7
Ravennas Tochter
Aeriel erhob sich von ihrer Lagerstatt. Sie trug ein langes, helles, ärmelloses Kleid. Dicht gewebt und schwer, glich es keinem Gewebe, das sie kannte. Ihr gelber Hochzeitssari lag zu einem kleinen Viereck gefaltet am Fußende des Ruhebetts. Unwillkürlich griff sie danach und stopfte ihn unter das Oberteil ihres neuen Gewandes.
Die plötzliche Bewegung ihres Armes kam ihr ungewohnt vor. Das beklemmende Gefühl des Neuen erfüllte sie noch immer. Aeriel schüttelte sich. Mit einem forschenden Blick auf die leuchtend weiße Perle in ihrer Hand sah sie, dass eine winzige Kette daran befestigt war, ein Hauch von Silber, so durchschimmernd, dass es mit bloßem Auge kaum zu sehen war. Es kitzelte ihre Handfläche wie seidenweiche Spinnfäden.
»Was hast du mit meiner Perle angestellt?«, fragte sie. »Sie brennt in einem anderen Farbton.«
Ravenna stand neben dem Ruhebett. Sie wirkte unvorstellbar erschöpft, viel abgehärmter als bei dem letzten Treffen mit Aeriel. Ihre Augen funkelten vor Sorge.
»Ich habe sie zu einem Gefäß geformt, mein Kind, in das ich einen kostbaren Schatz von unvorstellbarem Wert zu legen gedenke. Diesen Schatz sollst du für mich hüten.«
Als sich Ravenna herabbeugte, stieg Aeriel ein weiteres Mal der Duft von eigentümlichen, exotischen Blumen in die Nase, der von der Gottgleichen ausging. Die langen, zartgliedrigen dunklen Finger der anderen nahmen die Perle aus Aeriels Handfläche. Im nächsten Moment spürte sie, wie ihr die filigrane Kette umgelegt wurde und die Perle nun hellleuchtend auf ihrer Stirn ruhte.
Das weiße Licht des Kleinods veränderte Aeriels Blick. Mit einem Schlag bemerkte sie Details, die ihr nie zuvor aufgefallen wären: winzige Risse in der gläsernen Zimmerwand, jeden einzelnen Faden im Gewand der Alten, den Schimmer eines Staubkorns auf ihrem Schuh. Und das verästelte Netz aus zarten Falten auf dem Gesicht der anderen.
Erschrocken erkannte Aeriel, wie alt Ravenna war. Anstatt ihr die Sicht zu rauben, schien das milchige Licht der Perle ihre Sinne zu schärfen. Plötzlich fühlte sie sich stark. Auch das verdankte sie der Perle, davon war Aeriel überzeugt. Ravenna seufzte leise, und Aeriel spürte die unzähligen kleinen Luftwirbel, die der Atemzug der Alten in Bewegung setzte. In wilden Kreisen kräuselten sie durch das Gemach, seidig weich wie Daunenfedern.
»Du bist meine Gesandte, Aeriel«, sagte die Gottgleiche und streckte die Hand aus, als wollte sie etwas aus der Luft klauben. »Diese Bürde hier musst du ebenfalls tragen.«
Plötzlich, wie von Geisterhand herbeigeschafft, umklammerte sie ein schnörkelloses Schwert. Silber glänzend, über drei Fuß lang, erleuchtete es das Zimmer: Ein gespenstisches Feuer züngelte um seine Klinge, das erst knapp unter der breiten Parierstange endete. Aeriel starrte überrascht. Nach einer weiteren Geste der Gottgleichen erschien in ihrer anderen Hand eine mit komplizierten Mustern eingravierte Schwertscheide. Sie schob die brennende Gleve in die Scheide, die Flamme erlosch, und schlagartig sah Aeriel, was die andere da hielt.
»Die silberne Nadel!«, schrie sie und taumelte zurück, während eisiges Entsetzen sie packte. Ravenna war es auf irgendeine Weise gelungen, sie zu verändern – zu vergrößern, in ein Schwert zu wandeln. Dennoch konnte es sich nur um die Nadel handeln, diesen silbernen Splitter, mit dem der Schwarze Vogel der Hexe sie damals bannte. Es war die Perle, die ihr dieses Wissen zuflüsterte. Ravenna nickte.
»Nimm sie, mein Kind! Sie kann dir von nun an kein Leid mehr zufügen.«
Aeriel starrte auf die Waffe in den Händen der Gottgleichen. Um keinen Preis wollte sie das Schwert berühren. Doch die andere drängte ihr das Geschenk regelrecht auf, hielt es ihr weiterhin hin, geduldig abwartend. Schließlich streckte Aeriel den Arm aus und strich mit der Hand über die verzierte Scheide. Zuerst hatte sie angenommen, sie sei aus Metall gefertigt, doch dann erkannte sie, dass es Holz war. Die eingeritzten Schnörkel schienen ein Muster zu formen, ein Gebilde, das sie nicht entschlüsseln konnte, selbst mit Hilfe der Perle nicht.
»Ist diese Waffe für Irrylath bestimmt?«, flüsterte Aeriel. »Soll ich sie ihm bringen?«
Die Gottgleiche schüttelte das Haupt. »Er besitzt die Diamantenklinge. Er braucht kein weiteres Schwert.«
Durch die Scheide hindurch ging von der Gleve eine schwach pulsierende Wärme aus. Sie bebte leicht, wie der zitternde Flügelschlag eines Nachtfalters.
»Ist das Schwert etwa für mich?«, hauchte Aeriel.
Die Gottgleiche schüttelte den Kopf. »Du bist nur die Botin. Nein, mein Kind. Letztlich ist keines dieser Geschenke für dich bestimmt.«
Widerstrebend umfasste Aeriel den Schwertknauf. Ihre Hand zitterte. Die Klinge fühlte sich sonderbar leicht an. Sie lag geschmeidig in ihrer Hand, als sie sie zog, und summte schwach, während sie brennend die Luft durchschnitt. Aeriel steckte sie wieder in die Scheide, und das Schwert stimmte flüsternd ein trostloses Lied an.
Aeriel legte es auf das Ruhebett neben sich. »Wem soll ich es geben?«
»Deinem Schatten«, erwiderte Ravenna.
Verwirrt betrachtete Aeriel die Gottgleiche. Sie hatte keinen Schatten. Das Tempelfeuer in Orm hatte ihn verbrannt. »Herrin, ich verstehe nicht.«
Die andere lächelte reumütig. »Verzeih«, sagte sie, »falls ich in Rätseln spreche, doch alles wird sich dir im Laufe der Zeit erschließen. Das verspreche ich.«
Aeriel betastete die Perle an ihrer Stirn. Sie schimmerte, schärfte ihren Blick. »Werde ich die hier ebenfalls jemandem aushändigen?«, fragte sie. »Wem?«
»Es ist ein Geschenk für die Weltenerbin, für meine Nachfolgerin – die Tochter, die an meiner statt regieren wird.«
Aeriel war verblüfft, ratlos, was die rätselhaften Worte der anderen bedeuten mochten. Wer war diese Tochter, von der sie sprach? Ravenna streifte leicht die Perle, und Aeriel spürte die Berührung, sonderbar verstärkt, als durchbohrte sie ein Pfeil. Sie schauderte.
»Du sagtest, dass du meine Perle zu einem Gefäß geformt hast«, begann sie. »Was soll darin aufbewahrt werden?«
»Alles«, sagte die Gottgleiche. »Das ganze Wissen, das die Welt zusammenhält und ich in jenen unzähligen Jahren zusammensuchte, in denen ich die riesigen Bibliotheken und Lager durchstreifte, bevor die Fäulnis um sich griff und sie zu Staub zerfallen ließ.«
Ihre müden Gesichtszüge nahmen einen gelassenen Ausdruck an, für einen langen Moment wirkten sie friedlich.
»Die Seele der Welt muss mit dieser Perle verschmelzen«, fuhr sie fort. »All meine Zauberkraft, mit der meine Tochter dieses von schrecklichem Leid heimgesuchte Land heilen kann, wird nicht verlorengehen, sobald ich hinscheide.«
»Aber die Hexe«, entrüstete sich Aeriel. »Die Hexe vernichtet alles! Die Lorelei saugt unserem Land mit jedem Tropfen Wasser, das sie stiehlt, das Leben aus. Eine entsetzliche Dürre wütet. Sie hat die Zwerge geraubt, die in den unterirdischen Höhlen die Maschinen der Welt bedienen, und ihre Engel der Nacht in die Königreiche an der Erdoberfläche ausgesandt …«
Die Gottgleiche nahm sanft Aeriels Hand und zog das Mädchen zurück auf das Ruhebett. »Sei unbesorgt! Das alles ist mir wohlbekannt. War ich es nicht, die das Kommen der Hexe voraussagte? «
Aeriel saß zusammengesunken da und starrte die andere an. Dann nickte sie bedächtig und spürte, wie ihr die dunkle Frau die Hand drückte. Mit unendlicher Traurigkeit in der Stimme sagte Ravenna:
»Sie ist meine Tochter, Aeriel. Ihr musst du die Perle bringen.«
»Sie … Die Weiße Hexe ist eine Gottgleiche?«, stotterte Aeriel,
zutiefst bestürzt. Die ganze Welt hatte angenommen, Ravenna sei die
Letzte des Volkes von Oceanus. Die Alte schüttelte den Kopf.
»Nein, mein Kind. Sie ist hier geboren, auf deiner Welt.« Ravenna erhob sich jäh. »Was weißt du von meinem Volk?«
»Wenig, nichts«, gestand Aeriel kleinlaut. »In Terrain, wo ich aufwuchs, nannten wir euch die Unbekannten-Namenlosen Götter.«
Die Gottgleiche stieß ein kurzes, gepeinigtes Lachen aus. »Wahrlich, ist unser Andenken so weit in Vergessenheit geraten? «, fragte sie. Dann sanfter: »Nun, vielleicht ist es so das Beste.«
Stille legte sich über sie. Das diesige Licht der Perle ließ Aeriel jede Falte in der Überdecke gewahren, jeden Staubpartikel in der Luft, jede Kerbe in der Scheide des brennenden Schwertes, doch nichts von dem, was die andere sagte, schien Sinn zu ergeben. Benommen rang Aeriel nach Fassung.
»Ich weiß, dein Volk kam vor ewigen Zeiten auf unsere Welt, von dem Planeten Oceanus. Das Land war tot, und ihr habt ihm Leben eingehaucht. Ihr habt uns und alle Pflanzen und Geschöpfe geschaffen. Ihr wart uns Mutter und Vater, habt uns an eurem unerschöpflichen Wissen teilhaben lassen, soweit unser Verstand euch folgen konnte, ihr habt uns gelehrt, gut und gerecht zu leben, und euch aufopferungsvoll um uns gekümmert …«
Wiederum Ravennas verbittertes Lachen. »Kind, Kind«, sagte sie. »So war es nicht. Wir sind wahrlich vor langer Zeit von Oceanus gekommen, und wir haben alles Leben auf dieser Welt erschaffen. Aber schwerlich aus Liebe – lediglich zur Zerstreuung. Zu unserem Zeitvertreib. Wir haben unser Wissen nie mit euch geteilt. Wir haben es angehäuft und euch so ungebildet wie irgend möglich gelassen.«
Auf einmal drehte sich die Gottgleiche um und schritt kopfschüttelnd auf und ab.
»Diese Welt war unser Lustgarten«, fuhr die dunkle Alte fort, »und wir erachteten euch, die Einwohner, die wir geformt hatten, nicht als unsere Kinder, sondern als schmückenden Zierrat. Unser Hab und Gut. Sklaven.«
Sie kam näher, kniete wieder vor Aeriel und sprach eindringlich auf sie ein. Eine Handbewegung von ihr dämpfte das Licht in der Kammer. Das Schwert zischte. Das Licht der Perle glühte. Aufs Neue schossen die farbigen Feuerperlen herbei, jedoch zeichneten sie sich dieses Mal nicht auf der Oberfläche der Glaskugel ab. Sie wirbelten hellleuchtend in Aeriels Bewusstsein. Mit einem lauten Keuchen berührte Aeriel das Juwel an ihrer Stirn und betrachtete die Bilder, die vor ihrem inneren Auge tanzten.
»Wir sind ein sehr altes Volk, Aeriel«, sagte die Gottgleiche, »unermesslich gelehrt, aber bei weitem nicht weise. Einst bereisten unsere Wagen die entlegenen Himmelssphären. Doch das war vor langer Zeit. Dieser Mond, deine Welt, lag damals verlassen da, tot – bis wir uns entschlossen, ihn bewohnbar zu machen. Wir erzeugten Dämpfe zum atmen, Menschen, Tiere, Pflanzen. Mein Volk konnte Dutzende von Stunden außerhalb der Glaskuppeln verbringen, bevor wir genötigt waren, zurückkehren. Und so stiegen wir vom Himmel herab, um in unserem Garten zu lustwandeln.«
Die Perle zeigte Aeriel alles, was Ravenna beschrieb: die riesige Maschine, die Luft herstellte, die Welt, die mit Flora und Fauna erblühte, die ersten kleinen Tiere, die ausgesetzt wurden.
»Schließlich entwickelte sich die Natur auf diesem Planeten von ganz alleine weiter. Wissenschaftler eilten herbei, mischten sich unter euer Volk und studierten es. Ich war eine von ihnen. Doch auch ich vergeudete leichtfertig meine Zeit – zu meinem tiefsten Bedauern. Wir alle waren unbesonnen. Unzählige von euch sind unsere Nachkommen, wenn auch vor vielen Generationen gezeugt. In meiner Torheit habe ich eine Tochter geboren und hier, in NuRavenna, aufwachsen lassen, als eine der unseren.«
Ein verzweifeltes Seufzen folgte. Aeriel betrachtete das von der Perle hervorgerufene Abbild der Ravenna, Jahrhunderte jünger, einen hellhäutigen Säugling in Armen wiegend. Die Gottgleiche stöhnte auf.
»Ich hätte es meinen Gefährten gleichtun sollen: Sie schicken ihre eigenen Halbling-Nachkommen in eure Welt, damit große Helden oder Königinnen aus ihnen werden. Stattdessen habe ich sie selbstsüchtig bei mir behalten, mit dem Versprechen, sie eines Tages in meine Heimat zu bringen. Eine Lüge, auch wenn ich die verzweifelte Hoffnung nie verlor, mein Versprechen irgendwann einzulösen. Aber dieses Ziel erwies sich als aussichtslos. Kein hier geborenes Geschöpf kann auf Oceanus überleben. Die Anziehungskraft unserer Welt würde euch in Stücke reißen. Dennoch wog ich meine Tochter in dem Glauben, sie sei eine der Altvorderen, und dass Oceanus ihr von Geburtsrecht zustehe. Wieder und wieder verschob ich meine Rückkehr, zögerte den unausweichlichen Moment hinaus, an dem ich ihr die Wahrheit offenbaren musste.«
Aeriel sah ein junges Mädchen, auf der Schwelle zur Frau, mit denselben stolzen Wangen und derselben hohen Stirn wie ihre Mutter, das Haar ebenso rabenschwarz wie das der anderen. Ihre Nase hingegen war schmaler als Ravennas, das Kinn ausgeprägter, ihr Teint blasser, die Augen schräg stehend und grün.
»Oriencor«, hauchte Ravenna. »Oh meine Tochter, Oriencor! «
Stille breitete sich aus. Schließlich erhob sich Ravenna.
»Dann ereilte uns die Neuigkeit. Wir wurden zurückbeordert. Eine schreckliche Katastrophe war unserem Heimatplaneten widerfahren: Krieg, ein Unheil, das seit Jahrhunderten nicht über uns eingebrochen war. Einige meiner Gefährten hatten Kriege zwischen euch, auf eurer Welt hier, angezettelt, damit sie ihre Verläufe analysieren konnten, doch dass unsere Welt eines Tages von einer solchen Tragödie heimgesucht würde, hätte sich niemand träumen lassen.
»Ein Großteil von uns eilte augenblicklich nach Hause. Meine Tochter war begierig, sich dem Kampf anzuschließen und mit den von mir gelehrten, magischen Fähigkeiten all jene unseres Volkes zu bekriegen, die sich zu unseren Feinden aufgeschwungen hatten. Aber ich fand immer neue Ausreden. Ebenso wenig gestattete ich ihr, ohne mich zu ziehen. Immerhin hätte sie sowieso niemand gewollt: Ich war die Einzige, die in ihr ein menschliches Wesen sah. Schließlich gestand ich ihr ihre wahre Herkunft.«
Ravenna sprach nun leise und zögernd.
»Sie verlor schier den Verstand. Sie verfluchte mich und floh in die Wüste. Als die letzten Wagen abreisten, blieb ich zurück, jedoch ohne eine Spur von ihr zu finden. Letztlich zog ich den verzweifelten Schluss, dass sie den Tod gefunden haben musste.«
Vor ihrem inneren Auge sah Aeriel die Wagen der Gottgleichen auf Feuerschwingen in den schwarzen sternenbedeckten Himmel emporschießen. Ravennas Tochter schrie ihnen nach, während sie aus der Kristallstadt flüchtete. Ihre Mutter hielt besorgt Ausschau nach ihr und durchkämmte vergebens den Planeten. Aeriel hätte das dunkelhaarige Halbling-Mädchen beweinen mögen. Als die Alte weitersprach, klang ihre Stimme erschöpft.
»Die wenigen von uns, die auf dieser Welt zurückblieben, mussten einen Entschluss über unser weiteres Vorgehen treffen. Botschaften von unserem Heimatplaneten blieben aus. Unsere Appelle wurden mit Schweigen beantwortet. Einige drängten auf den Bau neuer Wagen, aber wir verfügten weder über die nötige Zeit noch die Mittel. Längst hatte der Untergang dieser Welt eingesetzt. Künstlich erzeugt, war sie nie zur Selbstversorgung angelegt gewesen. Eine Handvoll von uns, abgeschnitten von unserem Mutterplaneten, konnte sich niemals der trügerischen Hoffnung hingeben, unsere Tochterwelt wie bisher zu unterhalten. Wir entschieden, sie allmählich verfallen zu lassen und abzuwarten, ob wir ein natürliches Gleichgewicht finden und die Welt retten könnten.«
Vor Aeriels innerem Auge entstand die Atmosphäre, die immer dünner wurde und im Weltenraum versickerte, ganze Pflanzen- und Tierarten, die dahinschieden, Menschen, die über Generationen hinweg ausgemergelter, kleiner, zäher wurden.
»Und unsere Bemühungen waren von Erfolg gekrönt«, sagte Ravenna, deren Stimme nun lebhafter wurde. »Im Laufe der Jahre züchteten wir neue Gewächse, die ohne unsere Pflege überlebten. Wir lehrten die Zwerge, die unterirdischen Maschinen zu bedienen, Wasser und Luft zu erzeugen. Nun, da die Atmosphäre ausgedünnt war, konnten wir nicht länger ohne Atemmasken außerhalb der Glaskuppeln verweilen. Nach und nach zogen wir uns von deinem Volk zurück und überließen euch eurem Schicksal.«
Die von der Perle in Aeriels Bewusstsein gewobene Landschaft nahm immer erkennbarere Formen an, und sie erkannte die Pflanzen, Tiere und Völker. Ravenna seufzte.
»Schließlich trat eine Art Stillstand ein, der Entropie war Einhalt geboten, zumindest glaubten wir das. Dann tauchte die Hexe auf und störte das labile Gleichgewicht, anfangs fast unmerklich: vergiftete Brunnen, zerstörte Dämme, verunreinigte Zisternen. Der Mangel an Wasser war stets unser wunder Punkt. Wir behoben die Schäden, so gut wir konnten. Doch schon bald wurde sie kühner, stellte ihr Können stolz zur Schau, ließ eine schreckliche Dürre keimen. Als sich unsere Reihen lichteten, riss sie jeden technischen Apparat an sich, den sie in die Finger bekam, und plünderte die verdunkelten Städte nach Werkzeugen. Im Laufe der Zeit erlernte sie unsere geheimsten Künste, mit denen sie diese Welt zu verwüsten gedenkt, so wie mein Volk Oceanus verwüstet hat.«
Aeriel starrte ins Leere, die Bilder in ihrem Kopf nahmen verheerende Züge an.
»Und dennoch«, flüsterte die Gottgleiche, »ist sie noch immer meine Tochter.«
Aeriel saß schweigend da, ihr fehlten die Worte. »Was ist dort geschehen?«, wagte sie schließlich. »Auf Oceanus?«
Ravenna setzte erneut an. Ein Feuerwerk an Farben explodierte in Aeriels Gedanken. Erschrocken wich sie vor den Bildern zurück, die dort entstanden.
»Seuchen«, keuchte die Gottgleiche. »Waffen von unvorstellbarer Grausamkeit, entsetzliche Gräuel, die noch Jahrtausende nachwirken. Oceanus hat sich selbst zerstört. Das ist der Grund, weshalb ihn am Firmament ein solch kaltes und geisterhaftes Licht umgibt: Er glüht angesichts des Gifts, das nie abnimmt. Nichts hat dort überlebt. Das ist die einzige Welt, die verbleibt: das einzige Geburtsrecht meiner Tochter. Wenn Oriencor doch nur zuhörte! Wenn ich sie überreden könnte, diesem wahnsinnigen Rachefeldzug zu entsagen, die Welt zu erneuern und nach NuRavenna zu kommen, um nach mir zu herrschen …«
Die Alte hielt inne und wandte sich ab. Aeriel sah sie an.
»Wie kann ich helfen, Herrin?«, fragte sie endlich.
Die Gottgleiche drehte sich wieder um. »Zermalme die Armee der Hexe!«, erwiderte sie mit solcher Inbrunst, dass Aeriel zusammenzuckte. »Vernichte die Engel der Nacht! Und leg ihr die Weltenperle in die Hand!«
Aeriel starrte sie unverhohlen an, sie war vollkommen erstaunt über Ravennas Bitte. Sollte sie, Aeriel, die Lorelei bekehren, wie sie einst einen Engel der Nacht befreite? Aber die Hexe war viel mächtiger und böser, als ihr unfertiger Vampir-Sohn es je gewesen war. Wenn Oriencor gar nicht errettet werden wollte? Wenn sie die Zauberkraft der Perle nun für ihre abscheulichen Ziele nutzte?
Doch Ravenna war derart überzeugt, dass Aeriel nicht zu widersprechen wagte. Immerhin war sie eine Gottgleiche, von Wissen beseelt, das weit über Aeriels Horizont hinausging. Ich bin nur die Botin, sagte sie sich. Vielleicht ist es nicht von Bedeutung, dass ich verstehe. Die Gottgleiche schritt von innerer Unruhe geplagt auf und ab.
»Was hält die Zukunft für uns bereit, Aeriel, weißt du es?«
Aeriel schüttelte den Kopf. Ravenna seufzte.
»Ebenso wenig wie ich. Unzählige Möglichkeiten offenbaren sich uns. Eine Unendlichkeit: Das Schicksal ist nicht vorherbestimmt. «
Aeriel nickte, in dem verzweifelten Versuch, den Worten der anderen Sinn zu verleihen. Talb, der Magier, hatte ihr einst, vor vielen Tagmonaten, genau dasselbe gesagt. Ihre Gedanken schweiften zu Königin Syllvas Armee, die sie am Rande der Sandwüste erwartete, abmarschbereit – oder hatten sie sich bereits auf den Weg gemacht? Wie lange war sie mit der Hexennadel im Kopf ziellos umhergewandert, und wie lange lebte sie schon hier in Ravennas Obhut? Die andere kam auf sie zu, streckte wieder die Hand nach der Perle aus, und wieder erhaschte Aeriel einen sonderbar flüchtigen Blick auf die gewaltige Macht der Gottgleichen.
»Dieses Juwel, mit dem ich dir die Vergangenheit zeige«, sagte sie, »kann auch die Zukunft lesen. Ich habe noch weitere Juwelen hier in der Stadt. Und ich verbrachte endlose Stunden mit der Suche nach einer Lösung, um dem Wahnwitz meiner Tochter ein Ende zu bereiten.«
»Was hast du gesehen?«, fragte Aeriel.
»Vieles.«
Wiederum tauchten verzerrte Bilder im Kopf des blassen Mädchens auf.
»Ich habe deine Armee besiegt und Oriencor triumphieren gesehen. Ich habe gesehen, wie Irrylath meiner Tochter die Diamantenklinge ins Herz stößt. Ich habe gesehen, wie er umkommt …«
»Nein!«, schrie Aeriel unwillkürlich, als die Szene vor ihr Gestalt annahm, auch wenn diesen Bildern ein flimmernder, ungewisser Ausdruck anhaftete. Im Vergleich zur Vergangenheit waren sie nicht eindeutig und klar. Dennoch wich Aeriel erschrocken zurück. Ravenna nickte.
»Dein Gemahl, ja«, sagte sie, »der einst meiner Tochter diente.«
Beim Gedanken an Irrylath empfand Aeriel Schmerz, Wut und Eifersucht. Verzweifelt versuchte sie, ihr Bewusstsein zu verschließen, das furchterregende Bild zu vertreiben, das die Perle dort webte: Irrylath, der vom Rücken des Avarclon fiel und kopfüber durch den Himmel in die aufgewühlte Leere stürzte. Die Szene wollte nicht verblassen. Aeriel schauderte. Eine Träne, heiß und salzig, lief ihr über die Wange.
»Sag, es wird nicht geschehen«, flüsterte sie. »Sag, dass Irrylath nicht umkommt.«
Die Gottgleiche wischte ihr mit ihrer mächtigen, dunklen Hand die Träne von den Lippen.
»Das kann ich nicht versprechen«, sagte sie betrübt. »Ich wünschte, ich könnte es. Aber ich habe ihn am Ende des Krieges auch überleben sehen. Du wurdest getötet. Ihr alle fandet den Tod. Es gibt unzählige Möglichkeiten, und keine ist wahrscheinlicher als die andere.«
Sanft berührte sie die Wange des blassen Mädchens, und Aeriel roch Myrrhe. Die entsetzlichen Vermutungen der Perle lösten sich auf. Aeriel seufzte erleichtert.
»Deshalb habe ich den Vers gedichtet«, erklärte Ravenna, »um dich und die lons, die ganze Geschichte, in Richtung der besten Zukunft zu geleiten, die sich mir eröffnete.«
Die Gottgleiche beäugte sie nun mit sehr traurigem Blick.
»Hat dein Herz jemals an etwas gehangen, mein Kind?«, fragte sie, »hast du es mit solcher Inbrunst geliebt, dass du annahmst, es niemals aufgeben zu können, um dann zu erfahren, dass dir keine andere Wahl bleibt?«
Eisiges Entsetzen packte Aeriel. Nein. Nie … nicht Irrylath! Sie schüttelte den Kopf.
Ravenna seufzte. »Schon bald wird es mir so ergehen … Ich werde das opfern, was ich am meisten liebe, zum Wohle der Welt. Komm, mein Kind! Lege dein Schwert an. Die Zeit ist gekommen, dir die fehlenden Verse des Reims anzuvertrauen und mein Geschenk in die Perle zu legen.«