14
Der kleine Magier
Als der Sonnenstern ein Drittel seines Wegs zum Zenith emporgestiegen war, wusste Aeriel, dass sie die Grenze nach Terrain überschritten hatte. Die Felsen waren jetzt cremefarben, nicht länger grau. Hier und dort hatten Erdrutsche tiefe Narben in die brüchige Oberfläche der Abhänge gerissen.
Die Straße führte beinahe direkt nach Norden. Niemand begegnete ihr, Städte mied sie. Unter ihr, in den Tälern, wo die Luft dichter war, wuchsen Laubbäume und winterfeste Fingerhirse; weiter oben gediehen Sternenkraut und Stechginster. Sie hatte die Kapuze als Schutz gegen die Sonne ins Gesicht gezogen und wanderte zügig und stetig dahin.
Allmählich wurde sie sehr hungrig und müde. Sie fror, denn während der vergangenen halben Stunde war sie im kühlen Schatten eines Abhangs dahingewandert. Die Straße verschwand hinter einem Felsbrocken, und dort, in der wärmenden Sonne, setzte sie sich hin. Zwei ihrer Gargoyles lagen hechelnd im Schatten des Felsbrockens. Mondkalb graste weiter vorne am Straßenrand. Aeriel hatte einen Bärenhunger.
Und keine Nahrung, merkte sie, als sie ihr Bündel durchsuchte. Sie hatte wohl die letzten Krümel des Essens, das sie aus Pirs mitgebracht hatte, während der letzten Rast verspeist. Sie beäugte die letzten beiden Aprikosen einen Augenblick, drehte sie zwischen den Fingern … Nein, sie waren nicht für sie bestimmt.
Sie steckte sie in ihr Bündel zurück, blickte die öde Straße entlang und fragte sich, welche Wurzel oder Pflanze sie dort finden mochte. Wieder, wie damals am Strand von Bern, sehnte sie sich nach Talb, dem Zwerg, und seinem kleinen Beutel voller Köstlichkeiten.
Aeriel schreckte aus ihren Gedanken auf. Eine Gestalt erschien vor der Biegung. Mondkalb scheute, aber der Reisende wanderte unbeirrt weiter, schien es nicht einmal gesehen zu haben. Die Gestalt war in eine lange schwarze Robe gekleidet, eine weite Kapuze verbarg das Gesicht. Die Ärmel fielen bis über die Fingerspitzen herab. Der Saum des Gewandes schleifte über die Erde.
Der Reisende war sehr klein, merkte Aeriel, als er näher kam, kaum halb so groß wie sie. Beinahe wäre er über den Rand des Abgrunds hinausgewandert und änderte erst im letzten Augenblick die Richtung. Das blonde Mädchen saß da und starrte ihn an. Die Gargoyles neben ihr knurrten.
Der Wanderer stolperte über den Saum seines Gewandes und fiel vornüber mitten auf die Straße. Nach einem Augenblick rappelte er sich wieder hoch, kam quer über den Pfad auf den Abhang zu und blieb mit einem gedämpften Fluch stehen.
»Hol der Teufel dieses Gewand! Ich schwöre, die Hexe soll’s haben, ich hasse es. Hoppla.«
Er war schnurstracks in den gegenüberliegenden Abhang hineingelaufen. Aeriel saß mit offenem Mund da.
»Du«, sagte sie und stand auf. »Was hast du vor? Nimm die Kapuze ab, oder du wirst zu Schaden kommen.«
Der Knirps fuhr erschrocken zusammen, wirbelte herum und tastete mit den in den Ärmeln verborgenen Händen durch die Luft.
»Was ist das? Wer ist da?«, kam eine durch das Tuch stark gedämpfte Stimme. Grauling knurrte jetzt lauter, und Katzenschwinge heulte. »Ich warne dich«, rief der kleine Mann, »ich bin ein Zauberer, und nur, wenn du auch über Zauberkräfte verfügst, kannst du es wagen, mich anzugreifen.«
Aeriel packte Grauling am Genick und schüttelte ihn besänftigend. Katzenschwinge stahl sich hinter ihr davon.
»Ich bin kein Zauberer«, antwortete sie, »und ich will dir nichts tun. Ich meinte nur, dass du selbst dir Schaden zufügen wirst, wenn du nicht auf deinen Weg achtest. Ich bin Aeriel.«
»Aeriel?«, rief der kleine Mann und zerrte und riss an seiner Kapuze. »Hast du Aeriel gesagt? In diesem Sack kann ich nicht richtig hören. Wo ist Schatten?«
Mit den Armen ruderte er umher, bis die Hände den Felsblock berührten. Dann duckte er sich in dessen Schatten und warf die Kapuze zurück. Aeriel stieß jetzt einen Schrei aus, denn sie erkannte das verhutzelte Gesicht, die steingrauen Augen und den langen, verfilzten Bart. Zwinkernd stand der Zwerg vor ihr.
»Talb«, rief sie. »Kleiner Magier.«
Der Zwerg blickte sich suchend um. »Aeriel?«, sagte er. »Wo bist du, Kind?«
»Hier«, antwortete Aeriel, die direkt vor ihm stand.
Der kleine Magier runzelte die Stirn, starrte durch sie hindurch und wandte dann den Blick ab. Plötzlich entdeckte er die Gargoyles. Grauling jaulte, und Katzenschwinge fauchte. Mondkalb stand am Abhang über ihnen und ließ einen Hagel winziger Steine auf sie herabregnen.
»Lass das!«, schimpfte der kleine Magier. »Hört auf damit, ihr Ungeheuer. Aeriel, komm hervor, und ruf deine Bestien zurück. Wo bist du? Das ist ja eine feine Begrüßung.«
Aeriel brachte die Gargoyles mit einem Wort zum Schweigen. »Ich bin direkt hier vor dir«, antwortete sie und kniete vor dem kleinen Mann nieder. »Kannst du mich denn nicht sehen?« Sie warf die Kapuze zurück, um ihn besser sehen zu können.
Plötzlich sah der Zwerg sie. Einen Augenblick starrte er sie verblüfft an, dann begann er leise zu lachen. »Natürlich kann ich dich sehen, meine Tochter, jetzt. Wo hast du nur diesen Tarnmantel her? Ich hätte während der vergangenen Tagmonate sehr gut einen gebrauchen können anstelle dieses scheußlichen Gewandes.«
Er zeigte auf sein schlecht sitzendes Kleidungsstück und betastete dann den Stoff ihres Mantels.
»Es ist ein einfacher Reisemantel«, erklärte sie verwirrt. »Vor vier Tagmonaten bekam ich ihn in Bern. Was ist so bemerkenswert daran?«
»Willst du damit sagen«, rief der Zwerg, »dass du den ganzen Weg von Bern bis hierher mit einem Tarnmantel gereist bist und es nicht gewusst hast?«
Aeriel starrte ihr Gewand an und befühlte den Stoff. Er kam ihr nicht außergewöhnlich vor, war sehr weich, außen hell und innen dunkler.
»Mein Volk fertigt solche Mäntel an«, sagte der kleine Mann. »Wir können das Licht des Sonnensterns nicht ertragen, denn die Gottgleichen schufen uns für ein Leben unter der Erde. Natürlich ist es uns möglich, bei Nacht ohne Schwierigkeiten umherzuwandern, aber wenn wir tagsüber an die Erdoberfläche wollen, müssen wir einen Tagmantel tragen, wie wir ihn nennen. Oder uns vollständig in anderes Zeug einhüllen.«
»Aber wie unterscheidet sich mein Mantel von deinem?«, fragte Aeriel.
Der kleine Magier zog seinen eigenen staubigen Übermantel aus, war dabei sorgfältig darauf bedacht, im Schatten des Felsblocks zu bleiben. Unten drunter trug er das Gewand, an das sie sich erinnern konnte, eine weite graue Robe mit vielen Falten.
»Gib mir deinen Mantel«, sagte er. Aeriel tat, wie ihr geheißen.
Talb schüttelte ihn aus. »Die Fasern wurden auf eine bestimmte Art gewebt, eine alte Kunst, die ich leider nie gelernt habe, um den Träger bei Tag unsichtbar zu machen, denn die Lichtstrahlen des Sonnensterns können ihn dann nicht erfassen.«
»Unsichtbar?«, sagte Aeriel und lachte. »Ich bin doch nie verschwunden.«
»Nicht für deine Augen«, entgegnete der kleine Mann. »Jene, die einen Tagmantel tragen, sehen sich immer selbst.« Er legte den Mantel auf die Erde.
»Und ich kann dich jetzt sehen«, sagte Aeriel.
»Natürlich«, erwiderte der Magier. »Ich trage meine Kapuze nicht. Aber wenn ich sie überziehe …« Damit stellte er sich in das Licht des Sonnensterns und war verschwunden.
Da zuckte Aeriel zusammen. Die Gargoyles winselten. Sie hörte Talbs Kichern und seine schlurfenden Schritte. Kleine Staubwölkchen stiegen von der Straße auf. Sie sah Fußabdrücke, aber keinen Schatten, keine Gestalt. Der kleine Magier erschien plötzlich wieder im Schatten des Felsbrockens.
»Natürlich wage ich es nicht, die Kapuze im Sonnenlicht abzunehmen«, sagte er. »Dann wäre ich sichtbar wie du, aber als Zwerg würde ich zu Stein erstarren.«
Doch Aeriel hörte ihm kaum zu. »Die Kapuze«, murmelte sie. »Sie wirkt also nur im Sonnenlicht, sagst du? Deswegen sagte Erin, ich wäre aus dem Nichts aufgetaucht«, rief sie, »deswegen sahen sie und Roschka plötzlich so erschrocken aus, als ich sie verließ, und deswegen ist Nat zusammengefahren, als sie mich das erste Mal sah. Der Ziegenhirt nannte mich eine Hexe …«
Sprachlos sah sie den Zwerg an.
»Er passt dir«, sagte sie dann zu ihm, denn das Gewand umhüllte jetzt tatsächlich seine kleinere, stämmigere Gestalt so wie zuvor ihre hochgewachsene, schlanke Figur.
Der Zwerg nickte. »Ein Vorzug des Tagmantels liegt darin, dass er stets die passende Größe annimmt.«
Aeriel fragte dann: »Hatte ich deswegen keinen Schatten? Selbst bei Nacht, im Lampenlicht, habe ich keinen Schatten.« Aber als sie auf ihre Füße hinabblickte, sah sie mit einem Gefühl unendlicher Erleichterung, dass sie wieder einen Schatten warf, weil sie jetzt den Tarnmantel nicht trug.
Wieder nickte Talb. »Wer den Tagmantel trägt, hat bei keinem Licht einen Schatten.« Er setzte sich und lehnte den Rücken gegen den Felsen. »Hast du ihn bei Tageslicht mit übergestreifter Kapuze getragen, meine Tochter?« Und als Aeriel nickte, lachte der kleine Mann wieder. »Dann ist es kein Wunder, dass die Weiße Hexe dich nicht gefunden hat.«
Aeriel sah ihn verständnislos an.
»Oh ja. Sie hat dich und mich während der vielen vergangenen Tagmonate gejagt. Prinz Irrylath auch, nehme ich an, obwohl er in Esternesse in Sicherheit ist.«
Die Erwähnung des Namens ihres Mannes versetzte Aeriel einen schmerzhaften Stich. Sie wandte den Kopf ab, damit der kleine Magier ihr Gesicht nicht sehen konnte. »Was weißt du über die Jagd der Weißen Hexe?«, fragte sie ihn ruhig.
Der Zwerg streckte seine müden Glieder. Dann kramte er in den vielen Taschen seines Gewandes herum. Plötzlich fiel Aeriel wieder ein, wie hungrig sie war.
»Das will ich dir erzählen, meine Tochter«, antwortete er dann. »Aber ich habe Hunger. Lass uns erst essen.«
Also aßen sie. Der Zwerg zog kleine faustgroße Melonen hervor, pralle rosige Apfelbeeren, gelbe Rumwurzeln, in Maishülsen eingewickelt, Haselnüsse ohne Schalen und den großen weißen Pilz, den er so liebte, zusammen mit einem Zweig trockener aromatischer Blätter.
Aeriel sammelte Äste, und Talb entfachte ein Feuer. Die Melonen rösteten sie, bis sie zerbarsten, knisternd und zischend über den niedrigen, züngelnden Flammen garten. Die Rumwurzeln wurden gebacken und mit dem Saft der Apfelbeeren beträufelt. Den Pilz verspeisten sie zusammen mit den Haselnüssen.
Dann zog der Zwerg zu Aeriels maßlosem Erstaunen aus seinem Gewand einen winzigen Kessel hervor, füllte ihn mit Wasser aus einer Flasche, zermalmte die Blätter zu einem dunkelgrünen Teepulver, das wie Ingwer roch und nach Limonen schmeckte. Sie schlürften den Tee aus den zwei Hälften der geborstenen Melonenschale.
Er erzählte ihr alles, was ihm seit ihrer Trennung vor einem halben Jahr in Avaric widerfahren war. Wie er zum Palast der Hexe gewandert war, vorgab, ein Diener ihres »Sohnes« zu sein, damit Aeriel und ihr Prinz genügend Zeit hatten, um ihr Segel aus den Federn des Engels der Nacht zu weben und nach Esternesse zu fliehen.
Er schilderte ihr die rasende Wut der Hexe, als sie schließlich erfuhr, dass Irrylath für sie verloren war, seine Flucht, und wie er sich seitdem ihren Jägern entzog. Schließlich war seine Geschichte zu Ende und sie hatten sich satt gegessen. Während der kleine Mann seinen Tee schlürfte, beäugte er Aeriel.
»Warst du sehr unglücklich in Esternesse?«
Aeriel seufzte. War es so offensichtlich? »Mein Anblick ist Irrylath verhasst«, gestand sie.
»Ach, wirklich?«, fragte Talb sanft. »Den einzigen Hass, den ich in ihm vor unserer Trennung sah, war Selbsthass.«
Aeriel umarmte Grauling, ein leises Zittern überlief sie. Sie wollte nicht an Irrylath denken. »Die Mädchen kamen zu mir«, sagte sie, »die Bräute des Vampirs von Avaric. Sie sagten mir den zweiten Teil von Ravennas Reim auf.« Dann sah sie Talb an. »Deswegen ging ich fort.«
Die Brauen des Magiers schossen hoch. »Sie haben ihn dir vorgetragen?«, murmelte er. »Rezitiere ihn für mich.«
Aeriel begann:
»Doch zuerst müssen sie sich vereinen, die Feinde der Engel der Nacht,
Eine Braut, die im Tempel durch Feuer schreitet, hat teil an der Schlacht,
Weit jenseits des Sandmeers kommen Streitrösser, für die Zweitgeborenen,
Und neu geschmiedete Waffen, ein geflügelter Stab –
Dann kostet die königliche Prinzessin von dem Baum – sonst wär sie verloren.
Also geschehen die Dinge, von der Stadt Esternesse weitab:
Eine Zusammenkunft von Gargoyles, ein Fest auf dem Stein,
Der Weißen Hexe Helferin wird nicht mehr sein.«
Der kleine Mann nickte. »Perfekt«, sagte er. »Ich hätte ihn dir nicht besser beibringen können.«
Aeriel lachte und legte ihren Kopf auf Graulings Hals. »Die Zeile über die Streitrösser«, sagte sie, »ist die einzige, die ich verstehe. Weißt du, was der ganze Reim bedeutet?«
Aber der Zwerg schüttelte den Kopf. »Ich verstehe kaum den ersten Teil, meine Tochter.«
Aeriels Blick verlor sich in der Ferne. Würde sie nie die Antwort auf das Rätsel finden? Konnte ihr niemand helfen, außer der Sibylle in Orm? Das Blut gefror ihr in den Adern. Ein Schauder überlief sie. Sie war bereits so müde von der Reise, und sie hatte noch nicht einmal angefangen, ihre Aufgabe zu lösen.
»Ich gehe nach Orm«, erzählte sie ihm, »um die Sibylle nach seiner Bedeutung zu befragen.«
»Ich komme mit«, erwiderte der kleine Magier, und Aeriel wurde ein wenig leichter ums Herz. Dankbar lächelte sie ihn an. Dann sagte der Zwerg: »Aber erzähl mir, was dir auf deiner bisherigen Reise widerfahren ist und wie du es geschafft hast, hierherzukommen. «
Aeriel erzählte ihm von der Überquerung des Sandmeeres, von dem Hüter des Lichts und der Stadt der Diebe. Sie berichtete ihm von dem verpesteten Zambul, von Erin und Roschka, dem Fürsten von Pirs und den Höhlen der unterirdischen Wesen dort. Dabei zeigte sie ihm die kleine Hacke, die sie dort gefunden hatte. Talb ließ seine Finger darüber gleiten und umfasste den Stiel. Er passte genau in seine kleine Hand.
»Das ist entweder die Hacke eines Bergarbeiters oder der Hammer eines Schmiedes«, murmelte er. »Das kann ich nicht sagen.« Er steckte sie in die Tasche seines Tagmantels. »Aber etwas ist seltsam. Auf allen meinen Reisen, seit ich Avaric verlassen habe, bin ich keinem von meiner Sippe begegnet. Ihre Höhlen stehen leer, sind seit langem unbewohnt, und die einzige Antwort, die ich von jenen Erdbewohnern erhielt, die sich überhaupt noch an uns erinnern, war: ›Das Erdvolk ist fortgezogen.‹«
Mit leerem Blick starrte er in die Ferne und zupfte gedankenverloren an seinem langen grauen Bart.
»Das ist merkwürdig, sehr merkwürdig. Und es bekümmert mich.«
Schließlich erzählte Aeriel noch von den Glühwürmchen und der lodernden Fackel und dem Engel der Nacht, der ihr in die Augen gesehen hatte und schreiend geflohen war.
»Was bedeutet das?«, fragte sie ihn. Sie schüttelte den Kopf. »Ich verstehe es nicht.«
»Wirklich nicht?«, erwiderte der Magier. »Du bist eine Vernichterin der Engel der Nacht, mein Kind. Du hast der Hexe ihren letzten ›Sohn‹ gestohlen und ihn wieder zu einem Sterblichen gemacht. Du trägst sein Herz in deiner Brust. Glaubst du, ein Vampir sieht das nicht in deinen Augen?«
Talb schüttelte den Kopf.
»Die Lorelei war eine Närrin zu glauben, sie könnte dich mit Engeln der Nacht einschüchtern, und deswegen hat sie sie jetzt alle in ihren Palast zurückgerufen. Als ich die Grenzen von Elver überschritt, sah ich den Vampir dieses Landes in nordöstlicher Richtung nach Pendar fliegen. Unterwegs stieß der Ikarus von Terrain zu ihm. Zwei schwarze Flecken vor den Sternen, das gab mir zu denken.
Aber wenn sie diese beiden gemeinsam zu sich rief, dann hat sie alle anderen auch zurückbeordert. Mach dir nichts vor, sie wird uns weiterhin jagen, aber ich glaube nicht, dass sie wieder Engel der Nacht gegen dich kämpfen lassen wird.«
Aeriel schloss die Augen. Sie konnte das alles nicht verstehen. Es überstieg ihre Vorstellungskraft. »Talb«, sagte sie dann, »die Hexe jagt meine Gargoyles. Warum?«
Der kleine Mann ihr gegenüber zuckte die Schultern. »Das weiß ich nicht. Mir sind sie ein Rätsel. Woher sie kommen, und was sie sind, weiß ich nicht. Aber eines ist gewiss. Egal, wofür die Hexe sie auch haben will, es kann nichts Gutes sein. Wie gut, dass die meisten von ihnen jetzt bei dir sind und nicht bei ihr.«
»Die meisten?«, sagte Aeriel. »In Avaric hatte ich sechs Gargoyles. Bis jetzt habe ich nur drei wiedergefunden …«
Der Zwerg war aufgestanden und fegte die Krümel von seinem Gewand. Als er gerade den kleinen Kessel wegstecken wollte, verharrte er mitten in der Bewegung. »Oh, habe ich dir das schon erzählt? Wie zerstreut ich geworden bin.« Er durchsuchte die zahlreichen Taschen seines Gewandes. »Wo hab ich’s nur hingesteckt? Ah, hier ist es.«
Aus einem Ärmel zog er einen kleinen verschnürten Beutel aus schwarzem Samt, nicht größer als seine Hand. Aeriel erkannte ihn sofort. Während ihrer Reise auf der Suche nach dem Avarclon hatte der kleine Beutel sie über Tagmonate hinweg mit der nötigen Nahrung versorgt. Verblüfft starrte sie ihn jetzt an.
»Als ich erfuhr, dass die Hexe deine Gargoyles jagt«, sagte der Zwerg, »zog ich aus, um sie einzusammeln. Es hat mich Tagmonate gekostet, und ich habe nur zwei gefunden, aber zusammen mit deinen drei …«
In Sekundenschnelle war Aeriel auf den Beinen. »Meine Gargoyles«, rief sie. »Du hast sie! Wo sind sie?«
Sie blickte sich um, sah die Straße entlang, den Abhang hinauf. Der kleine Magier lächelte verschmitzt.
»Nun, hier drin«, antwortete er und hielt den Beutel hoch. »Zur sicheren Verwahrung. Und natürlich auch, weil sie nicht wirklich zahm sind …«
Aeriel sah ihn an. »Sie sind zahm«, widersprach sie.
»Bei dir, meine Tochter.« Der Zwerg löste den Knoten der Schnur, drehte den Beutel um und schüttelte ihn. »Kommt heraus«, sagte er, »alle beide.«
Aeriel sah den Stoff zucken. Etwas sehr Kleines fiel aus dem Beutel. Eben noch war es nicht größer als zwei Finger gewesen, und im nächsten Moment hatte es die Größe von zwei Menschen angenommen. Aeriel wich stolpernd zurück.
Die Kreatur sah aus wie ein langhalsiges Huhn, hatte aber weder Füße noch Schwanzfedern; ihr Körper endete in einem langen Aalschwanz, der sich unruhig hin und her bewegte. Ihre schäbigen Fittiche und das Federkleid des schlangenartigen Leibes waren grau wie Stein. Sie stieß einen schrillen Schrei aus und schnappte nach dem Magier. Um den Hals trug das Wesen ein kupfernes Halsband.
»Bleib mir vom Leib, du Vogelscheuche!«, befahl der kleine Mann. »Du hast jetzt deiner Herrin zu gehorchen.«
Aeriel stürzte auf die Kreatur zu und rief: »Aalvogel, Aalvogel! « Der Aalvogel drehte sich um und ließ sich bei ihrem Anblick sofort friedlich zu Boden sinken.
»Du hast ihnen also Namen gegeben?«, fragte der Zwerg.
Aeriel schüttelte lachend den Kopf. »Nur Spitznamen, wie Kinder es tun.« Sie streichelte das matte Gefieder und den schuppigen Leib des wiedergefunden Gargoyles. Aufgeregt schlug der Aalvogel mit den Fittichen, rieb sich an ihr und stieß einen grausigen, unheimlichen Schrei aus.
»Den da habe ich in Elver gefunden«, erklärte der Zwerg. »Die Menschen lebten in großer Angst vor ihm und nannten ihn einen Drachen, aber wo ist der andere?«
Wieder schüttelte er den Beutel, klopfte darauf.
»Oh, du willst wohl nicht rauskommen?«, murmelte er, griff hinein, obwohl der kleine Sack in Aeriels Augen so schlaff und scheinbar leer blieb wie vorher. »Da ist er ja.«
Der kleine Magier schrie plötzlich auf und riss seine Hand mit einem Ruck aus dem Beutel. Aeriel erspähte einen Mini-Gargoyle, die Zähne fest im Daumen des Magiers verbissen, ehe er sich plötzlich in eine riesige haarlose Kreatur mit fledermausähnlichen Flügeln, einem Schwanz, geschmeidigen Gliedern, ein Wesen zwischen Eidechse und Mensch, verwandelte.
»Lass mich los!«, rief der Zwerg.
Der Gargoyle fauchte. Aeriel berührte ihn leicht. Seine Haut war kühl und trocken. Das Kupferband um seinen Hals schimmerte matt.
»Echse«, murmelte sie. »Affenechse, lass los.«
Die Kreatur fuhr zusammen, gab den Magier frei und drehte sich mit einem Zischen um. Sie erkannte Aeriel sofort. Ihre graue Doppelzunge zuckte über Aeriels Hand. Aeriel streichelte ihre kalte, körnige Haut.
»Über den Gargoyle da bin ich in Rani gestolpert«, sagte der kleine Magier. »Erst vor ein, zwei Tagmonaten.«
Aeriel betrachtete den schwarzen Samtbeutel und verlangte zu wissen: »Wie lange hast du sie da drin aufbewahrt?«
Der Zwerg zuckte die Schultern und rieb seine schmerzende Hand. »Nur einen oder zwei Tagmonate.«
»Sie sind halb verhungert«, rief Aeriel vorwurfsvoll. Besorgt musterte sie die knochigen Gestalten.
»Das habe ich gemerkt«, erwiderte Talb und bewegte seine Finger. Sie bluteten nicht. Dann fügte er hinzu: »Die Nahrung, die ich ihnen anbot, wollten sie nicht essen.«
»Da«, sagte Aeriel sanft. Sie sprach mit den Gargoyles. »Esst diese Früchte.«
Sie griff in ihr Bündel und zog die beiden übrig gebliebenen Aprikosen heraus, fütterte die Gargoyles damit und behielt die Steine. Als die beiden die Früchte verspeist hatten, rundeten sich ihre eingefallenen Flanken etwas, und ihre verkrustete Haut wurde geschmeidiger und glatter. Sie umkreisten Aeriel und die anderen Gargoyles. Aeriel wandte sich wieder dem Zwerg zu.
»Jetzt fehlt nur noch einer«, sagte sie, »der, den ich Greiffuß genannt habe, denn vorne sieht er aus wie ein Raubvogel und hinten wie ein Tier mit Pfoten.« Nachdenklich runzelte sie die Stirn. »Wo ist er jetzt? Was ist aus ihm geworden?« Sie schüttelte den Kopf. »Ich habe keine Aprikosen mehr.«
»Komm«, sagte der Zwerg und verstaute seine Habseligkeiten. Mit dem Fuß scharrte er Sand über ihr blau brennendes Feuer, zog die Kapuze des Tarnmantels über den Kopf, ehe er in den Sonnenschein hinaustrat. »Die Sibylle wird es wissen, und es ist noch ein weiter Weg bis Orm.«
Sie wanderten nach Norden, auf die Hauptstadt zu. Der Zwerg trug nun den Tagmantel. Aeriel sah ihn nur, wenn ihr Weg sie durch Schatten führte. Aus Talbs altem Reisemantel knüpfte sie ihr Bündel, trug Hadins Robe und wandelte wie eine gelbe Flamme im schattenlosen grellen Licht der Mittagssonne dahin.
Sie folgten den Höhenwegen und mieden andere Reisende. Zweimal erspähte Aeriel unter ihnen Sklavenkarawanen: zerlumpte Gestalten, die aneinandergekettet, mit gefesselten Händen hinter ihren Häschern herstolperten.
Furcht und Zorn erfüllten Aeriel. Sie konnte förmlich die schmerzenden Stricke um ihre Gelenke spüren. Nie wieder kann ich so leben, dachte sie. Wenn mich Sklavenhändler fangen, werde ich sterben. Aeriel konnte den Anblick der erbärmlichen Karawane nicht länger ertragen. Sie und der Zwerg schlugen andere Pfade ein.
Der Sonnenstern hing tief im Osten, ging gerade unter, als sie nach Orm kamen, eine Stadt aus weißen Schlammziegelhäusern, in einer Talsenke zwischen drei steilen Abhängen gelegen. Talb bestand darauf, dass die Gargoyles sich wieder in seinem schwarzen Samtbeutel versteckten. Das taten alle fünf dann auch, aber erst, nachdem Aeriel sie dazu überredet hatte. »Wir müssen uns so unauffällig wie möglich bewegen«, sagte der kleine Magier. »Die Weiße Hexe mag ja ihre Engel der Nacht zurückgerufen haben, aber sie hat andere Spione, die nach dir Ausschau halten. Jetzt erzähl mir von der Sibylle, nach der du suchst.«
Aeriel schüttelte den Kopf und ordnete ihre Gedanken. »Ich weiß wenig von ihr, nur was man mir erzählt hat. Sie ist eine Einsiedlerin im höchsten Tempel auf den Altarklippen von Orm. Sie ist sehr alt, eine Priesterin der Unbekannten-Namenlosen. Ein Schleier verhüllt ihr Gesicht. Alle, die zu ihr kommen, müssen eine Gabe in ihr Becken legen; und sie empfängt Bittsteller nur bei Tag. Die langen vierzehn Tage verbringt sie mit Fasten und Beten.«
Dann betraten sie die Stadt, und der Zwerg verstummte. Scheinbar allein ging Aeriel durch die breiten Steinstraßen von Orm. Wohngebäude ragten zu beiden Seiten vier, fünf Stockwerke hoch auf. Sie sprach kein Wort mehr mit Talb, der neben ihr ging, denn er wollte seine Anwesenheit verheimlichen.
Manche Passanten in den Straßen, die Aeriels nackte Füße erblickten, hielten sie für eine Sklavin. Andere wiederum, die das feine Gewebe von Hadins Robe bemerkten, hielten sie für eine Fremde, die zum Einkauf von Sklaven in die Stadt gekommen war. Die Händler riefen sie von ihren Ständen aus an und boten ihre Waren feil.
Wieder andere, die ihren geflügelten Stab sahen, murmelten etwas von einer Priesterin und gingen ihr aus dem Weg. Keinem von ihnen schenkte Aeriel Beachtung. Ihre Glieder waren steif vor Angst. Selbst mit dem Zwerg an ihrer Seite wagte sie nicht, stehen zu bleiben oder ihren Kopf zu wenden; sie blickte nur jene an, die dicht an ihr vorbeikamen.
Und vor diesem Blick wichen die meisten zurück, murmelten beschwörend: »Grüne Augen, grüne Augen«, und eine Stimme flüsterte: »Hexe.«
Sie musste ganz nahe am Sklavenmarkt in der Innenstadt vorbeigehen, denn alle Durchgangsstraßen führten sternenförmig zum Palast des Statthalters, vor dem der Marktplatz lag. Aeriel wich auf Seitenstraßen aus und versuchte, ihn zu umgehen. Aber überall konnte sie das Dach des Palastes hoch über den Dächern der anderen Häuser sehen. Sie presste die Hände an ihre Ohren, um das Geschrei vom Sklavenmarkt nicht zu hören.
Sie ließen das Stadtzentrum hinter sich, und endlich erreichten sie das nördliche Ende von Orm. Aeriel fühlte, wie eine große Last von ihr wich. Endlich konnte sie wieder befreit aufatmen. Weiße, bröckelige Klippen ragten steil auf, übersät mit heiligen Tempeln und Schreinen. Fußpfade führten den beinahe senkrecht ansteigenden Abhang hinauf. Sie und der Zwerg kletterten empor.
Auf halber Höhe des engen, gewundenen Pfades hörte Aeriel, wie der kleine Mann stehen blieb. Auch sie blieb atemlos stehen. Sie waren ziemlich schnell hochgegangen. Ihr Schatten fiel über den Magier, und sie sah ihn gegen die Klippe lehnen. Mit einer Hand wischte er sich den Schweiß von der Stirn. Er winkte sie weiter.
»Geh voran, meine Tochter«, keuchte er. »Mein Körper wurde nicht für derlei Strapazen in dieser dünnen Luft an der Erdoberfläche geschaffen. Lass mich eine Weile ausruhen, und ich folge dir dann. Aber du musst dich beeilen. Der Sonnenstern ist fast untergegangen.«
Aeriel blickte zurück, tatsächlich stand die Sonne bereits tief über den Hügeln. Sie zögerte einen Augenblick, ließ Talb dann aber zurück und kletterte weiter, bis der Pfad so steil wurde, dass sie den Tempel nicht mehr sehen konnte. Sie musste sich auf ihren Wanderstab stützen. Orm breitete sich unter ihr aus. Sie entdeckte das Dach des Palastes und den Marktplatz. Mühsam kletterte sie eine weitere Anhöhe hinauf und stand plötzlich vor dem Heiligtum der Sibylle.
Es war aus dem Fels herausgehauen, der Stein darüber zu einem Dach geformt. Freistehende Säulen trugen das Portal. Auf dem Dach lag eine Löwin aus Stein, mit dem Gesicht und den Brüsten einer Frau, die ein großes schwelendes Becken, das voller Opfergaben war, zu bewachen schien.
Aeriel blieb stehen. Sie wusste nicht recht, was sie tun sollte. Noch nie hatte sie einen Tempel betreten. Sie hatten ihr immer Angst eingejagt. Als Kind, im Haus des Dorfältesten, hatte sie Geschichten von Sklaven gehört, die auf den Altarklippen von Orm geopfert wurden.
Sie starrte auf das Becken zu Füßen des Portals, auf die Menge Blumen und Früchte, Silbermünzen, Seidenballen und gehämmerter Becher aus weißem Zinkgold. Sie hatte keine Gabe.
Dann fiel ihr etwas ein. Sie kniete nieder, griff in ihr Bündel und nahm das blassgrüne Stück Ambra heraus. Sie hielt es in der ausgestreckten Hand über das Becken. Hitze wie von glimmenden Kohlen stieg daraus auf. Sie legte den Klumpen zu den anderen Gaben.
»Komm in den Tempel«, sagte da jemand hinter ihr. »Ich habe schon auf dich gewartet.«