8
Reim und Schatten
Bei den Worten der Gottgleichen schlug Aeriel das Herz höher. Endlich würde sie das Ende des Rätsels in Erfahrung bringen. Beinahe ungeduldig tastete sie nach dem Schwert, das die andere ihr überreicht hatte. Das sonderbar magische Pulsieren, das von ihm ausging, beunruhigte sie noch immer zutiefst, doch sie kam Ravennas Bitte nach und gürtete die lange Klinge. Sie vertraute der dunklen Göttin blind. Ravenna nickte.
»Und nun sag den Reim auf.«
Eine Hand auf dem Schwertgriff, die andere an der Perle auf der Stirn, schloss Aeriel die Augen und begann:
»Durch Avarics flache Länder …«
Sie trug den Reim vor, bis sie seinen letzten Vers erreichte:
»Der Weißen Hexe
Helferin
wird nicht mehr sein.«
Sie wusste nicht weiter und verstummte. Ohne die Augen zu öffnen, spürte sie das Lächeln der Gottgleichen.
»Du kennst einen Großteil. Gut. Das ist der Rest:
»Hieran wird ein
grausamer, blut’ger
Krieg ausbrechen,
um ein Land, öd und verbrannt,
zu rächen.
Mit einem leuchtend Flammenschwert,
wird ein Schatten …«
Unvermittelt brach sie ab. Aeriel blinzelte überrascht. Ein Bild, geformt aus Feuerperlen, blitzte an der Wand aus tiefblauem Glas auf. In den dunklen Gesichtszügen erkannte sie Ravennas Gefolgsmann.
»Herrin, auf ein Wort«, begann er.
»Melkior«, rief die Gottgleiche leise. Ihre Bestürzung blieb Aeriel nicht verborgen. »Ich erbat mir ungestörte Ruhe.«
»Vergib, Herrin. Die Zwerge verlangen …« Er hielt jäh inne und sah über ihre Schulter zu Aeriel. »Sie ist erwacht«, murmelte er fassungslos. »Du wolltest nach mir rufen, sobald sie wieder bei Bewusstsein ist.«
Ravennas presste die Lippen aufeinander, doch nicht vor Ärger. »Die Zeit drängt«, erklärte sie.
Der dunkelhäutige Mann riss erschrocken die Augen auf. »Und du hast ihr das Schwert überreicht? Du gabst mir dein Wort, es erst zu tun, wenn …«
Sie schüttelte den Kopf. »Ich wollte dir Gram ersparen.«
»Nein!«, schrie Melkior. »Herrin, habe Geduld! Habe Geduld, bis ich komme!«
Sein Bild verschwand. Ravenna wirbelte herum. »Beeilung, mein Kind!«, drängte sie. »Ich hatte gehofft, die Angelegenheit zu beenden, während Melkior noch mit deinen Gefährten beschäftigt ist, doch er wird jeden Moment hier sein. Schnell, zieh das Schwert!«
Aeriel starrte die Gottgleiche an. »Soll ich dich etwa gegen deinen Gefolgsmann verteidigen?«, stammelte sie.
Hastig schüttelte die dunkle Herrin das Haupt. »Nein. Das würde ich nie von dir verlangen. Auch soll Melkior kein Schaden zugefügt werden. Aber wir dürfen keine Zeit vergeuden. Zieh die Gleve!«
Aeriel kam ihrem Befehl nach. Fast ohne ihr Zutun sprang die Klinge aus der Scheide. Das trübe Feuer, das sich um die Waffe züngelte, brannte leise zischend.
»Halt sie vor dich«, bat Ravenna.
Aeriel hielt die Gleve mit der Spitze nach oben, umklammerte ihr langes Heft mit beiden Händen. Leicht wie eine Feder zeigte die Waffe summend in die Höhe. Entschlossen berührte die Gottgleiche die Spitze. Aeriel zuckte zusammen, sie spürte eine Welle von Energie durch die Gleve schießen. Die Perle auf ihrer Stirn loderte, und für einen kurzen Moment flammte das weiße Feuer entlang des Schwertes in einer wahren Farbexplosion auf.
»Steck sie wieder ein«, sagte Ravenna.
Aeriel schob die Waffe, erneut von einem weißen Funkeln umhüllt, in ihr Futteral. Das Licht der Perle auf ihrer Stirn war erloschen. Die Gottgleiche nahm Aeriels Hand, sie schien auf einmal atemlos.
»Hab keine Angst«, sagte sie.
Behutsam wölbte sie die Handflächen um die Stirn des blassen Mädchens. Aeriel hatte das Gefühl, den Boden unter den Füßen zu verlieren, kopfüber ins Leere zu stürzen, oder als drehte sich ein unzerstörbarer Faden aus Ravenna in die Perle. Seine Macht hielt Aeriel gefangen. Sie war wie versteinert. Um sie herum war nichts als Flirren – merkwürdige Magie, unbeschreibliche Zauberkraft, das Muster der Welt –, und alles drängte sich in das Innere des Juwels. Schon im nächsten Moment schrumpfte der Faden und verblasste allmählich. Aeriel spürte eine Veränderung, einen Luftzug, als sich jäh die Wand hinter der Gottgleichen teilte und Ravennas treuer Gefolgsmann in das Gemach polterte.
»Nicht!«, schrie er. »Nicht, Herrin …!«
Sanft löste die Gottgleiche ihre Handflächen von der Braue des blassen Mädchens. »Ruhig Blut, Melkior«, wandte sie sich flüsternd um. »Es ist vollbracht.«
Ihre Stimme war blechern, ihr Gesicht unter der düsteren Farbe ihrer Haut aschfahl. Mit einem Schrei stürzte der dunkelhäutige Mann vor, und die Gottgleiche sank schlaff in seine Arme. Aeriel unterdrückte einen Schrei, als Melkior seine Herrin behutsam auf den schwarzen Glasboden gleiten ließ. Die Gottgleiche lag im Sterben. Die Perle leuchtete wieder hell und durch sie spürte Aeriel in ihrer Brust einen leisen Widerhall des Herzens der anderen, das nun schwach wie eine niederbrennende Kerze flackerte.
»Herrin, Herrin, was hast du getan?«, schrie sie und fiel neben ihr und Melkior auf die Knie.
Ravenna lag kraftlos in den Armen des dunkelhäutigen Mannes und ließ den Blick zu Aeriel schweifen. Flüsternd, mit letzter Mühe, begann sie zu reden.
»Mein Kind, hast du nicht verstanden … was ich dir sagte? Mein Dasein, alles, was mich ausmacht, habe ich in dieses Juwel gelegt. Du musst es zur Weltenerbin bringen … meiner Tochter. Vernichte Oriencors Armee«, hauchte Ravenna, »und überreich ihr die Perle.«
Das Antlitz der Alten verzog sich vor Schmerz. Melkior umklammerte sie fester. »Nein, Herrin«, flehte er. »Verlass mich nicht!«
Erschöpft wandte sie sich zu ihm und berührte seine Wange. »Hätte ich eine Wahl … Aber wir wissen beide, dass dies mein vorbestimmter Weg ist.«
Ihre Augen schlossen sich flatternd. Ihre Hand an der Wange des anderen glitt zu Boden. Kein Atemzug hob nun die Brust der Gottgleichen, kein Puls jagte durch ihre Adern. Ravenna ist tot, dachte Aeriel benommen. Wie ist das möglich? Sie schüttelte den Kopf. Ihre Gedanken wirbelten durcheinander. Schon bald wird sie zu Asche zerfallen. Dann: Nein, die Körper der Gottgleichen lösen sich bei ihrem Tod nicht auf. Sie bleiben vollkommen, außer sie werden verbrannt. Eine geraume Weile starrte Melkior die leblose Hülle seiner Herrin an, dann barg er das Gesicht in ihrem Haar.
Hinter ihm, im Türrahmen, erhaschte Aeriel einen Blick auf die drei Zwerge: Maruha, Collum und Brandl. Die Zwergin wirkte jetzt ebenso frisch und munter wie die beiden anderen. Die drei wichen zurück, als sei ihre tiefe Ehrfurcht in Entsetzen umgeschlagen. Maruhas Augen waren weit aufgerissen, Collums Gesicht leuchtete aschgrau und grimmig. Brandl war den Tränen nahe.
Zitternd erhob sich Aeriel. Die Perle auf ihrer Stirn brannte, weiß flackernd und kalt. In ihrem Innern vibrierte die Zauberkraft der Gottgleichen, unerreichbar und unverständlich für Aeriel, selbst wenn sie sie aufgespürt und entschlüsselt hätte. Wie soll ich meine Aufgabe nur bewältigen?, dachte sie benommen. Wie soll ich gegen die Hexe bestehen und sie auf die Seite des Guten ziehen? Das Schwert an ihrer Hüfte murmelte leise. Das einzige andere Geräusch im Zimmer war das Schluchzen des dunkelhäutigen Mannes. Eine Hand legte sich um Aeriels. Jemand zog sie fort. Mit einem Blick nach unten gewahrte sie Maruha.
»Komm«, flüsterte die Zwergin. »Komm, Zauberin, Große Aeriel. Wir müssen weiter. Wir sollten hier nicht länger verweilen. «
Aeriel stand auf dem roten Wüstensand. Das dunkel getönte Glas der
Kristallkuppel erhob sich in ihrem Rücken, umschloss schützend die
Stadt, die nun verlassen dalag. Die Luftschleusen hatten sich als
Luken herausgestellt, die die Zwerge dank komplizierter und
unergründlicher Fingerfertigkeiten schon bald geöffnet hatten.
Dennoch, während Aeriel sie im Perlenlicht beobachtete, fing sie
auf einmal an zu verstehen: womöglich ein Nachhall von Ravennas
Zauber. Beinahe glaubte sie, die Türen der Gottgleichen eigenhändig
öffnen zu können, wenn sie es gewollt hätte.
Stattdessen drehte sie sich schwerfällig weg. Die Gedanken an die sterbende Ravenna lösten in ihr immer noch einen Schauer aus. Erinnerungen an die Gottgleiche, von ihrem Gefolgsmann brüsk unterbrochen, erfüllten Aeriel mit einem Gefühl der Bitterkeit, wären ihr nur wenige Momente länger vergönnt gewesen, hätte sie den ganzen Reim erfahren! Mit dem Rücken zur Glaskuppel ließ Aeriel den Blick über die sanft hügelige Wüstenlandschaft schweifen. Es war Nachtschatten, und nach dem Stand der Sterne zu urteilen nicht viele Stunden nach Untergang des Sonnensternes.
»Aber es war Nachtschatten, als wir kamen«, murmelte sie und schüttelte überrascht den Kopf. Beinahe ein Tagmonat war in NuRavenna verstrichen … Und wie viele mehr, in denen sie ziellos in der Wüste und den Höhlen umhergewandert war? Irrylaths Armee musste die Hälfte des Weges zur Einöde längst zurückgelegt haben! So viel Zeit war verloren … Maruha nickte neben ihr.
»Wir haben Stunden um Stunden dort verbracht, Herrin, mehrere Dutzend, während du und die heilige Gottgleiche euch bespracht.«
Aeriel beäugte die Zwerge. Sie glauben, ich kenne den Reim, dachte sie. Sie glauben, die Gottgleiche lehrte mich alles, sie denken, dass ich gewappnet bin, der Hexe entgegenzutreten.
»Wir haben die Zeit damit vertrieben, uns unter der Glaskuppel nützlich zu machen, Zauberin«, fügte Brandl hinzu, während er und Collum sich mit dem letzten Schloss abmühten. »Wir haben die Maschinen der Stadt inspiziert, denn Lord Melkior drängte, wir müssten schleunigst abreisen, sobald seine Herrin dir alles Nötige gegeben hatte, falls du dich diesem Krieg noch rechtzeitig anschließen wolltest.«
Sein junges Gesicht leuchtete erwartungsvoll, seine Rede war begierig und kühn. Schon jetzt schien er Ravennas Untergang, ihren Tod, verdrängt zu haben. Aber ich besitze nicht alles Nötige, wollte Aeriel schreien. Sie gab mir nur die Hälfte des restlichen Reimes – nicht genug! Auch nicht annähernd genug. Ich kann nicht einmal mit Gewissheit sagen, was es mit der Perle oder dem Schwert auf sich hat. Zur Beruhigung atmete sie tief ein. Die Luft außerhalb der Glaskuppel war köstlich dünn und kühl.
»Ihr sollt mich nicht ›Herrin‹ oder ›Zauberin‹ nennen«, erwiderte sie stattdessen verhalten. »Ich bin keines von beidem.«
Collum schnaubte verächtlich. »Wahrhaftig, Zauberin? Und ich vermute, du hast weder eine Perle auf der Stirn noch ein Schwert, das leise singt und dir von der Ravenna höchstpersönlich überreicht wurde.«
»Die nun nicht mehr unter uns weilt«, flüsterte Aeriel und berührte erst den Schwertknauf, dann die Perle. Sie fühlte sich verloren. »Ravenna ist tot.«
»Du bist ihre Nachfolgerin«, beharrte Maruha.
Aeriel schüttelte den Kopf. Nicht ich, dachte sie. Die Gaben der Gottgleichen sind nicht für mich bestimmt. Doch eine verzweifelte Entschlossenheit erfüllte sie. Es war bedeutungslos, dass sie das Ende des Reimes nicht kannte. Bedeutungslos, dass sie nun die Trägerin zweier eigentümlicher magischer Geschenke war, deren Sinn sich ihr verschloss. Irgendwie musste sie Ravennas Tochter überzeugen, ihrem Verrat abzuschwören und sich zur Weltenerbin aufzuschwingen.
»O bitte, Zauberin«, rief Brandl und trat zu ihr. Seine Hand fingerte an seiner kleinen Harfe. »Wirst du mir den Rest des Reimes verraten? Ich werde ihn singen, wohin auch immer ich ziehe. « Er warf einen Blick, nervös und zugleich trotzig, in Maruhas Richtung. »Ich werde ein Barde, egal, was meine Tante sagt.«
»Beim Pendarlon – meine ganze Familie, ein wertloses Pack!«, murmelte die Zwergin. »Mein Junge, du bist ebenso schlimm wie dein törichter Onkel.« Doch sie machte keinerlei Anstalten, einzugreifen.
Wie betäubt kniete Aeriel vor ihm im kühlen Sand nieder. »Ich kann deiner Bitte nicht nachkommen«, sagte sie. »Denn Ravenna hat mir nicht alles anvertraut. Aber ich werde dir sagen, was ich weiß:
Hieran wird ein
grausamer, blut’ger
Krieg ausbrechen,
um ein Land, öd und verbrannt,
zu rächen.
Mit einem leuchtend Flammenschwert,
wird ein Schatten …«
Aeriel biss sich auf die Lippe und verstummte. Der Rest war ihr unbekannt. Sie ertrug es nicht, in Brandls Gesicht zu blicken und dort die bittere Enttäuschung aufblitzen zu sehen, sobald er erkannte, wie erbärmlich wenig sie während all der Zeit in Ravennas Obhut erfahren hatte. Blankes Entsetzen durchfuhr Aeriel, als sie sich eingestehen musste: So viele unzählige Möglichkeiten gab es in der Zukunft. Wie konnte sie hoffen, diesen Krieg zu gewinnen, ohne das Ende des Reimes als Führer …?
Ihr blieb keine Zeit für längere Grübeleien – plötzlich merkte sie, dass obschon ihre Worte geendet hatten, der Reim selbst auch weiterhin deklamiert wurde. Eine andere Stimme flüsterte ihn, eine weiche, sonderbare Stimme, die wie geöltes Holz knarzte. Aeriels überraschter Blick glitt zu dem Schwert an ihrer Seite, doch es war nicht die Waffe, die sprach. Es war die Schwertscheide.
»Mit einem leuchtend
Flammenschwert,
wird ein Schatten, schwarz wie die
Nacht,
aus dem Exil zurückgekehrt,
sich stürzen in die Schlacht.«
Die prunkvollen Intarsien auf dem Holz verschwammen flirrend, wirbelten umher, wandelten sich in einen Vogel.
»Aus Liebe zu
jener,
die einsam steht, die Flagge hält,
in Händen die Perle
mit der Seele der Welt.«
Der Vogel streckte sich, zog seine langen, schmalen Schwingen aus dem Futteral. Seine weißen Federn schimmerten.
»Wenn Feinde in Fluten
untergehen,
Winterasche in Wasser mündet,
dann wird die erlösende Krone
von Ravennas Tochter entzündet.«
Aeriel blickte zu dem schlanken weißen Vogel auf der Schwertscheide. Ein helles, rundes Auge starrte zurück. Unsägliche Freude und Verwunderung überwältigten Aeriel.
»Reiher!«, schrie sie.
Maruha und Collum standen beide mit offenem Mund da. Brandl wich hastig zurück. Der Reiher blinzelte langsam; seine Metamorphose war noch nicht abgeschlossen.
»Im Grunde«, erwiderte er hölzern, »müsstest du mich Schwertvogel nennen, aber vermutlich muss ich mich wohl mit dem profanen Namen ›Reiher‹ abfinden. Doch nun Ruhe! Dies ist eine komplizierte Verwandlung.«
Leise klirrend schnappte der lange, scharfe Schnabel des weißen Vogels zu. Er schloss das Auge und befreite sich mit heftigem Flügelschlag aus der Schwertscheide. Dabei gewann er an Größe, die Federn verloren ihren silbrigen Glanz, bis er schließlich auf dem Wüstensand stand, die schneeweißen Schwingen spreizte und seine langen, plumpen Beine ausschüttelte.
»Welch mächtige Zauberkunst«, flüsterte Maruha.
»Ravennas Boten-Vogel«, lachte Aeriel und streckte die Hand aus, um seine weißen Brustfedern zu streicheln, »den ich seit Orm nicht gesehen habe.«
Der Reiher plusterte sich auf und tänzelte seitwärts. »Ich habe die Aufträge meiner Herrin erfüllt«, fauchte er, »was ihr alle nun auch tun solltet.«
Aeriel nickte. Mit einem Schlag schöpfte sie neue Hoffnung. Sie hatte den Reim! Ebenso wie die Perle und das Schwert, deren Bestimmungen ihr zwar noch immer Rätsel aufgaben, doch sie hielt alles in Händen. Schnell drehte sie sich zu den Zwergen um. »Brandl, hast du dir die Verse eingeprägt?«
Einen kurzen Moment sah der junge Barde mit stierem Blick zum Vogel, kam dann jedoch wieder zu Sinnen und trug alle drei langen Strophen, selbst die letzte, beinahe fehlerfrei vor, und das beim allerersten Versuch. Lächelnd nickte Aeriel. Vielleicht wurde doch noch ein echter Barde aus ihm, trotz Maruhas Bedenken. Zumindest verfügte er über das gewaltige Gedächtnis.
»Nun, Zauberin«, sagte Maruha nach geraumer Weile. »Wir sollten uns auf den Weg begeben. Der Alte Melkior erwähnte Höhlengänge, nicht weit von hier. Wir müssen zu unserem Volk zurückkehren und ihm alles erzählen, was wir von unseren geknechteten Brüdern und Schwestern wissen, die gezwungen sind, der Hexe zu dienen.«
»Wir müssen untererdig wandern, um sie zu befreien!«, fügte Brandl mit leuchtenden Augen hinzu, sein Gesicht war vor Begeisterung gerötet.
»Er ist kein Gottgleicher«, murmelte Collum flüsternd. »Lord Melkior ist ein Halbling, wie die Hexe.«
»Nicht mehr«, erwiderte Brandl ernüchtert. »Er ist jetzt ein Golam, ein Wesen aus Kabeln und Drähten, wie das Sternenpferd. « Seine Stimme nahm einen noch sanfteren Klang an. »Die Ravenna hat eine Replik von ihm anfertigen lassen, nachdem Oriencor ihn in ihrem Verrat zum Sterben zurückließ, vor tausend Jahren. Seitdem dient er der Gottgleichen.«
Maruha zischte ungeduldig, sie brannte förmlich, endlich aufzubrechen. »Wir müssen los«, sagte sie und reichte Aeriel die Hand, wie es Sitte bei den Zwergen war, doch Aeriel sträubte sich. Eine solche Geste war ihr viel zu förmlich. Eine Traurigkeit, die sich beinahe mit der Freude über ihr Wiedersehen mit dem Reiher messen konnte, erfasste sie. Niederkniend umarmte sie die Zwergin.
»Lebe wohl. Ich stehe tief in deiner Schuld.«
»Schuld?«, rief Maruha. »Beim Pendarlon, welch ein Unsinn, Zauberin! Das Entfernen der Nadel war Ravennas Werk, und hättest du uns nicht die Wieselhunde vom Leib gehalten, wären wir alle bei der Hexe gelandet.«
Brandl, der allmählich seine Sprachlosigkeit überwand, musterte den Reiher eindringlich, während dieser schmollend und flügelschlagend im bernsteinfarbenen Sand umherstolzierte und ihn keines Blickes würdigte. Maruha packte ihren Neffen am Arm.
»Ich werde ein Lied über dich dichten, Große Zauberin«, rief er, während seine Tante ihn entschlossen fortzog. Allein Collum blieb zurück und trat beklommen von einem Bein aufs andere.
»Möge alles Glück der Welt dich ereilen, Zauberin«, murmelte er schließlich.
»Und dich, Collum«, sagte Aeriel.
»Wenn du scheitern solltest …«, begann er, stockte dann, bevor es aus ihm heraussprudelte. »Wenn du scheitern solltest, Zauberin, sind wir alle verloren. Keine Ravenna mehr, die uns jetzt retten könnte.«
Unvermittelt wirbelte Collum herum und folgte den anderen schnellen Schrittes. Aeriel beobachtete, wie sie zu einer nahe gelegenen, niedrigen Felszunge eilten, die aus den Dünen ragte. Bei dem Gedanken an Collums wahre Worte wurde Aeriel einen Moment das Herz schwer. Alle Verantwortung lag nun auf ihren Schultern. Und der Perle und dem Schwert und dem Reim. Aeriel erhob sich und klopfte den Sand von den Knien. Der Reiher kehrte an ihre Seite zurück und schüttelte den roten Staub aus seinem Gefieder. Als die drei Zwerge die Felsformation erreichten, winkten sie ein letztes Mal. Aeriel hob zum Abschied die Hand, bevor ihre Gefährten aus ihrem Blickfeld schwanden.
Sie löste die Augen von der Felszunge und legte eine Hand an die
dunkle Kristallkuppel der Stadt. Zitternd schlang sie die Arme um
den Körper. Sie fühlte sich im kühlen Wind plötzlich allein, trotz
des Reihers. Mit den Fingern strich sie abwesend durch das flaumige
Gefieder, das den harten, kleinen Schädel des weißen Vogels
überzog. Gleichmütig duldete der Reiher ihre Liebkosung.
»Weißt du um die Bedeutung des Reimes?«, fragte sie.
»Ich übermittle lediglich die Botschaften meiner Herrin«, erwiderte der Vogel. »Mir obliegt nicht die Aufgabe, sie zu interpretieren. «
Seufzend beobachtete Aeriel einen kleinen, bernsteinfarbenen Skorpion, der über den Sand huschte. Der Reiher stürzte sich herab und pickte nach ihm. »Horch!«, bemerkte er durch einen Schnabel voll Sand. »Dein Schatten nähert sich.«
Aeriel runzelte verständnislos die Stirn. Ravennas Worte schossen ihr durch den Kopf, und sie fingerte einen Moment an dem Schwertknauf, doch sie warf keinen Schatten, schon seit Orm nicht mehr. Kein Schatten folgte ihr, bei welchem Licht auch immer. Mit einem enttäuschten Stöhnen glitt ihr Blick über den fernen Horizont. Der See der Hexe lag dort. Sie wusste es. Das dunstige Licht der Perle schärfte ihre Sinne.
Da bewegte sich etwas zwischen den düsteren Tälern der Dünen, etwas so Dunkles wie ein Schatten, schwarz wie die Nacht. Aeriel bemerkte eine Gestalt, die über die Sandwogen auf sie zumarschierte. Selbst aus dieser Entfernung und im Sternenlicht erkannte Aeriel sie sofort: Es war diejenige, die ihr seit den Ausläufern der Wüste wie ein zweites Ich auf Schritt und Tritt gefolgt war, die sie gemieden hatte und vor der sie aus Verzweiflung geflohen war, denn sich umzudrehen und ihrer Verfolgerin zu trotzen, hätte ihr mit unerträglicher Härte die eigene Identität und jegliche Erinnerung ins Gedächtnis gerufen, die die Nadel bannte. Doch Aeriel verspürte keinerlei Angst, als sich die dunkle Gestalt näherte.
»Du hast mich nun also endlich gefunden«, sagte sie. »Wie schön.«
»Du hast mich hübsch an der Nase herumgeführt«, fauchte die andere. »Als ich kein Licht hatte, um dir in die Höhlen zu folgen, gab ich dich verloren, bis der Reiher mich fand.«
Aeriel sah die Person an, die vor ihr stehen blieb. Erin war so hochgewachsen wie sie selbst. Das dunkelhäutige Mädchen trug einen blauen Überwurf, ärmellos, mit weiten, luftigen Armlöchern. Mit einem Wanderstock in Händen hätte Aeriel sie fast für eine der Ma’a-mbai gehalten. Barfuß und sandig sah die dunkelhäutige Inselbewohnerin ausgezehrt aus; ihre Haut schimmerte wie immer, schwarz wie der sternenlose Himmel. Erin warf dem weißen Vogel einen vorwurfsvollen Blick zu.
»Er hat mich bloß bis zu der Stelle geführt, an der ich das Leuchtfeuer der Kuppelstadt erblickte, bevor er mich schmählich im Stich ließ.«
Der Reiher plusterte sich auf. »Und warum sollte ich mehr tun?«, empörte er sich. »Du bist ein anspruchsvoller Schatten.«
Da er seinen Skorpion im Sand verloren hatte, stolzierte er hochmütig von dannen.
»Geht es dir gut?«, fragte Aeriel.
Erin streckte die Hand nach ihr aus, als wollte sie sich vergewissern, dass die andere kein Trugbild war. Dann nickte sie. »Und du? Du siehst irgendwie sonderbar aus … Verändert. Der Reiher erzählte mir, was dir widerfahren war, vom Schwarzen Vogel und der Nadel.«
Aeriel zog das dunkelhäutige Mädchen an sich. »Ja, ich bin wohlauf«, sagte sie. Sie versuchte, die Fremdartigkeit, die sie empfand, zu verbergen. »Ravenna hat mich gesundgepflegt.« Als sich Erin schließlich aus ihrer Umarmung löste, fuhr Aeriel fort: »Aber ich bin seit Tagmonaten ohne Neuigkeit von Irrylath und der Armee.«
Das dunkelhäutige Mädchen schüttelte den Kopf und lachte leise vor Erschöpfung und Erleichterung. »Ich ebenfalls, seit ich sie vor zwei Tagmonaten verließ.«
Aeriel berührte die Wange der anderen, sie erinnerte sich an die weit entfernte, lärmende Geschäftigkeit und das Seufzen der Zelte. Zwei Tagmonate … War wirklich so viel Zeit verstrichen? »Erzähl, was geschah, als du mein Verschwinden bemerktest.«
Müde lehnte sich Erin gegen die Glaskuppel. »Ein schrecklicher Aufruhr und eine ergebnislose Suche folgten. Natürlich war alles meine Schuld, das zumindest wollte dein Gemahl glauben, da ich die Letzte war, mit der du zusammen gesehen wurdest.« Die Stimme des dunkelhäutigen Mädchens schlug einen vorsichtigen, zurückhaltenden Ton an. »Schließlich gestand eine Wache, dich flüchtig gesehen zu haben, als du über die Dünen wandertest, und dein feiner Prinz Irrylath hätte ihm beinahe das Schwert in den Magen gerammt.«
Aeriel schloss lauschend die Lider. Das Juwel auf ihrer Stirn zeichnete alles, was Erin beschrieb, mit tanzenden Feuerperlen nach.
»Letztlich wurden deine Spuren jenseits des Lagers gefunden, die in einem wilden Durcheinander aus übelriechenden Federn endeten. Bei ihrem Anblick packte Irrylath ohnmächtige Wut, und er schimpfte, dass die Lorelei die Schwingen ihrer Engel der Nacht aus solch einem Gefieder fertigte.«
Ein Dutzend Schritt entfernt putzte sich der Reiher. Die Sterne am Firmament funkelten hell und kalt, kleine Nadelstiche des Lichts. Aeriel spähte zu dem Gestirn, das der Tanz der Jungfrauen genannt wurde.
»Und dann?«
»Als man davon ausging, dass du von den Ikari geraubt und der Hexe als Geisel genommen sein musstest, stürzte das Lager in fürchterliches Chaos.«
Aeriel zuckte zusammen, ihre Sinne gerieten durch die Worte der anderen in Aufruhr.
»Was war mit Irrylath?«, beharrte sie. Jede noch so kleine Nachricht von ihm war kostbar.
Erins Stimme wurde angespannt. »Beteuerungen von untröstlicher Trauer! Er hätte dir Leibwächter an die Seite stellen sollen; er hätte dich warnen sollen, nicht unbegleitet in den Dünen spazieren zu gehen, im Nachhinein war seine Zerknirschung jedoch wenig hilfreich«, höhnte sie. »Seine Mutter, Königin Syllva, wollte ihm die Diamantenklinge entreißen, bevor er oder andere zu Schaden kämen.«
Erschüttert senkte Aeriel das Haupt. »Und als du ausgezogen bist, um mir zu folgen, mich zu finden«, mühte es sich ab, »war er immer noch blindwütig vor Kummer?«
»Seine Cousine Sabr tröstete ihn«, erwiderte Erin mit beißender Schärfe.
Brennende Eifersucht loderte in Aeriel auf. Sie spürte, wie sich die Hand des dunkelhäutigen Mädchens fester um ihre schloss.
Erin murmelte: »Ich stoße ihm einen Dolch ins Herz, wenn ich ihm das nächste Mal begegne.«
»Das wirst du nicht«, rief Aeriel, nun mit weit aufgerissenen Augen. Erin versuchte, sich ihr zu entwinden, doch sie hielt sie fest. »Er gehört mir. Wenn du mich liebst, überlässt du ihn mir.«
Eine lange Weile sprach Erin kein Wort. Schließlich fragte sie: »Du liebst ihn also immer noch?«
Aeriel seufzte und fand keine Antwort. Ihre Gefühle waren ein Gemisch aus Zorn und Schmerz und Verlangen, ein heftiges, unstillbares Verlangen nach Irrylaths Liebe.
Das dunkelhäutige Mädchen sah sie an. »Ich liebe dich«, sagte sie sehr sanft. »Aus freien Stücken. Bis in alle Ewigkeit.«
Aeriel wollte ihre Wange berühren, doch Erin wandte sich ab, verschränkte die Arme. Schweigend musterte sie ihre Gefährtin. »Also bist du die Einzige, die dem Gedanken nicht erlag, ich sei von den Ikari gefangen genommen?«
Die andere schüttelte den Kopf. »Nein. Ich habe den Engel der Nacht in Pirs erlebt, der bei deinem Anblick schreiend die Flucht ergriff.«
»Hast du Irrylath davon berichtet?«
Erin schnaubte. »Dein Gemahl hört nicht auf mich.«
Aeriel senkte das Haupt, schmerzlich berührt von den Sorgen, die Erin ihretwegen gequält hatten. Und Irrylath ebenso. Es war nie ihr Wunsch gewesen, einem von ihnen Kummer zu bereiten. Aeriel hob den Blick in Richtung des weit entfernten, nicht sichtbaren Toten Sees der Hexe. Das weiche weiße Schimmern der Perle legte sich über ihre Augen.
»Also bist du alleine auf die Suche nach mir aufgebrochen.«
»Hätte Ravennas Reiher mich nicht vor einem Tagmonat gefunden, wäre ich immer noch ziellos umhergeirrt«, erwiderte Erin, nun ruhiger. »Was hast du nach deiner Rückkehr mit Irrylath vor?«
Seufzend schüttelte Aeriel den Kopf. Der Wüstenwind war kühl und voller feiner Sandpartikel, die gegen ihren Knöchel rieben. Der Reiher erhob sich in die Lüfte, um seine Flügel auszuprobieren und schwebte dann einen Moment, bevor er sich wieder niederließ.
»Ich werde nicht mit dir zurückkehren, Erin.«
Das dunkelhäutige Mädchen drehte sich langsam um und starrte sie an. Abrupt rückte es von der Glaskuppel ab und blieb wenige Schritte vor Aeriel stehen. »Was soll das bedeuten?«, wollte sie wissen. »Du musst an der Spitze der Armee reiten, die sich in deinem Namen versammelte! Ich bin diesen langen Weg nicht gereist, um nun damit abgespeist zu werden, dass du nicht mit mir zurückkommst.«
Vorsichtig löste Aeriel das Schwert von ihrer Hüfte. »Ravenna hat mir eine andere Aufgabe übertragen. Ich soll die Hexe treffen, aber nicht in der Schlacht. Ich muss ihr von Angesicht zu Angesicht entgegentreten.«
»Bist du wahnsinnig?«, schrie Erin und packte sie am Arm.
»Überbring die Kunde«, bat Aeriel, »dass unsere Verbündeten, die Zwerge unter der Erde, gegen die Hexe aufmarschieren. Lass die anderen wissen, dass ich mit der Alten Ravenna gesprochen habe.«
»Nein!«, rief Erin. »Das werde ich nicht machen. Ich lasse dich nicht im Stich.« Sie umfasste den Arm des blassen Mädchens. »Wenn du der Hexe wehrlos trotzen willst, werde ich nicht von deiner Seite weichen.«
Aeriel schüttelte den Kopf und hielt das Schwert hoch. Allmählich offenbarte sich ihr ein kleiner Teil des Alten Reimes. Die Gleve brannte und flüsterte in ihrer Scheide. »Jemand muss sich an meiner statt in die Schlacht stürzen«, sagte sie leise. »Wem außer dir kann ich vertrauen?«
Erin sah das Schwert an, dann wieder Aeriel. Die wartete geduldig. Dann, nach langem Zögern, nahm Erin die Waffe. »Oh«, rief sie überrascht, umklammerte den Schwertknauf und das Futteral. »Oh, was ist das? Sie fühlt sich lebendig an.«
Aeriel blieb ihr eine Antwort schuldig, denn im Grunde wusste sie nichts über die Macht des Schwertes. Früher war es die Nadel der Hexe gewesen. In welches Wunderding Ravenna sie verwandelt hatte, konnte Aeriel nicht sagen. Mit gebannter Aufmerksamkeit gürtete das dunkelhäutige Mädchen die Waffe. Das Schwert hing an ihrer Hüfte und flimmerte in dem Futteral. Während Erin die nun schmucklose Scheide anhob, um die Maserung im silbrig schimmernden Holz zu mustern und mit einem Finger über die weichen Rundungen zu streichen, überkam Aeriel ein merkwürdiges Gefühl, als berührte etwas sie sanft. Zitternd runzelte sie die Stirn und strich sich über die Arme. Als Erin behutsam versuchte, die Klinge zu ziehen, ließ sie sich nicht bewegen.
»Nur mit der Ruhe«, murmelte Aeriel, und erst beim Sprechen erkannte sie, dass die folgenden Worte der Wahrheit entsprachen. »Jetzt ist die Zeit noch nicht gekommen, doch in der Not wirst du die Gleve führen können.« Die Perle flüsterte ihr diese Erkenntnis zu, das wusste Aeriel nun – und wunderte sich eigentümlicherweise kaum darüber. Sie ließ den Blick über die trockene Dünenlandschaft schweifen, bevor sie sich wieder an Erin wandte. »Lebe wohl!«
»Warte …«, begann das dunkelhäutige Mädchen, sie rang nach Worten und wollte ihre Freundin nur widerwillig ziehen lassen. »Hast du keinen Reiseproviant, kein Wasser?«
Zum ersten Mal bemerkte Aeriel den kleinen Beutel mit Nahrung und den Wasserschlauch, den die andere geschultert hatte. Sie schüttelte den Kopf. Sie verspürte weder Hunger noch Durst.
»Die Perle nährt mich«, antwortete sie, war plötzlich davon überzeugt, keinerlei Verpflegung zu brauchen, solange sie Ravennas Juwel auf der Stirn trug. Als Erin sie umarmte, zog Aeriel den Hochzeitssari aus ihrem Gewand und reichte ihn ihr. »Gib das hier Irrylath«, sagte sie, »er soll eine Fahne daraus fertigen. Und richte meinem Gemahl aus, er findet mich am See der Hexe.«
Vorsichtig barg das dunkelhäutige Mädchen die gefaltete gelbe Seide in ihrem Überwurf. Aeriel ging einen Schritt zurück. Hinter ihnen flackerte plötzlich ein helles Leuchtfeuer vom höchsten Turm der Glaskuppel auf. Aeriel fuhr erschrocken zusammen.
»Reiher, was mag das bedeuten?«, rief sie.
Der weiße Vogel segelte über die Dünen auf sie zu. »Melkior verbrennt meine Herrin zu Asche«, erwiderte er. »Es ist an der Zeit, sich auf den Weg zu begeben.«
Er scherte aus, doch Aeriel bekam einen Flügel zu fassen.
»Warte, Reiher! Was hast du vor?«
Entrüstet schüttelte sich der Bote der Gottgleichen frei.
»Ich habe eine letzte Aufgabe für Ravenna zu erledigen«, war alles, was er zur Erklärung sagte, bevor er über die Sandgipfel davonschwebte. Vom Aufwind der Wüstenluft getragen, schnellte er in die Lüfte. In der Glaskuppel flammte das Leuchtfeuer noch höher, gleißend hell. Aeriel und Erin sahen dem weißen Vogel nach, der in der Ferne zu einem kleinen Punkt zusammenschrumpfte und schließlich verschwand.
Das dunkelhäutige Mädchen schulterte ihr Bündel sowie den Wasserschlauch und umarmte Aeriel ein weiteres Mal. Erst dann hob sie die Hand zu einem letzten Lebewohl und eilte von dannen. Aeriel winkte zurück, bevor die andere zwischen den Dünen aus ihrem Blick verschwand. Im nächsten Moment marschierte sie ebenfalls über den Sand, in die entgegengesetzte Richtung.