Wandnische und brachte sie an die Stelle, wo sie lag. Er kniete sich neben sie und prüfte über dem Mund ihren Atem. Ja, sie atmete noch, aber äußerst schwach. Der Lebenstrank, von dem sie als Braut des Vampirs gekostet hatte, hielt sie eben noch am Leben. Derjenige aber, der noch vor einer Stunde ein Vampir gewesen war, atmete von Mal zu Mal tiefer und kraftvoller.

Der kleine Magier nahm den Klumpen Blei vom Boden und hielt ihn über die helle Flamme der Lampe. Das kalte Metall wurde warm und weich in seinen Händen, bis sich schließlich die äußere Hülle verflüssigte und abtropfte. Der Zwerg nickte. Ja, darunter existierte noch immer lebendiges Fleisch, genauso wie er gehofft hatte. Warum hatte bloß Aeriel nicht das getan, was er gerade machte? Talb verzog die Mundwinkel. Liebe schien irgendwie das logische Denkvermögen auszuschalten. Er zuckte erregt die Achseln, besänftigte sich aber sofort. Na schön, wer konnte schon behaupten, dass ihre Methode nicht die bessere war?

Er ließ den letzten Rest Blei abtropfen, ehe er die Lampe zur Seite stellte und sich Aeriel zuwandte. Sie atmete kaum noch. Er bettete das Herzfleisch in ihre Brust und fügte die aufgetrennten Teile mit der Hand zusammen, dankbar dafür, dass die Mächte, die den Raum durchwebten, stärker waren als seine eigenen bescheidenen Fähigkeiten. Tief über sie gebeugt, wartete er ängstlich ab. Bald schon kehrte Farbe in ihr Gesicht zurück, und ihr Atem wurde kräftiger. Er übte sich in Geduld.



Als Aeriel die Augen aufschlug, sah sie den Zwerg neben sich kauern. Sie richtete sich ein wenig auf und blickte ihn verwundert an. »Wieso bin ich nicht tot?«, fragte sie ihn leise. Angst überkam sie, als ihr klarwurde, was es möglicherweise bedeuten könnte. Verwirrt sah sie sich um. Hatte der kleine Magier vielleicht ihre Tat rückgängig gemacht? Hatte er ihr das eigene Herz zurückgegeben und ließ den Engel der Nacht dafür sterben?

»Ruhig, meine Tochter!«, besänftigte er sie. »Er lebt. Ich habe dir das Herz des Vampirs gegeben.« Aeriel berührte ihre Brust und fühlte, wie Angst in Bestürzung umschlug. Der Zwerg fuhr fort: »Es war außen aus Blei, aber innen aus Fleisch. Ich habe das Blei entfernt und dir das Fleisch gegeben. Wie fühlst du dich? Ist alles in Ordnung?«

Aeriel nickte. In der Tat, bis auf eine kleine Schwäche fühlte sie sich so gut wie seit vielen Tagmonaten nicht mehr. »Und der Engel der Nacht?«, fragte sie. »Wie geht es ihm?«

»Er ist kein Vampir mehr«, antwortete der Zwerg, »auch kein Ikarus; doch es geht ihm gut. Komm, schau selbst. Er erwacht gerade.«

Aeriel richtete sich langsam auf, wartete, bis sich der Schwindel legte, und beugte sich über den Engel der Nacht. Seine Schwingen waren abgefallen, und die Federn lagen wie ein verstreuter Haufen Blätter auf dem Boden. Die Wundrisse auf Gesicht und Schulter hatten sich geschlossen und waren zu sauberen hellen Narben verheilt. Seine Jugend überraschte sie. Er schien nicht viel älter als sie.

Trotz der Wundmale war er von ausgesuchter Schönheit, schöner noch, als der Vampir je gewesen war. Seine Haut hatte die hellbraune Farbe der Flachlandleute, und sein Haar besaß das glänzende Schwarz Eoduins. Er regte sich wie in einem bösen Traum. Seine Lider zuckten. Aeriel beobachtete ihn genau, und als sich seine Augen öffneten, leuchteten sie so blau wie das Licht des Erdplaneten.

»Amme!«, rief er und fuhr in die Höhe. »Dirna, ich habe geträumt. « Seine jugendlich raue Stimme hatte noch etwas von ihrem kindlichen Klang bewahrt. Er saß einen Augenblick da, runzelte ängstlich die Stirn und murmelte wie zu sich selbst: »Ein langer und wunderlicher Traum …« Sein Blick fiel plötzlich auf Aeriel, und er erschrak: »Wer bist du?«, fragte er. Aeriel nannte ihm ihren Namen. »Was hast du geträumt?«, fragte sie.

»Ich erinnere mich …«, begann er. »Ich träumte, ich sei ein Vampir, der das Blut von Mädchen trinkt.« Er unterbrach sich verwirrt und blickte Aeriel prüfend an. »Du warst auch in meinem Traum«, sagte er. »Aber ich kenne dich nicht. Wie konnte ich da von dir träumen … ? Und da der Schatzmeister!«, rief er, als er den kleinen Mann neben ihr erkannte. »Was bringt dich zu solcher Stunde in mein Zimmer?«

»Wir kamen, um den Engel der Nacht zu töten, mein Prinz«, erklärte der Magier.

»Du bist Irrylath«, sagte Aeriel plötzlich leise. Diese Erkenntnis kam für sie nicht eben überraschend. »Dann ist dieses Schloss der Turm der Könige.«

»Ja, ich bin Irrylath«, erwiderte er. »Meine Mutter ist die Königin Syllva und mein Vater der König Imrahil. Mädchen, bist du eine von den neuen Hofdamen meiner Mutter? Wo ist Dirna, und wo sind meine anderen Diener?«

»Was hast du von Dirna geträumt?«, fragte der Zwerg freundlich.

Der junge Prinz überlegte eine Weile. Er zitterte wie bei einem Kälteschauer. »Ich träumte«, sagte er zögernd, »ich träumte, dass Dirna mich in einen stillen toten See stieß und dass ich dort am Grund des Sees zwischen Aalnestern und Wassergras lag, dass es sehr kalt war, bis mich eine Wasserhexe fand und zu ihrem Palast brachte.«

Aeriel dämmerte eine zweite Erkenntnis: »Die Wasserhexe des Vampirs und die Märchenhexe aus Dirnas Geschichte sind ein und dieselbe Person«, murmelte sie so leise, dass es kaum hörbar war. Nun verstand sie auch die Wüstenschakale und deren Jagd nach dem unsterblichen Huf des Sternenpferdes.

»Dort sprach sie Zaubersprüche über mich«, erzählte der Prinz weiter, »damit ich meinen Namen vergesse, und lehrte mich alle Dinge neu … wie man kleine Sumpfhühner erwürgt und … und anderes mehr.« Fröstelnd schloss er einen Augenblick die Augen. Aeriel schlang die Arme um ihren Leib. »Des Nachts sang sie mir vor. Sie erzählte, sie sei meine Mutter, und im Traum glaubte ich das. Sie sagte, wenn ich alt genug wäre, würde sie aus mir einen Vampir machen; ich würde werden wie meine sechs Brüder und die Königreiche dieser Welt erobern.« Er öffnete die Augen und starrte ins Leere. Aeriel hörte die wachsende Anspannung in seiner Stimme.

»Zehn Jahre vergingen, in denen ich in ihrem Palast lebte. Dann, eines Nachts, gab sie mir einen Trank, der sehr kalt war, und sie selbst trank mein Blut, damit mich die Kälte nicht tötete, und öffnete meine Brust mit ihrem Fingernagel, um mein Herz in Blei einzuschließen.« Aeriel legte die Hand auf ihre Brust, als der Prinz es ihr gleichtat. »Dann gab sie mir ein Dutzend große Flügel und trug mir auf, loszufliegen, mir ein Königreich zu suchen und in vierzehn Jahren mit den Seelen von ebenso vielen Mädchen zu ihr zurückzukehren. So flog ich heim zum Turm der Könige, dem Schloss meines Vaters, wenn ich es auch nicht mehr kannte. Aber mein Vater war tot und meine Mutter durch das Sandmeer fortgezogen. Dann raubte und heiratete ich vierzehn Mädchen in ebenso vielen Jahren.« Die Falte zwischen seinen Augenbrauen vertiefte sich. »Aber die letzte vergiftete mich.« Er wandte sich an Aeriel. »Sie sah aus wie du.« Aeriel konnte nicht antworten. Er wandte den Blick von ihr und rieb sich die Arme. »Solch ein schrecklicher Traum«, murmelte er. »Ich spüre noch die Kälte. Ich finde … meine Stimme klingt heute Morgen anders …«

Der Zwerg schüttelte den Kopf. »Es war kein Traum, mein Prinz.«

Der Jüngling sah ihn prüfend an, dann zu Aeriel. Schließlich schüttelte er den Kopf und versuchte zu lachen. »Nein, sicherlich treibt ihr eure Scherze mit mir. Alles ist so, wie vor dem Schlafengehen, ehe ich … zu Bett ging. Ich ging … ist es schon Morgen?« Seine Worte kamen immer langsamer. Nun aber stieß er sie wieder rascher hervor. »Ich muss früh aufstehen. Ich will mit meiner Mutter auf eine Pilgerreise nach Lonwury …« Er unterbrach sich und verfiel abermals ins Gegenteil. »Oder … aber … ich war ja schon in Lonwury. Wir blieben ein ganzes Jahr dort. Und dann, in der Wüste, da weckte mich Dirna … ich … oder war auch das nur ein Teil meines Traumes?«

»Sieh dich an, mein Prinz«, entgegnete der Magier. »Du bist kein kleiner Junge mehr. Sieh die Narben auf deinem Gesicht und auf deiner Schulter. Höre den tiefen Klang deiner Stimme. Dieses Schloss ist öd und leer. Da ist noch die Kette, die dir die Wasserhexe gegeben hat. Die Asche der Mädchen liegt verstreut auf dem Boden, und am Himmel leuchten dreizehn neue Sterne.«

Irrylath blickte langsam um sich. Er schwieg jetzt, und Aeriel sah das Flackern in seinen Augen, als er die Asche, die Kette und die nachtschwarzen Federn am Boden entdeckte. Seine Bewegungen hatten sich unmerklich verändert, waren schwerer, gedehnter geworden, und sein Gesicht wurde aschfahl, als er die Hand an den Hals führte, dort, wo früher die Kette gewesen war. Auch befühlte er sein nun flügelloses Schulterblatt und fuhr sich über die frisch verheilten Narben auf der Wange. Seine Haltung wurde starr.

»Ich erinnere mich«, murmelte er schwer ausatmend. Seine Stimme bebte. »So ist es denn … alles wahr und kein Traum.« Er drehte sich plötzlich zu Aeriel um und starrte sie an. »Ich lebte zehn Jahre bei der Wasserhexe und weitere vierzehn als Engel der Nacht.« Er hob eine Handvoll Asche vom Boden und sah zu, wie der feine Staub durch seine Finger rann. »Ich habe gemordet …« Er schloss die Augen und schluckte mühsam. »Schlimmeres noch tat ich, als dreizehn Mädchen zu ermorden. Ich erinnere mich jetzt.« Seine Stimme war zu einem heiseren Flüstern geworden. Er hob den Blick von seinen leeren Händen und richtete ihn wieder auf Aeriel. »Ich hätte auch dich ermordet.«

Das Zittern in seiner Stimme quälte sie und ließ ihr eigenes Herz vor Schmerz erbeben. »Nur Mut!«, sagte sie. »Sei ganz ruhig! « Dabei streckte sie die Hand aus, um die seine zu berühren. »Du bist nicht mehr der Engel der Nacht.«

Aber er erschauerte unter ihrer Berührung und zuckte zurück, als hätte sie ihn gestochen. »Ich bin es noch!«, schrie er. »Ich war es!«

Auch Aeriel schreckte zurück. »Was habe ich da getan?«, murmelte sie und starrte ihn an. »Ich wollte nicht nur deinen Körper heilen.«

Er schüttelte den Kopf. »Warum hast du mich verschont?«, flüsterte er. »Ich verstehe nichts mehr.«

Aeriel suchte nach den richtigen Worten. »Es war noch ein wenig Gutes in dir. Du hast es zugelassen, dass ich die Ungeheuer fütterte, verschontest die Fledermäuse und schließlich mehr als einmal mein eigenes Leben.«

Irrylath schloss die Augen. »Das tat ich nicht aus Güte«, sagte er. »Mit Sicherheit nicht.«

»Selbst wenn …«

»Bitte, Kinder!« Der Zwerg unterbrach sie mit freundlich tadelnder Stimme. Der Prinz fuhr in die Höhe, als hätte er den kleinen Magier vollkommen vergessen. Aeriel wandte sich langsam nach ihm um. »Bitte, Kinder«, sagte Talb wieder. »Liebe und Barmherzigkeit kann man nicht erwerben. Es sind natürliche Gaben. Die barmherzige Liebe dieses Mädchens hier ist der Beginn deiner Heilung, mein Prinz. Wer weiß schon, was sie mit der Zeit noch alles fertigbringt? Und das ist gut so. Doch im Augenblick, denke ich, sollten wir uns dringenderen Problemen zuwenden.«

»Die Wasserhexe«, sagte Aeriel.

»Genau«, erwiderte der Magier.

»Sie muss vernichtet werden«, sagte Irrylath mit rauer, hasserfüllter Stimme. »Ich muss …«

Aber der Zwerg schüttelte den Kopf. »Ich fürchte, dass dies deine Kräfte übersteigt, mein Prinz«, sagte er freundlich, »nicht nur deine, sondern jedermanns, will ich meinen.«

»Aber was soll geschehen?«, fragte Aeriel.

»Sie wird wieder ein Kind rauben und aus ihm einen Vampir machen, wenn sie erfährt, dass sie mich verloren hat«, murmelte der Prinz mit zusammengepressten Zähnen. Seine Hände verkrampften sich.

»Und das müssen wir um jeden Preis verhindern«, bestätigte der Zwerg mit wachsendem Ernst. »Denn wenn sie sieben sind, werden sie unüberwindbar sein.«

»Aber da ist noch die Diamantenklinge«, sagte Aeriel.

»Ich kann sie führen«, sagte der Prinz und hob sie mit grimmigem Blick vom Boden auf, »gegen die Vampire.« Und er fügte mit stockender Stimme, als sein Blick auf die Asche am Boden fiel, hinzu: »Wenn ich nur etwas von dem Bösen wiedergutmachen könnte. Vielleicht wird dann …«

»Aber wie willst du ohne Pferd gegen sie antreten, mein Prinz?«, fragte der Zwerg.

»Pferde sind nicht schwer aufzutreiben …«, begann Aeriel.

»Aber solche, wie wir sie brauchen, schon, meine Tochter. Ein geflügeltes Schlachtross für einen geflügelten Feind.«

Irrylaths Blick senkte sich. Er legte den Dolch wieder zurück. »Das Sternenpferd ist tot«, sagte er betrübt, »das einzige geflügelte Pferd auf dieser Welt.« Und gepresst fuhr er fort: »Ich selbst vertrieb es nach Pendar, wo es starb.«

Der Zwerg schwieg. Er schien zu warten. Aeriel saß wie der Prinz einen Moment in Schweigen versunken da. Dann stand sie auf und ging zu der Stelle, wo der Vampir nach dem Hochzeitstrank den Silberhuf des Sternenpferdes fallen gelassen hatte. Sie hob das glänzende Gefäß auf und sagte langsam: »Der Avarclon gilt als unsterblich, trotzdem sah ich ihn sterben. Dieser Huf ist von den anderen drei verschieden. Er leuchtet und zerfällt nicht wie Fleisch oder Knochen. Der Löwe nannte ihn den ›unsterblichen Huf‹.«

Der Zauberer lachte sein weises Lachen. »Kluges Mädchen«, sagte er, »auch dieses letzte Rätsel hast du richtig gelöst. Du musst den Huf mitnehmen nach Esternesse. Dort leben Priesterinnen und weise Männer mit dem Wissen der Alten Gründer und Weltenerbauer. Mit ihrer Zaubermacht können sie das Sternenpferd zu neuem Leben erwecken, seine Seele aus der Weltmitte zurückberufen und ihm neues Fleisch, Blut und Knochen geben.« Zu Irrylath gewandt, setzte er hinzu: »In einem Jahr wird es neu erstanden sein aus seinem unvergänglichen Huf und dich auf seinem Rücken gegen die sechs Vampire in den Kampf tragen.«

Der junge Mann hob den Kopf. »Esternesse«, sagte er leise und gedehnt. »Meine Mutter lebt in Esternesse.«

»Und du würdest sie gerne wiedersehen, nicht wahr?«, fragte ihn Aeriel.

Sein gehetzter Blick suchte ihre Augen. »Ich … nein … ja, sicher doch«, pflichtete er ihr schließlich bei und senkte dann die Lider. »Sogar sehr.«

»Aber wie?«, murmelte Aeriel. »Wie sollen wir das Sandmeer durchqueren, so ohne Schiff und Segel?«

»Ach, Kinder, ihr habt doch ein Segel«, sagte der Zwerg, »oder das, was man dazu braucht. Und was das Schiff betrifft, so glaube ich kaum, dass ihr eins braucht.«

Aeriel musterte den kleinen Magier eine Zeit lang voller Verwunderung, bis sie sah, dass er auf die Federn blickte, die dort, wo der Ikarus gefallen war, in Haufen am Boden lagen.

»Meine Schwingen«, hörte sie Irrylath murmeln und glaubte, in seinem Tonfall so etwas wie eine neue Hoffnung zu erkennen. »Die Federn meiner Schwingen …Es sind Tausende, genug, um daraus einen großen Teppich zu weben.«

Aeriel schwieg eine Weile und blickte auf den kleinen Mann. »Du wirst doch mit uns kommen, Talb, oder?«, fragte sie ihn. »Mit nach Esternesse.«

»Das kann ich nicht«, antwortete er, »denn ich habe noch eine Aufgabe zu erledigen.« Er nahm die Bleikette des Vampirs und steckte sie in seinen Ärmel. »Das da bringe ich der Wasserhexe. « In seinen Augen stand ein listiges Lachen. »Ich werde ihr sagen, Prinz, dass ich dein Diener bin und kein Wort natürlich davon, dass du nicht länger der Ihrige bist. Ich werde sagen, dass du mich beauftragt hast, ihr unverzüglich den Tribut zu überbringen, und dass du am nächsten Morgen nachkommen wirst. Sie wird ziemlich durstig sein, da es viele Jahre her ist, seit sie die letzten Seelen getrunken hat.«

»Aber die Phiolen sind leer«, sagte Aeriel.

»Das werden sie nicht mehr sein, wenn ich sie ihr gebe. Ich denke, ich habe noch vierzehn Tropfen von meinem Trank, nicht genug, um die Hexe zu vernichten oder ihr gar zu schaden, aber genug, um sie von dem bitteren Geschmack kosten zu lassen. «

»Sie wird dich töten«, sagte der Prinz.

»Das glaube ich nicht«, erwiderte der Zwerg, »nicht, wenn ich vorsichtig bin. Ein wenig steckt in mir auch etwas von einem Hexenmeister, und da kenne ich den einen oder anderen Trick. Nun gut, Kinder …« Er nickte beiden zu. »Ich muss mich sputen. Und was euch betrifft, so gibt es noch eine Menge Webarbeit zu tun.«

Und noch ehe einer der beiden ein Wort herausbrachte, um ihn zurückzuhalten, drehte er sich hurtig um und verschwand.



Später, lange, lange Zeit danach sangen die Barden das Lied von den erstaunlichen Abenteuern der Reise des Zwerges ins Reich der Wasserhexe, einer Reise sowohl über wie unter der Erde, und von den vielen Wunderdingen, denen er begegnete; und weiter sangen sie von seiner trickreichen Verstellung, wie er die Prüfungen der vielen Hexenwächter bestand und schließlich bei der Hexe vorgelassen wurde. Auch davon, wie er sie dazu verleitete, die vierzehn Kapseln zu trinken, und von ihrer unbändigen Wut, als sie seinen Betrug entdeckte, und wie er schließlich aus ihren vielen Fallen und Schlingen entschlüpfte und ihren Nachstellungen entkam … Doch das ist eine ganz andere Geschichte, und es genügt zu erwähnen, dass es vollbracht wurde.

Und was Aeriel und ihren Prinzen betrifft, so webten sie die liebe lange Nacht und fertigten ein großes Segel an, das sie sicher nach Esternesse tragen sollte. Aeriel brachte Nahrung aus den lichten Höhlen, doch sie aßen oben im Schloss, denn obgleich die Hallen noch immer öd und leer waren, hatten sie ihre eisige Kälte verloren. Irrylath arbeitete schweigend, fast fieberhaft neben ihr und half die nachtschwarzen Federn glätten. Wenn sie ihn überreden konnte zu erzählen, was stets leise und verhalten geschah, so berichtete er einzig von seiner Kindheit im Schloss oder der Wallfahrt nach Lonwury. Häufig jedoch, wenn er schlief, erwachte er schreiend. Dann stürzte sie zu ihm ins Schlafgemach und riss ihn aus seinen bösen Träumen. Doch wollte er nie darüber sprechen und drehte sich jedes Mal von ihr weg.

»Die Zeit wird kommen«, murmelte sie leise, als er wieder eingeschlafen war, »wo du dich nicht mehr von mir abwenden wirst«, und dann überließ sie ihn einem ruhigeren Schlaf.

Und als schließlich die letzte Morgendämmerung anbrach, nahmen die beiden ihr fertiges Fluggerät und brachten es in den Garten, der zum ersten Mal seit vielen Jahren Früchte zu tragen begann. Sie fassten die Ecken und überließen ihr Fahrzeug den Kräften des luftigen Elements. Der Steppenwind erfasste es und hob es wie den Flügel eines Raben. Der Westwind trieb sie hoch über die Ebene dahin. Weit hinten am Horizont konnte Aeriel die Wüste von Pendar erkennen, und sie sandte ein Stoßgebet für den Pendarlon gen Himmel, dass er inzwischen geheilt sei von seinen Wunden. In der anderen Richtung erblickte sie die Berge von Terrain mit ihrem Heimatdorf zu ihren Füßen. Vor ihnen breitete sich das Sandmeer aus, und dahinter lag die Stadt Esternesse.

Und als sie gerade über die Ebene hinweg das Meer erreichten, hörten sie weit hinter sich einen grässlichen Schrei. Er kam aus der Tiefe des Toten Sees am Rande der Wüste und verkörperte mehr Wut und Hass, als Aeriel in ihrem Leben gehört hatte.

»Die Hexe«, hörte sie Irrylath hinter sich stöhnen. »Sie hat den Zwerg durchschaut und auch, dass ich für sie verloren bin.«

»Talb«, sagte Aeriel, während sie dem wilden Schrei lauschte, »ich hoffe, er ist in Sicherheit. Falls sie ihn gefangen genommen hat …«

Doch ihr Gefährte schüttelte den Kopf. »Nein«, erwiderte er leise und mit dem ersten Anzeichen innerer Ruhe und echter Hoffnung seit seinem Erwachen. »Ich glaube, wir brauchen um ihn nicht zu fürchten.«

Der Schrei der Weißen Hexe schwoll an, wurde lauter, schriller und endete dann in einem Kreischen, das die Luft erzittern ließ. Als sein Echo von den Bergen zurückrollte und langsam erstarb, blickte Aeriel hinauf zu dem stark geblähten Segel und sah, nachdem auch der letzte Zauber der Hexe seine Kraft verloren hatte, dass es nun in leuchtendem Weiß erstrahlte. Und so überflogen sie und der Königssohn auf einem Teppich aus schneeweißen Federn das Sandmeer und landeten am selben Tag noch in der Stadt Esternesse.