8
Aeriels Flucht und die Suche nach dem Sternenpferd
Die Reise war lang und geschwind zugleich. Der Fluss bog erst nach rechts, dann nach links ab und schien in einer seltsam unregelmäßigen Spirale unter dem Schloss des Vampirs in die Tiefe zu fließen. Stets ging es abwärts durch endlose Reihen natürlicher Höhlen. Einige waren geräumig, von teils riesigem Ausmaß, mit Säulen und spitzen Sockeln aus kristallinem Kalkstein. Andere waren lang und niedrig, eher Tunnel als Gemächer.
In einer dieser Höhlen befand sich eine Öffnung oben im Fels, durch die Aeriel die Sterne sehen konnte. In ihrem fahlen Licht und dem helleren Glanz des Flusses entdeckte sie Fledermäuse. Wie Silbermotten flogen sie durch die Öffnung und in der Höhle umher, und viele von ihnen hingen wie zitternde Blätter an den Wänden und der Decke. Ihr Piepsen, oder das, was sie davon hören konnte, klang hoch und schrill. Aeriel lachte und war überrascht, als sie feststellte, wie tief ihre Stimme dagegen wirkte.
Eine andere Höhle, die sie Stunden später durchfuhr, war voller silbriger Waben, aus denen Honig wie flüssiger Bernstein tropfte. Die riesigen, stachellosen Bienen hatten ein samtartiges graugoldenes Fell mit rosa Streifen. Aeriel sah sie ihre sechseckigen Wachszellen bauen und mit süßem Honig füllen, um damit ihre farb- und formlosen Larven zu füttern. An der entlegensten Seite der Höhle, auf der größten Wabe, entdeckte Aeriel die Königin. Sie war größer als alle anderen Bienen und von Dienerinnen und plumpen Drohnen umgeben.
Viel später, als Aeriel aus einem erholsamen Schlummer erwachte, fand sie sich in der größten Höhle wieder, die sie je gesehen hatte. Sie war riesig und dunkel. Nirgends konnte sie eine Begrenzung erkennen, nur über ihr die mit Glühwürmchen übersäte Decke, von denen jedes einzelne in hellgelbem Licht wie Phosphor brannte. Leuchtkäfer tanzten wie Kerzenflammen durch die Dunkelheit darunter. Der Fluss war sehr flach und seicht geworden, und Aeriel begriff, dass sie nicht mehr unter dem Gebirge, sondern schon unter der Ebene dahinfuhr. Die Höhle der Glühwürmchen schien kein Ende nehmen zu wollen. Sie schlief wieder ein und träumte, durch den Sternenhimmel zu reiten.
Als sie das nächste Mal erwachte, glaubte sie sich zuerst noch immer in den Höhlen, doch dann bemerkte sie, dass die Lichter über ihr kleiner und silbriger waren und Oceanus silbrigblau in der Mitte des Himmels stand. Beidseitig des Flusses zogen sich schmale flache Strände hin, die von steilen, aber niedrigen Böschungen begrenzt wurden. Dann bemerkte sie, dass ihr Boot sich nicht mehr bewegte. Das Segel war zwar gebläht, und das Boot bäumte sich im hellen Wasser des Stromes auf, aber es saß auf einer kleinen Sandbank fest.
Sie stieg aus, um es ins tiefere Wasser zu ziehen, doch ehe sie es berühren konnte, schoss es davon, so schnell wie ein Windhund. Zum Glück fiel Aeriel ein, dass sie das Boot ja sowieso aufgeben musste, wenn sie die Ebene erreicht hatte. Sie prüfte, ob der kleine Samtbeutel noch fest an ihrem Gürtel hing, überquerte den schmalen Strand und erklomm die steile Böschung.
Oben blickte sie zurück auf den Fluss, um ihr Boot Wind-aufdem-Wasser ein letztes Mal zu sehen, aber sie entdeckte keine Spur von ihm. Nur ein großer Reiher schwebte tief über dem schnell dahineilenden Wasser. Das Federkleid des Vogels glänzte weiß, weißer noch als Schnee im Erdenlicht. Er schlug zweimal mit den Schwingen, zog nach rechts und stieg dann aus dem Flusstal hinauf in den nachtschwarzen Himmel. Aeriel sah noch, wie er über die Ebene auf Oceanus zuflog.
Der Wind fegte über Avaric, bog das Gras wieder und wirbelte Aeriels Haar durcheinander. Sie lachte. Erst jetzt, in der Freiheit, spürte sie, wie sehr sie das Schloss des Vampirs bedrückt hatte. Zurückblickend sah sie den Reiher als winzigen Punkt am fernen Horizont. Leise murmelte sie noch einmal den Zauberreim vor sich hin.
Dann wandte sie sich Oceanus zu und lief mit kräftigen Schritten hinaus in die Steppe.
Der Weg erwies sich weitaus mühsamer, als sie angenommen hatte. Sie
wanderte stundenlang durch graugrünes Gras und sank dann, um
auszuruhen, mit zitternden Knien nieder. Sie aß von den Speisen aus
dem Beutel und schlief auf der Erde, die weich
und angenehm war. Der Steppenwind wehte warm, und sie brauchte kein
Lagerfeuer.
Manchmal sah sie in der Ferne rechts und links kleine Vögel oder Wildesel mit einem goldgrünen Streifenmuster an den Flanken. Sie begegnete auch Antilopen, Steppenhühnern und einmal sogar einem Paar graubraun gesprenkelter Wildhunde. Die beiden beobachteten sie aus sicherer Entfernung und jaulten nur leise. Nach und nach, während die Tage vergingen, als Wandern, Ruhen und Schlafen zur selbstverständlichen Routine geworden waren, veränderten die Sterne sichtbar ihre Position, und die zu- und abnehmende Sichel des Oceanus stand etwas höher am Himmel.
Während sie weiter und immer weiter durch die Steppe zog, veränderten sich Boden und Bewuchs: Das Erdreich wurde lockerer und trocken, das Gras kürzer und spärlicher und war mit niedrigem Buschwerk durchsetzt. Und als schließlich die Sonne über den Bergen im Westen aufging, stand Aeriel am Rande der Steppe und am Anfang der Wüste.
Der Sand, über den sie von nun an wanderte, war weiß, mit einem fahlen orangefarbenen Schimmer. Obwohl er völlig trocken war, klebte er zusammen, so dass sich eine feine Kruste auf der Oberfläche gebildet hatte. Diese Kruste schien weder dick noch hart genug zu sein, um sie zu tragen; Aeriel fand jedoch heraus, dass sie bei hohem Tempo nicht einbrach, wenn sie langsam ging, jedoch knöcheltief in den weichen, groben Sand sank.
Sie war noch nicht lange nach Sonnenaufgang unterwegs und deshalb noch nicht weit in die Wüste eingedrungen, als sie hinter sich jemanden rufen hörte. Verwundert blieb sie stehen. Es war fast zwei Wochen her, dass sie eine menschliche Stimme gehört hatte. Sie drehte sich halb um, voller Vorfreude bei dem Gedanken, jemandem zu begegnen, als die Sandkruste unter ihren Füßen einbrach. Und sie erkannte ihn: Der Engel der Nacht kam von Norden her wie ein Riesenfalke mit nachtschwarzen Schwingen auf sie zugeflogen.
Sie dachte nicht daran, sich zu verstecken, wie hätte sie das auch bewerkstelligen sollen, aber sie wollte ihm auch nicht begegnen. Wenn sie die Geisterfrauen retten wollte, durfte sie sich nicht von ihm gefangen nehmen lassen. Sie trug die Verantwortung für den Plan des Zwerges. Sie rannte los.
Leichtfüßig lief sie über den Sand, der gerade noch trug, ehe er nachgab, und sie hinterließ eine sichelförmige Spur in den Sanddünen. Von einem Hügel zum nächsten floh sie und fühlte, wie ihr Haar hinter ihr herflatterte. Sie sah sich nicht um.
Die Dünen erschienen ihr endlos. Ihr Atem kam stoßweise, ihr Puls raste, ihre Beine wurden schwer. Keuchend rang sie nach Luft, als sie im Rücken den Flügelschlag des Engels der Nacht spürte und erkannte, dass er über ihr war. »Dreh dich um!«, schrie er, und seine Worte klangen in ihren Ohren wie dumpfes Knurren. »Dreh dich um und sieh mich an!« Sie hörte nicht, sie antwortete nicht, sie lief weiter.
Dann stieß er hinab. Aeriel fiel und rollte die Düne hinunter; seine Flügelspitzen berührten ihre Wangen. Dann stieg er wieder empor, um ein zweites Mal anzugreifen. Aeriel sprang auf und stürzte davon. Die Sandkruste war eingebrochen, als sie sich zu Boden geworfen hatte, und nun spürte sie den Sand in Augen, Ohren und Haaren. Sie wischte ihn aus ihrem Gesicht und rannte weiter.
Wieder stieß der Vampir hinab, doch diesmal nicht tief genug. Sie duckte sich und eilte weiter. Der Ikarus stieß einen Wutschrei aus und schraubte sich für einen neuen Angriff in die Höhe. Aber sein Schrei wurde beantwortet: Über die Dünen erklang ein Brüllen, wie rollender Donner. Aeriel drehte sich um. Hinter ihr, auf einem Dünenkamm, stand eine große Bestie, ein Löwe mit goldener Mähne. Sein Körper glänzte weißgolden; er strahlte wie die Sonne.
Der Ikarus stieß wieder einen Wutschrei aus, und der Löwe antwortete ihm mit einem Brüllen, das die Luft zum Zittern brachte. Einen Augenblick dachte Aeriel, es käme zum Kampf: Der Engel der Nacht schwebte im dunklen Himmel direkt über ihm; der Löwe lag geduckt zum Sprung da. Plötzlich drehte der Ikarus ab und schoss wie ein Pfeil auf Aeriel zu. Der große Löwe verfolgte ihn. Aeriel floh wie ein Reh in weiten Sprüngen.
Nun waren beide hinter ihr her und kamen immer näher. Sie vernahm die Pranken des Löwen im Sand und in der Luft den Flügelschlag des Vampirs. Und schneller, immer schneller verkürzte sich der Abstand. Schon konnte sie den Atem der beiden hören, den des Vampirs hart und heiser, den des Löwen weich und tief. Als ihr klarwurde, dass beide sie zugleich erreichen und zerreißen würden, packte der Vampir sie.
Erst zog er sie am Haar, dann am Arm und hob sie in die Höhe. Seine Hand war so kalt, dass es sie verbrannte. Sie blickte in seine Augen, und sie waren farblos wie Eiweiß, wild, voller Wahnsinn. Er biss sie in die Kehle, und Aeriel schrie. Der Löwe sprang. Als er mit dem Engel der Nacht zusammenprallte, wurde sie durchgerüttelt, und der Vampir torkelte in der Luft. Der Ikarus schrie auf und ließ sie los, als die große Katze ihm mit den Krallen das Gesicht zerschnitt.
Doch sie war zwischen den beiden eingeklemmt und konnte nicht fallen. Ihre rechte Seite war wie erstarrt gegen den blutleeren Körper des Ikarus gepresst, während die linke wie Feuer vom Körper des Löwen brannte. Mit der anderen Pranke schlug die große Katze vier tiefe Wunden in die Schulter des Vampirs. Der Ikarus wand sich vor Schmerz. Der Löwe fiel auf die Erde. Auch Aeriel stürzte und lag benommen im Sand. Sie starrte auf die klaffenden Wunden des Engels der Nacht.
Doch ehe der Vampir sich erholen konnte, war der Löwe zwischen ihn und Aeriel gesprungen. Der große goldene Kopf der Katze beugte sich über sie. Sie machte die Augen zu und bereitete sich auf ihren Tod vor. Da schloss sich sein Maul sanft um ihren Arm. Er zog sie hoch und warf sie über seine Schulter, dann eilte er in großen Sätzen über die Dünen davon. Aeriel lag benommen auf seinem Rücken. Ihre Kehle schmerzte dort, wo der Vampir sie gebissen hatte, wie Feuer und Eis zugleich. Sie fühlte sich so erschöpft, dass sie kaum atmen konnte. Sie spürte, wie der Löwe sie mit seinen großen scharfen Zähnen festhielt, ohne sie zu verletzen. Sie spürte, wie der Wind über ihren Körper strich und die Bewegung der harten, geschmeidigen Muskeln des Löwen. Sein Fell war so weich und warm wie Sonnenlicht, und sie fühlte, dass sein Körper unter dem Fell noch heißer war. Er roch nach Öl und Sandelholz.
Sie sah den Ikarus am Himmel, hinter ihnen. Er machte keinen Versuch, ihnen zu folgen, kreiste nur in der Luft, beobachtete sie und schrie vor Wut. Der Rhythmus seiner schnellen Rabenschwingen schien gestört ungleichmäßig, seltsam abgehackt. Mit jedem Satz des Löwen wurde er kleiner. Schließlich drehte er ab und kehrte lahm und langsam zu seinem Schloss zurück.
Plötzlich merkte Aeriel, dass sie an der Kehle blutete. Blut floss aus der Wunde, die der Vampir ihr zugefügt hatte. Ihr war kalt; ein Schauder durchfuhr sie. Der Wind ließ das Blut auf ihrem Gewand schnell trocknen, und es klebte an ihr fest. Angeekelt starrte sie es an. Ihr Kopf wurde sehr leicht, und wenig später schwanden ihr die Sinne.
Als sie erwachte, lag sie auf Sand. Die Sonne brannte ihr heiß ins
Gesicht. Ihre Kehle schmerzte. Sie hörte ein plätscherndes Geräusch
zu ihrer Linken. Sie lauschte, wollte jedoch die Augen noch nicht
öffnen. Und gerade als sie in einen leichten Schlummer gleiten
wollte, benetzten ein paar Wassertropfen ihre Wangen. Wieder hörte
sie es plätschern, und gleich darauf spürte sie noch mehr Tropfen
auf ihrer Wange. Sie blinzelte und öffnete die Augen. Neben ihr im
Sand saß der Löwe und spritzte Wasser von seiner großen Tatze in
ihr Gesicht.
»Ah, du bist wach geworden, mein Kind«, sagte er. Seine Stimme klang sehr ruhig und tief. »Wie fühlst du dich? Kannst du aufstehen?«
»Ich weiß es nicht«, sagte sie. »Ich fühle mich schwach.«
Der Löwe nickte. »Das war zu erwarten. Der Biss eines Vampirs ist eine ernste Sache. Komm, du musst versuchen, dich aufzusetzen. Deine Wunde muss versorgt werden.«
Aeriel brachte sich mühsam in eine sitzende Position. Einen Moment drehte sich der Himmel über ihr und drohte auf sie zu fallen. Sie stützte den Kopf auf die angezogenen Knie. Erst jetzt staunte sie darüber, am Leben zu sein, dass der Löwe sie vor dem Vampir gerettet hatte und mit menschlicher Stimme sprach.
Sie verharrte in der Haltung. In der Nähe gab es Wasser. Sie streckte die Hand aus, fühlte den nassen Sand, dann Flüssiges. Sie tauchte die Hand ins Wasser, schöpfte davon und trank ein wenig; doch das Schlucken war schwierig und schmerzhaft. Sie benetzte ihren Nacken. Die Wunde brannte vom Wasser, aber der Schmerz ließ nach.
Sie trank wieder. Das Wasser war warm und hatte eine schwache blaugrüne Färbung. Der Geschmack erinnerte sie an frische Kresse, und es roch nach Leben. Sie hob etwas den Kopf und sah, dass sie neben einem winzigen Tümpel saß, nicht größer als eine Pfütze im Sand. Winzige Wasserpflanzen wuchsen auf der Oberfläche, und zwischen ihnen quakten ein Dutzend Miniaturfrösche. Sie entdeckte auch vier Schnecken mit Häusern auf dem Grund des Tümpels und zwei, die am Wasserrand entlangkrochen.
»Das da«, sagte der Löwe, »hilft es gegen den Schmerz?«
Aeriel erschrak. Er saß so unauffällig da, dass sie ihn fast vergessen hätte. »Ja«, sagte sie schwach, »sehr.«
»Nimm ein paar von den Wasserpflanzen, und leg sie auf die Wunde«, riet er. »Sie helfen besser als nur das Wasser.«
Aeriel tat, wie ihr geheißen. Die kleinen grünen Fasern waren überraschend würzig im Geruch, und als Aeriel sie auf ihren Hals legte, durchströmte sie eine wohlige Wärme. Langsam klang der kalte, dumpfe Schmerz ab. Noch war sie benommen, drohte, manchmal fast ohnmächtig zu werden, aber sie hatte keine Schmerzen mehr. Nach einer Weile verspürte sie Hunger und griff, ohne nachzudenken, in ihren Beutel. Da fiel ihr der Löwe ein, und sie sah ihn an.
»Bist du hungrig?«, fragte sie schüchtern. »Möchtest du etwas essen?« Trotz seiner zurückhaltenden und freundlichen Art hatte sie noch immer Angst, er könnte sich auf sie stürzen und verschlingen.
Der Löwe neigte den Kopf mit vollendeter Grazie und erwiderte: »Es wäre mir eine Ehre.«
Sie griff in den Beutel, stopfte aber die Rosenbirne wie auch das Bündel Zuckerrohr zurück. Das war nicht das Richtige für einen Löwen. Schließlich fand sie etwas Brauchbares; einen gekochten Flusskrebs. Sie hielt ihn ihm ängstlich hin, denn sie fürchtete, er würde ihn mitsamt ihrer Hand zwischen seinen gewaltigen Kiefern zermalmen. Stattdessen beugte er sich herab und holte ihn äußerst behutsam aus ihrer kleinen Hand. Dann nahm er das Krustentier zwischen die Tatzen und begann nun mit solchem Anstand und solcher Würde zu speisen, dass sie es einfach nicht glauben konnte. Sie kam sich dumm und unerzogen vor, während sie an dem kleinen runden Käse nagte, den sie für sich aus dem Beutel genommen hatte.
»Möchtest du noch etwas?«, fragte sie schnell, als er den Krebs aufgegessen hatte.
»Nein danke, meine Tochter«, sagte er höflich. »Heb den Rest für dich auf.«
Aeriel begriff nun, dass er ihre Einladung nur aus Höflichkeit und nicht weil er hungrig war angenommen hatte. Sie freute sich, dass er nicht gefräßig war. Sie knabberte an ihrem Käse und fühlte sich sehr erschöpft.
»Du hast mich vor dem Vampir gerettet«, sagte sie schließlich. »Warum?«
»Es ist meine Pflicht, alle Lebewesen innerhalb der Grenzen meines Reichs zu beschützen, mein Kind«, antwortete die große Katze. »Und außerdem mag ich die Vampire nicht besonders.«
»Ich hab dich gar nicht gesehen, ehe er auftauchte. Warst du etwa die ganze Zeit in der Nähe?«
»Oh nein, meine Tochter, nein. Ich bin von sehr weit herkommen, um dich zu finden.«
»Mich zu finden?«, fragte Aeriel. Ihr Kopf war schwer; sie stützte ihn mit der Hand. »Du wusstest also, dass ich komme?«
Der Löwe nickte. »Ein weißer Reiher berichtete mir, dass du bei Sonnenaufgang meine Südgrenze überschreiten würdest. Ich war schon einige Stunden auf der Suche, ehe ich dich entdeckte.«
»Ein weißer Reiher«, murmelte Aeriel. »Wind-auf-dem-Wasser. «
»Mag sein, dass er einst so hieß«, sagte der Löwe. »Aber als er zu mir kam, nannte er sich Schwingen-im-Wind.«
Aeriel schwieg. Ihre Lider schlossen sich; sie war gesättigt. Sie fühlte sich ruhelos und schläfrig zugleich. Langsam schwankte der Himmel zu ihrer Linken.
»Leg dich auf den Sand, mein Kind«, sagte der Löwe wie aus weiter, weiter Ferne. »Deine Sinne schwinden.«
Aeriel legte sich auf den Sand, und die Welt kam zur Ruhe. »Ich muss das Sternenpferd finden«, murmelte sie.
Der Löwe beugte sich über sie. »Tochter, ich kenne deinen Auftrag«, sagte er. »Der weiße Reiher berichtete mir davon. Aber du hast viel Blut verloren, und es wird eine Weile dauern, bis die Wunde heilt. Ich werde dich dem Wüstenvolk anvertrauen. Sie werden dich pflegen, bis du genug Kraft für die Wüstenreise hast.«
Aeriel schüttelte den Kopf und murmelte etwas. Sie wollte nicht warten; sie hatte keine Zeit. In wenigen Monaten würde der Vampir eine weitere Braut, seine letzte, holen. Sie musste das Sternenpferd finden und mit ihm zu dem Zwerg zurückkehren, ehe es zu spät war.
Aber sie war zu schwach, um dem Löwen zu widersprechen. Ihre Augenlider fielen zu, und sie glitt in einen sanften Schlummer. Später erwachte sie halb, vielleicht träumte sie auch nur: Es war ein Traum voller fremdartiger Musik, die auf Flöten und Trommeln gespielt wurde, und ein langer Zug dunkelhäutiger Menschen mit Fahnen und Wanderstöcken, deren Anführer eine groß gewachsene Frau war, die sich mit dem Löwen beriet. Aeriel konnte nicht hören, was sie sagten, aber von Zeit zu Zeit warfen die beiden einen Blick auf sie.
Dann gingen der Löwe und die Frau. Aeriel sah die große Katze über die Dünen verschwinden. Die dunkelhäutigen Menschen kamen und standen um sie herum. Dann hoben sie Aeriel vorsichtig auf eine Tragbahre und trugen sie fort.