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Perlenlicht

Se wusste nicht, wo sie sich befand, nur dass sie in einer Höhle war, eingeschlossen von Wänden, ganz aus weißem Stein. Von irgendwo sickerte Licht durch, trübe und matt, und die Luft roch abgestanden: moderig und staubtrocken. Sie war durstig. Jeder Muskel ihres Körpers war steif, und hinter ihrem rechten Ohr pochte es vor Schmerz, so dass sie es keinesfalls berühren durfte. Ihr Haar fühlte sich klebrig und verfilzt an. Sie ließ den Blick über die tristen Höhlenwände schweifen. Seit langem irrte sie nun schon umher.

Ihr Magen verkrampfte sich so heftig, dass sie zusammenbrach. Sie kniete auf dem harten, mit grobem Sand bedeckten Tunnelboden nieder, bis der Anfall vorüber war. Sie musste weiter, Nahrung und Wasser finden oder sterben. Ihr war nicht bewusst, wie sie in die Höhle gekommen war, sie spürte nur mit unfehlbarer Gewissheit, dass irgendetwas sie verfolgte, ihr unbarmherzig auf den Fersen war: ein Schatten, ein Wesen, schwarz wie die Nacht. Das Licht spendete ihr Trost.

Sie rappelte sich auf und sah, woher das Licht rührte. Es kam von ihr, aus der Kuhle zwischen ihren Brüsten. Verwirrt griff sie in ihr Gewand und zog den Gegenstand hervor, der auf ihrem Brustbein lag und schwach durch den hauchzarten Stoff schimmerte: Eine Perle, so groß wie ihr Daumennagel, glühte in einem fahlblauen Licht.

Erinnerungen neckten sie, huschten flüchtig durch ihr Bewusstsein, von einem winzigen Geschöpf mit zart geäderten Flügeln, das ihr die Perle in die Hand gelegt hatte. Wie viel Zeit war seitdem verstrichen? Sie konnte sich nicht entsinnen. Sie schob die Perle zurück in ihr Kleid, und das Licht, das durch das blassgelbe Gewebe funkelte, schien wieder weiß zu sein. Stirnrunzelnd betrachtete sie das Gewand: Meter um Meter weiche Seide, feiner als ein Hauch. Ein Hochzeitssari. Warum trug sie ein Brautgewand?

In ihrem Innern formte sich ungewollt ein Bild: ein junger Mann mit goldener Haut und langem, schwarzem Haar. Seine Augen waren mandelförmig, von einem strahlend lichten Blau; Narben überzogen seine Wange. Was hatte er mit ihrem Kleid zu tun? Ein jäher Schwindel überkam sie, und sie krallte sich an der Wand fest, aus Sorge, erneut stürzen. Mit aller Gewalt mühte sie sich ins Gedächtnis zu rufen, wer der junge Mann war und welche Bedeutung die Perle auf ihrer Brust innehatte. Doch die Erinnerungen entschlüpften ihr, wie Glasperlen, die sich von einer zerrissenen Schnur in alle Winde verteilten. Der bohrende Schmerz in ihrem Kopf hinderte sie daram, die Perlen wieder aufsammeln.

Ein Spiegelstein zeichnete sich vor ihr ab, dunkler als der Rest der Höhle. Auf seiner glatten, glänzenden Oberfläche konnte sie eine Gestalt ausmachen: ein hochgewachsenes, dünnes Mädchen, auf der Schwelle zur Frau, mit eingefallenen Wangen und knochigen Fingern. Das aschfahle, helle Haar, das ihr bis auf die Schultern fiel, war zerzaust. Schräg stehende, grüne Augen, so groß wie die eines Vogels, starrten blinzelnd zurück. In dem dämmrigen Perlenlicht warf sie keinen Schatten.

Die junge Frau erstarrte keuchend, als der stechende Schmerz in ihrem Schädel schier unerträglich wurde. Sie durfte sich nicht ansehen! Das quälende Pochen hinter ihrem Ohr untersagte es, ebenso, wie sie nichts über sich und ihr früheres Leben in Erfahrung bringen durfte. Gewaltsam riss sie den Blick von ihrem Spiegelbild und hastete weiter, denn in diesem Moment gewahrte sie, wie verloren sie in Wirklichkeit war: Sie hatte nicht die geringste Ahnung, wer sie war.



Das Geräusch von Wasser drang zu ihr, ein fernes plätscherndes Gurgeln. Taumelnd verfiel sie in einen Laufschritt. Der endlose Gang öffnete sich unvermittelt in eine erleuchtete Kammer. Ein winziges Bächlein durchschnitt die Höhle, kaum eine Spanne breit in einem Flussbett, das dreißig Fuß maß. Einst war hier ein gewaltiger Strom geflossen. Der Widerschein seines sauberen, klaren Funkelns tänzelte über die Decke und Wände der Kammer.

Das blasse Mädchen sank neben dem Bächlein auf die Knie und tauchte die Hand in sein Licht. Es war warm wie Lampenöl. Das Mädchen zitterte in der kühlen, trockenen Luft. Verzweifelt leckte sie sich die köstlichen Tropfen von den Fingern. Würzig, reich an Mineralien, schmeckte das Wasser nach zerstoßenen Kräutern. Es musste einen einfacheren Weg geben, es zu trinken, aber das Mädchen erinnerte sich nicht. Der tröpfelnde Bach beanspruchte ihre volle Aufmerksamkeit, so dass sie die anderen Gestalten in der Kammer erst bemerkte, als die Jüngste von ihnen ihren Pickel fallen ließ.

Das Geräusch durchbohrte das blasse Mädchen scharf wie eine Nadel. Sie fuhr auf, Wasser tropfte von ihren Unterarmen, und starrte die drei Gestalten an, die sie neugierig beäugten. Sie waren von kleinem Wuchs, nur gut halb so groß wie sie, und in Hosen und Hemden mit unzähligen Taschen gewandet. Die beiden Männer trugen Kappen. Ihr Anführer schien die Frau zu sein, deren helles, silbrigkupferrotes Haar in vier dicken Zöpfen herabhing, einer vor und einer hinter jedem Ohr. Sie stand flussaufwärts, die Hände in die Hüften gestemmt. Hastig hob der jüngere ihrer Gefährten seinen Pickel auf.

»Glaubst du, es ist gefährlich, Maruha?«, fragte der Junge.

Die Frau schüttelte den Kopf. »Schwer zu sagen, Brandl. Anscheinend ein Kind der Oberen-Länder-unter-dem-Himmel, wenn mich mein Wissen nicht täuscht.«

Sie legte den Kopf schief und betrachtete forschend das Mädchen. Die Oberländerin starrte zurück, mit aufgerissenen Augen, zu verängstigt, um sich zu rühren. Die zusammengekniffenen kleinen Augen der Frau hatten die Farbe dunkelgrauen Gesteins.

»Aber was macht sie so tief unter der Erde?«, fragte der Jüngere, Brandl.

»Das Werk der Hexe«, murmelte der Ältere und strich sich über den Bart. »Könnte das Werk der Hexe sein.«

»Sei still, Collum, du Narr!« Maruha drehte sich zu ihm um. »Keines der ihren könnte jemals hier herunterkommen. Wir haben Schutzmechanismen.«

»Dieses Mädchen hat es aber geschafft«, erwiderte der Bärtige. »Vielleicht sogar als Erste von vielen. Wir wissen seit geraumer Zeit, dass das Ende naht.«

»Genug«, zischte Maruha mit einem Seitenblick auf Brandl. »Du jagst dem Jungen noch Angst ein.«

Das blasse Mädchen beobachtete sie unverwandt, ihr Herz klopfte schmerzhaft gegen ihre Rippen. Ein solches Geschöpf hatte sie schon einmal zu Gesicht bekommen. Ein kleiner Mann mit steingrauen Augen. Die bruchstückhafte Erinnerung stach unbarmherzig zu, um sich dann jäh in Luft aufzulösen. Die Frau trat einen Schritt vor.

»Du, Oberländerin, wer bist du?«, rief sie.

Die Angesprochene wich zitternd zurück. Sie wollte antworten, aber ihre Kehle war wie zugeschnürt. »Uh, uhn …«, stieß sie würgend hervor. Ein dünnes Wehklagen brach sich seine Bahn. Ihr Kopf pochte. Wimmernd hielt sie inne.

»Kann nicht sprechen«, hauchte der bärtige Collum. »Das Werk der Hexe.«

»Seht nur, wie dünn!«, sagte Brandl, der jetzt kühner wurde. Er zeigte auf das Mädchen und schlich näher zu Maruha. »Die Wangen sind ganz eingefallen.«

Collum schnaubte verächtlich. »Alle Oberländer sehen so aus: spindeldürr wie Spinnenbeine.«

»Unsinn!«, rief Maruha. »Sie ist erschöpft. Seht euch ihre Haare und das schmutzige Gesicht an!« Sie trat noch ein paar Schritt näher. »Mädchen, verstehst du mich?«

Die Oberländerin spannte die Muskeln an, war sprungbereit, aber konnte sich nicht vom Wasser lösen. Ein sonderbarer Schrei entrang sich ihrer Kehle. Sie verstand, doch keine Erwiderung wollte ihr über die Lippen.

»Ja, aber seht euch ihr Gewand an!«, flüsterte Brandl, in dessen Stimme auf einmal Furcht mitschwang. »Feinster gelber Stoff, ohne einen einzigen Riss oder Fleck. Er schimmert geradezu. Wie Geistergarn.«

Seine Gefährten starrten erschrocken, und alle drei wichen zurück. Die Knie des blassen Mädchens gaben nach. Sie sank in sich zusammen und konnte keinen weiteren Schritt gehen. Collum riss seinen Pickel hoch und stürzte an Maruha und Brandl vorbei.

»Sie ist das Werk der Hexe, sag ich euch, und je schneller wir uns ihrer entledigen, desto besser.«

»Nein!«, kreischte Maruha und packte Collum am Arm. »Sie hat vom Fluss getrunken. Keine, die der Hexe dient, kann die Berührung von sauberem Wasser ertragen …«

Collum zögerte und ließ den Arm sinken. Er blickte zu Maruha.

»Ein Rätsel, das gesteh ich ein, und ihr Kommen mag wahrlich das Werk der Hexe sein«, beharrte Maruha. »Aber ich glaube nicht, dass sie das Werk der Hexe ist oder uns Leid zufügen möchte.«

Das Mädchen saß mit niedergeschlagenen Augen im Sand. Sie hatte nicht einmal mehr über genügend Kraft, den Kopf zu heben.

Langsam schob sich Brandl zu den anderen beiden. »Ihr klebt Blut im Haar«, flüsterte er. »Dort!«

»Siehst du?«, fauchte Maruha und stieß Collum leicht in die Rippen. »Deshalb kann sie nicht sprechen.« Unsanft entriss sie ihm den Pickel und klemmte ihn in ihren eigenen Gürtel. Sie wandte sich von Collum ab und sprach mit weicher Stimme: »Hier, Mädchen. Du bist verletzt.« Während sie zu der Oberländerin schlich, fuhr sie gutmütig fort: »Wir sind Zwerge, mein Kind. Lass uns dir helfen.«

Das blasse Mädchen spürte, wie die kleine Frau das Haar genau hinter dem Ohr teilte, und zuckte gepeinigt zusammen. Kraftlos schlug sie ein einziges Mal gegen die plumpen, grobschlächtigen Hände. Ganz sanft kehrte die Berührung der Zwergin zurück.

»Hab keine Angst! Sei unbesorgt! Was ist das? Collum, Brandl, seht her! Da ist etwas, hinter ihrem Ohr.«

Alle drei drängten sich um das Mädchen. Sie sah nicht auf, sondern ließ den Blick auf dem Sand ruhen, dem warmen, köstlich duftenden Wasser, das nun außerhalb seiner Reichweite lag. Es verzehrte sich nach dem kühlen Nass.

»Bei Ravenna!«, rief der Jüngere, Brandl. »Eine silberne Nadel. «

»Und mit Blut besudelt.« Das war Maruha.

»Hexerei«, murmelte Collum.

»Ich mag nicht glauben …«, setzte Maruha an.

Das Mädchen spürte einen heiß glühenden Stich hinter dem Ohr und schrie auf. Keuchend riss die Zwergin die Hand fort, als die Oberländerin auf dem Sand aufprallte und kreischend die Arme über den Kopf schlug. Sie durften sie nicht berühren! Niemand durfte sie berühren. Nicht einmal sie selbst durfte jemals Hand an die wunderschöne und zugleich schreckliche silberne Nadel legen.

Maruha setzte sich in den Sand und rieb sich schmerzend die Hand. »Bei den lons und Gottgleichen!«, stöhnte sie, spreizte die Finger und schüttelte dann die Hand. »Aber dieses Ding dort ist das Werk der Hexe, ganz unbestritten. Es ist kalt, kälter als Schatten.«

»Bist du verletzt?«, fragte Brandl besorgt.

»Nein, ich habe es zum Glück nur gestreift! Wir müssen das arme Kind zu den anderen bringen, sobald wir unseren Rundgang beendet haben …«

»Pfui, nein!«, widersprach Collum. »Wenn sie verhext ist, darf sie keinen Fuß in unsere letzte sichere Feste setzen …!«

»Oh, sei still!«, knurrte Maruha, sprang auf die Beine und klopfte sich den Sand von ihrem Gewand. »Das Kind ist am Verhungern und Verdursten und bedarf unserer Hilfe.«

Hilfe. Das Wort gemahnte die Oberländerin an etwas, etwas … Sie erinnerte sich wieder an das Gesicht des jungen Mannes, lediglich vom Sternenlicht erleuchtet, halb von ihr abgewandt. »Du kannst mir nicht helfen«, flüsterte er. »Ich kann keine Sterbliche lieben, solange die Weiße Hexe am Leben ist.« Helft mir, helft mir!, wollte sie rufen, aber die quälende Nadel beraubte sie der Stimme sowie ihres Erinnerungsvermögens. Das Bild des jungen Mannes verblasste, noch während sie es verzweifelt festzuhalten versuchte. Sie barg das Gesicht in den Armen und weinte. Maruha beugte sich zu ihr.

»Komm, mein Kind«, sagte sie sanft. »Komm mit uns.«

Sie lag reglos da, vollkommen ermattet. Nichts ergab Sinn. Sie war so müde und wollte nur ruhen. Maruha umfasste ihren Arm und zog sie hoch.

»Hilf mir, Collum«, keuchte sie. »Wir müssen sie tragen.«

Der bärtige Zwerg blieb mit verschränkten Armen wie angewurzelt stehen. Es war Brandl, der herbeieilte und die Oberländerin am anderen Arm packte. Er roch nach Fett und Kerzenwachs. Bei dem Geruch drehte sich dem Mädchen der Magen. Maruha funkelte Collum finster an.

»Wie du meinst«, zischte sie. »Ich weiß nicht, wer dieses Kind ist oder warum es die Nadel der Hexe in sich trägt. Aber ich weiß, dass es keine Freundin unserer mächtigen Feindin sein kann, und bei Ravenna, ich werde die Nadel entfernen, koste es, was es wolle!«