10
Das Hungergewürz
Als Aeriel erwachte, stand der Sonnenstern schon seit zwei Stunden am Himmel. Sie fühlte sich nicht wohl. Ihr Kopf schmerzte. Erin saß noch immer am Fenster, sie sah aus, als hätte sie nicht geschlafen. Ihr fiel ein, dass Erin vor Stunden mit ihr geredet hatte.
»Ich glaube nicht, dass ich je wieder Wein trinke«, sagte Aeriel, als sie aufstand. »Er macht mich dumm und schläfrig.«
Erin sagte nichts. Aeriel runzelte die Stirn, sie versuchte zu denken. Irgendetwas hatte sie vergessen. Eine Aufgabe, die sie zu lösen hatte … Gefährten, die auf sie im Wald warteten?
Sonderbar. Es wollte ihr nicht einfallen. Selbst jetzt konnte sie nicht klar denken; sie erinnerte sich nur dunkel, wie sie im Schloss des Fürsten angekommen war. Sie seufzte, schüttelte den Kopf und beschloss, später darüber nachzudenken.
Die Stunden des Tagmonats vergingen. Wann immer der Fürst Aeriel Gesellschaft leistete, fragte er sie über ihre Herkunft und Familie aus. Sie war eine Waise, erzählte sie ihm. Sie stamme aus Terrain.
Aber der Gedanke an Terrain verursachte ihr irgendwie Unbehagen. Sie schob ihn beiseite. Nach geraumer Zeit fiel ihr Isternes wieder ein, was die Mädchen ihr gesagt hatten und der Reim. Aber das alles war sehr fern.
»Ich muss bald aufbrechen«, sagte sie dem Fürsten einmal, obwohl sie nicht wusste, warum sie es sagte. Der Fürst legte seine Hand auf ihren Arm.
»Jetzt noch nicht. Bleib ein wenig. Pirs ist ein kleines Land, und ich habe nur wenig Besucher.«
Der Fürst zeigte ihr alle seine Gärten und Teiche, in denen Fontänen aufstiegen und rote und goldene Fische schwammen. Aeriel lachte und warf ihnen kleine Bissen zu, manchmal vergaß sie ihre kleine Sandlanguste vollständig, bis das kleine Tier sie in den Arm zwickte.
Und der Fürst zeigte ihr alle Räume seines Schlosses, die große Bibliothek mit ihren vielen Papyrusrollen und Büchern. Er zeigte ihr Bilder, denn sie konnte nicht lesen.
Oft, und wie rein zufällig, kamen sie bei ihren Wanderungen durch das Schloss und die Gärten an einer festlich gedeckten Tafel vorbei, aber keine Diener waren anwesend. Dann legte der Fürst ihr vor und füllte ihren Becher. Nie wieder trank sie Wein, und nach einer gewissen Zeit trank auch er nur Wasser in ihrer Gegenwart.
Einmal musste sie an Irrylath denken, der nie mit ihr spazieren gegangen war, gespeist, so angenehm über Nichtigkeiten geplaudert hatte. Stets war der Fürst bemüht, sich ihrer Stimmung anzupassen. Aeriel verdrängte ihre Erinnerungen. Trotzdem überfiel sie manchmal in Begleitung des Fürsten ein seltsamer Kummer. Irgendetwas wartete hinter diesen Schlossmauern auf sie. Und Erin mochte ihren Gastgeber nicht, was Aeriel verstörte, denn sie konnte keinen Makel an ihm entdecken.
Aber sie genoss auch die ständigen Tafelfreuden nicht wirklich, obwohl die Speisen köstlich gewürzt waren. Ihre Gedanken schweiften immer ab, wenn sie zusammen aßen, und kurze Zeit später war sie wieder hungrig. Dann pflückte sie Früchte im Garten, falls sie allein war, und fühlte sich schuldig, etwas gegessen zu haben, das er ihr nicht angeboten hatte.
Den ganzen Tagmonat und auch während der nun anbrechenden Nacht hörte sie Jagdhörner und Hundegebell aus den Wäldern. Manchmal sah sie die jungen Männer des Fürsten auf ihren schwarzen Pferden ausreiten.
»Was jagen sie«, fragte sie den Fürsten, »dass sie Tag und Nacht ausreiten?«
Der Fürst zuckte mit den Schultern. »Nichts Besonderes. Sie sind Jäger. Sie müssen jagen.«
Aber ein anderes Mal sagte er zu ihr: »Letzten Tagmonat gab es nur einen Grauen Stier in meinen Wäldern. Jetzt erzählen mir meine Reiter, dass es drei gibt: Zwar sind sie von unterschiedlicher Gestalt, aber alle sind grau und tragen kupferne Halsbänder.«
Irgendeine Erinnerung tauchte vage in Aeriel auf, verschwand aber schnell wieder. Sie hörte, wie der Fürst zu sich sagte: »Ich frage mich, was das für Kreaturen sind.«
Aeriel merkte, dass sie entgegnete: »Gargoyles«, ohne zu wissen, warum sie es sagte. Das Wort bedeutete ihr nichts. Der Fürst lachte nur.
Einmal lud er sie zu einem Ausritt in die Umgebung ein, aber Aeriel lehnte ab. Erst später, als sie allein war, wurde ihr bewusst, dass sie nur abgelehnt hatte, weil sie bei dem Ausritt auf ihren Wanderstab hätte verzichten müssen.
Sie stellte fest, dass sie sich seit ihrer Ankunft im Schloss an ihren Stab wie an eine Waffe geklammert hatte. Nicht eine Sekunde hatte sie ihn losgelassen.
Einmal hatte er ihr vorgeschlagen, mit einem Nachen auf eine Insel inmitten eines der größeren Fischteiche zu fahren, aber sie lehnte ebenfalls mit der Begründung ab, sie könne nicht schwimmen. Auch bei diesem Ausflug hätte sie auf ihren Wanderstab verzichten müssen, und das war der eigentliche Grund.
Wie durch einen Nebel erkannte sie, dass er ihr immer etwas vorschlug, bei dem sie ihren Stab beiseitelegen müsste. Das machte er aber nur, wenn Erin nicht dabei war, was jetzt sehr oft vorkam. Wenn sie allein waren, gab er sich sehr vertraut. Zuerst war das dunkelhäutige Mädchen ständig in Aeriels Nähe geblieben, doch jetzt ging sie immer öfter eigene Wege. Aeriel merkte nie, wann sie ging, ihr Schritt war sehr leise. Sie wurde sich immer erst hinterher ihrer Abwesenheit bewusst, wenn sie in ihr Zimmer zurückkehrte und Erin dort still saß. Erin sagte ihr niemals, wo sie gewesen war.
Es waren nur noch zwölf Stunden bis zum Abend, merkte Aeriel
überrascht. Sie saß mit dem Fürsten in einem seiner großen
Gemächer. Sie hatten gerade ein Mahl beendet, bei dem die Speisen
besonders kräftig gewürzt waren. Aeriel hatte einen halben Krug
Wasser getrunken, um das Brennen in ihrer Kehle zu kühlen. Sie
fühlte sich benommen und noch immer seltsam hungrig.
Ein Diener hatte seinem Herrn eine Laute gebracht. Sie war aus Ebenholz, mit silbernen Saiten und mit Intarsien aus Elfenbein verziert. Der Fürst spielte darauf.
»Warum siehst du mich nie an?«, fragte er sie plötzlich. »Wann immer wir zusammensitzen, wendest du den Kopf ab.«
Sein Ton war gerade noch höflich. »In Terrain, wo ich herstamme«, sagte Aeriel, »ist es nicht Sitte, jemanden anzustarren.«
»Starre ich dich an?«, fragte der Fürst.
»Ja«, entgegnete sie und nahm ihren Becher.
»Du besitzt eine Laute«, sagte er. »Warum habe ich dich nie spielen gehört?«
»Ich spiele nur für meinen Unterhalt.« Das klare kalte Wasser löschte ihren Durst nicht. »Bin ich nicht dein Gast?«
Der Fürst lachte. »Dann will ich für dich spielen«, antwortete er und berührte die Saiten. Aeriel erschauderte. Eine Saite war zu hoch gestimmt. Der Fürst unterbrach sein Spiel und stimmte sie. Aeriel kannte bereits die Worte des Liedes.
»Die Welt ist müde ihres
Laufs in steter Runde;
Und Nebel liegen schwer und dunstig über’m
Meer.
Käm doch nur endlich die ersehnte
Stunde,
In der du tröstest mein armes Herz so schwer
…«
Der Becher war Aeriels Hand entglitten. Sie war aufgesprungen, ohne es zu merken. Der Fürst hielt inne.
»Was ist mit dir?«, fragte er.
Aeriel blinzelte und schüttelte den Kopf. Sie wusste nicht, was über sie gekommen war. Ihre Glieder fühlten sich seltsam leicht an. »Ich bitte dich, nicht dieses Lied zu spielen.«
Der Fürst legte die Laute zur Seite. »Verzeih mir. Ich glaubte, dir eine Freude zu machen …«
»Nein. Nein, das ist es nicht«, hörte sie sich sagen. Das würde mir gefallen, dachte sie, wenn ich … Wenn ich in Isternes wäre. Wenn du Irrylath wärst. Sie sah den Fürsten an, und ein Schauder überlief sie. Eine seltsam glühende Sehnsucht nach Irrylath überfiel sie. Der Fürst war ebenfalls aufgestanden.
»Bist du krank? Setz dich. Ich rufe meine Heiler …« Er hatte ihre Hand ergriffen. Aeriel wich vor ihm zurück, beruhigte sich. Sie bemühte sich, ihrer Stimme einen festen Klang zu geben. »Das ist nicht nötig. Ich bin nur übermüdet. Ich gehe in mein Zimmer und muss ruhen.«
Sie verließ ihn eilig, lief fast. Zuerst folgte er ihr, besann sich dann eines anderen. Sie hörte, wie er stehen blieb. Erleichterung überkam sie, als sie in die Halle floh. Er folgte ihr nicht.
Erin saß am Fenster, spielte mit etwas in ihren Händen. Aeriel ließ
sich schwer auf das Ruhebett sinken.
»Wo warst du?«, fragte Erin.
»Beim Fürsten«, antwortete Aeriel. Sie war noch atemlos.
»Hast du mit ihm gespeist?«, fragte das dunkelhäutige Mädchen. Aeriel nickte. Schließlich blickte Erin auf, und Aeriel sah, was sie in den Händen hielt: eine Scheibe aus poliertem Silber. Erin sagte: »Was gibt er dir zu essen, dass du immer dünner wirst?«
Aeriel sah sie verwirrt an. Erin stand auf, sie stellte sich vor sie und hielt ihr den Spiegel hin, damit sie sich sehen konnte. Überrascht hielt Aeriel den Atem an. Ihr Gesicht war ausgezehrt. Sie konnte die Rippen unter ihrer Haut fühlen.
»Aber«, stammelte sie, »ich habe doch gut gegessen …«
»Und wie fühlst du dich?«, fragte Erin und legte den Spiegel beiseite.
»Schwindelig«, murmelte Aeriel.
»Ausgehungert«, sagt Erin.
»Ja«, murmelte Aeriel. »Ich bin hungrig. Seltsam.«
Das dunkelhäutige Mädchen nahm einen Teller mit Brot und Früchten. »Iss das.«
Aber Aeriel wandte das Gesicht ab. Der Duft der Früchte machte sie krank. »Das kann ich nicht essen.«
»Warum nicht?«, fragte Erin. »Das ist so gutes Essen, wie wir es vorher nie bekommen haben. Nun isst du nur noch das, was der Fürst dir vorsetzt.«
»Ich kann nicht«, sagte Aeriel und schob den Teller weg. »Es hat keinen Biss, keinen Geschmack …«
»Mit Hungergewürz hat er deine Speisen vermischt!«, rief Erin zornig. »Roschka hat es mir gesagt. Es verwirrt deine Gedanken, macht dich vergessen und lässt immer ein Hungergefühl zurück.«
Aeriel starrte sie an. »Wovon redest du?«
»Glaubst du denn, ich weiß nicht, dass du eine magische Person bist? Du hast mir zwar nichts erzählt, aber ich weiß, dass du mit diesem Mann hier nichts zu schaffen hast. Wir sind schon einen ganzen Tagmonat hier!«
Aeriel starrte sie an und merkte erst jetzt, dass sie nie an Aufbruch gedacht hatte. Was hatte der Fürst mit ihr gemacht? Wie konnte sie nur so lange bleiben?
»Magisch?«, murmelte sie und war ohne Grund jetzt ärgerlich. »Magisch … Was willst du damit sagen?«
»Glaubst du, ich hätte nichts bemerkt?«, antwortete Erin. »Glaubst du, er bemerkt es nicht?« Sie berührte ihr Handgelenk. »Kein Sterblicher besitzt eine Salbe, die alle Wunden heilt.«
»Das war Ambra«, sagte Aeriel zornig. »Ich habe es dir erklärt. «
»Du erschienst wie aus dem Nichts in jenem Obstgarten.«
»Ich bin nicht aus dem Nichts erschienen!«, schrie Aeriel und stand auf. Sie war im Leben noch nie so zornig gewesen. »Du hast mich vor lauter Angst nicht gesehen.«
»Aeriel«, sagte Erin, und ihre Stimme war plötzlich wieder ruhig. Ihre schwarzen Augen sahen sie an. »Du besitzt keinen Schatten. Du hattest keinen Schatten im Obstgarten. Deshalb hielt ich dich für einen Geist.«
Aeriel taumelte. Ihre Knie waren weich. Sie versuchte, ruhig zu sprechen. »Was meinst du damit?«
»Sieh doch! Sieh doch!«, rief Erin da, nahm eine Lampe und hielt sie vor ihre Gefährtin.
Aeriel sah zu Boden. Kein Schatten war unter ihren Füßen. Sie sprang herum, blickte hinter sich. Jeder Gegenstand im Zimmer hatte seinen Schatten, der im weißen Licht der Lampe zitterte, jedes Ding, nur sie nicht. Aeriel fühlte, wie ihre Knie nachgaben. Sie legte die Hände über ihr Gesicht. Ihr ganzer Körper wurde von Schluchzen geschüttelt.
»Wo ist mein Schatten?«, stieß sie hervor. »Warum habe ich keinen? Ich hatte einen, als ich das Sandmeer überquerte. Wo ist er geblieben?«
Erin setzte die Lampe auf den Boden, nahm wieder den Teller mit Brot und Früchten. »Hier«, sagte sie. »Iss das. Iss es, ehe du ohnmächtig wirst.«
Schließlich aß Aeriel, um ihr einen Gefallen zu tun. Das Fruchtfleisch der Pflaumen hatte zuerst einen äußerst bitteren Geschmack. Aber allmählich verging er. Sie konnte die Frucht wieder genießen. Dann aß sie das Brot. Das Brennen in ihrer Kehle hörte auf, sie verspürte Heißhunger. Ihr Körper schmerzte. Bald hatte sie alles aufgegessen.
Erin sagte: »Du musst mit Roschka sprechen. Er hat mir etwas über den Fürsten erzählt, aber er sagt, er muss mit dir reden.«
»Wer ist Roschka?«, murmelte Aeriel. Sie rieb sich die geröteten Augen und hielt flüchtig nach ihrem Schatten Ausschau.
»Der junge Mann bei dem Pflaumenbaum«, antwortete Erin. »Er ist der Neffe des Fürsten. Ich habe ihm gesagt, dass ich kein Junge bin, aber er riet mir, es niemanden wissen zu lassen. Er verdächtigt seinen Onkel, dir Hungergewürz unter die Speisen zu mischen, aber das soll er dir selbst erzählen.« Erin ging zu dem großen Fenster. Aeriel folgte ihr mit den Blicken. Die Äste des Baums vor dem Balkon erzitterten, als ob jemand an ihm hochklettern würde.
Zuerst erschienen zwei Hände, dann Kopf und Schultern eines jungen Mannes. Der Junge zog sich mühelos über die Balustrade. Seine Haut war malvenfarben, vom selben Ton, den auch Aeriels Haut besaß, ehe die Wüstensonne sie gebleicht hatte.
Er trug Hosen und Stiefel und einen Turban wie sein Onkel. Erin half ihm durch das Fenster. Er kniete nieder. Seine Wimpern waren golden, mit grünlichem Schimmer. Seine Stimme kam Aeriel seltsam vertraut vor.
»Kronprinz Roschka zu deinen Diensten, Herrin.«
Aeriel fing an: »Ich bin Aeriel und keine Herrin«, aber noch ehe sie zu Ende sprechen konnte, sog der junge Mann scharf die Luft ein. Überrascht lehnte er sich zurück.
»Du hast grüne Augen.«
»Genau wie du«, sagte Aeriel.
»Du kommst aus Esternesse? Erin sagte …«
»Ich kam vor kurzem dorther.«
Er schwieg. »Ich habe vorher niemanden mit grünen Augen gekannt«, sagte er schließlich. »Obwohl behauptet wird, meine Mutter hätte grüne Augen gehabt. Sie war Königin von Esternesse. «
Aeriel runzelte die Stirn. »Es gibt nur eine Königin in Isternes, und ihr Name ist Syllva. Ihre Augen sind violett.« Der junge Mann schwieg wieder. Aeriel beobachtete ihn. »Erin sagte mir, du wolltest mit mir reden.«
Er blickte auf. »Du befindest dich hier in Gefahr. Mein Onkel hat deine Speisen mit Hungergewürz vermischt.« Aeriel wandte den Kopf ab. Das dunkelhäutige Mädchen saß ruhig da und beobachtete die beiden.
»Warum hat er das getan?«, flüsterte Aeriel.
»Um dich zu halten«, sagte Roschka. »Damit du nur noch von seinen Speisen isst und nicht fortgehst.«
»Warum?«, fragte Aeriel.
Der junge Mann schüttelte den Kopf. »Sag mir, hast du den ganzen Tagmonat, seit du hier bist, nichts Ungewöhnliches in diesem Schloss bemerkt?«
Aeriel dachte nach. Ihr Kopf war nicht mehr so dumpf, seit sie das Brot und die Pflaumen gegessen hatte. »Nichts«, murmelte sie, »außer …«
»Ja?«
»Ich habe keine Frauen gesehen.«
»Es gibt keine Frauen«, sagte Roschka.
Aeriel blickte auf. »Im ganzen Schloss nicht?«
»Keine, außer zwei sehr, sehr alten Kräuterweibern, die keine Kinder mehr bekommen können. Herrin …«
Aeriel hob die Hand. Sie konnte ihm nicht folgen. »Ich bin keine Herrin.«
»Wie ist der Name meines Onkels?«
Aeriel zuckte zusammen. »Ich … Ich kenne ihn nicht«, sagte sie überrascht. »Er nannte ihn nicht. Aber warum fragst du mich? Kennst du den Namen deines Onkels nicht?«
Roschka schüttelte den Kopf. »Nein. Weder kennt ihn jemand in diesem Schloss noch in ganz Pirs.«
»Er hat keinen Namen?«, sagte Aeriel. »Wie kann ein Mensch keinen Namen haben?«
»Einst hatte er einen«, entgegnete der Prinz, »wie alle anderen, aber jetzt hat er ihn nicht mehr. Er hat ihn verkauft. Er wurde ihm genommen.«
Aeriel war plötzlich kalt. »Wie meinst du das?«, fragte sie.
Roschka blickte zu Boden. »Ich will versuchen, es dir zu erklären«, sagte er. »Mein Onkel ist nicht der rechtmäßige Herrscher von Pirs. Eigentlich ist er nur Regent. Mein Vater war der Fürst, aber sein Bruder ergriff nach dem Tod meines Vaters und meiner Mutter die Macht. Da waren meine Schwester und ich nur wenig mehr als ein Jahr alt.«
»Zwillinge?«, fragte Aeriel. »Hast du eine Zwillingsschwester? «
Der Kronprinz nickte. »Sie war ein paar Minuten älter als ich, Erbin der Ländereien meines Vaters …«
»Grüne Augen«, murmelte Aeriel plötzlich. »Königin Syllva erzählte mir einmal, dass ihre Schwester grüne Augen hatte. Sie war Königin für zwölf Jahre, während Syllva in Avaric lebte. Später trat sie eine Reise an und kehrte nie zurück. Ihr Name war Eryka.«
Roschka sah sie an. »So hieß auch meine Mutter; und meine Schwester, obwohl wir sie Erryl nannten, was so viel wie ›kleine Eryka‹ bedeutet.«
Aeriel sah ihn wieder prüfend an und fragte sich, ob er sie an Königin Syllva von Isternes erinnerte. Seine Bewegungen, seine Art zu sprechen schienen denen von jemandem zu gleichen, den sie kannte.
»Du bist Syllvas Neffe«, sagte sie langsam, »und also bist du ein Cousin meines …« Fast hätte sie gesagt: »… meines Mannes«, hatte sich aber noch rechtzeitig zurückgehalten. Jede Erinnerung an Irrylath schmerzte sie.
»Du bist mit dieser Königin von Esternesse verwandt?«, fragte Roschka.
Aeriel schüttelte den Kopf. »Keine Blutsverwandte.«
»Dann muss ich dich trotzdem Cousine nennen«, sagte der Kronprinz.
Aeriel wandte den Kopf ab. »Aber du sprachst von deinem Onkel, der keinen Namen hat.«
»Oh, ja«, sagte Roschka. »Er hatte einen Namen wie jeder andere
auch, bis mein Vater starb. Ein Jagdunfall, hieß es. Aber ich will
dir erzählen, was der Diener meines Vaters mir berichtete.
Er sagte, dass vierzehn Tage bevor mein Vater zur Jagd ausritt, ein schwarzer Vogel auf dem Wachturm landete. Niemand wusste, was das für ein Vogel war; Er war ganz schwarz, und zuerst versuchten die Wachen, ihn wegzuscheuchen. Aber er blieb und war nicht lästig, und so beachtete man ihn nicht weiter.
Das heißt, bis auf meinen Onkel. Zu einer stillen Stunde, sagte der Diener, beobachtete er meinen Onkel, wie er zum Turm ging. Etwas später flog der schwarze Vogel fort, nach Nordwesten, nach Pendar und noch weiter. Mein Onkel kam vom Turm und war sehr schweigsam. Nicht einmal mit meinem Vater sprach er.
Sieben Tage später kehrte der schwarze Vogel zurück, oder ein ähnlicher, und mein Onkel ging wieder zum Turm. Der Vogel flog fort. Dann wurde mein Onkel noch schweigsamer, wollte aber niemandem erzählen, was geschehen war.
Und nur sechs Stunden vor der Dämmerung, als die Diener meines Vaters die Jagd vorbereiteten, kam der Rabe wieder zum Turm. Mein Onkel schien es vorher zu wissen, denn er erwartete ihn schon.
Diesmal flog der Vogel fast sofort wieder, aber mein Onkel blieb noch eine Weile auf dem Turm. Als er schließlich kam, sah er sehr erschöpft aus. Er sagte meinem Vater, dass er krank sei und nicht mit auf die Jagd gehen könnte. Und danach konnte sich niemand mehr an seinen Namen erinnern. Man nennt ihn ›Herr‹ oder ›Bruder des Fürsten‹.«
Der junge Prinz schwieg und atmete tief ein. Die Lampe, die Erin zwischen ihn und Aeriel gestellt hatte, brannte hell. Das dunkelhäutige Mädchen saß im Schatten und hörte zu.
»Bei Tagesanbruch ritt mein Vater in den Wald«, sprach Roschka. »Die Jagd war sehr erfolgreich. Nachtwanderer, das Pferd meines Vaters, lief weit voraus. Aber irgendetwas, das aus dem Unterholz hervorbrach, erschreckte es. Es scheute; mein Vater stürzte und wurde bei dem Unfall getötet. Niemand hat gesehen, was Nachtwanderer so erschreckte.
Mein Onkel machte sich dann zum Fürsten, und seitdem sind immer schwarze Vögel auf den Turm geflogen. Mein Onkel spricht mit ihnen. Wenn er dann zurückkommt, sieht er jedes Mal erschöpft aus, und die Heiler geben ihm eine Medizin. Nur wenige Stunden, bevor er ausritt und dich mitbrachte, kam ein Rabe geflogen, doch seitdem ist keiner mehr gekommen.«
Aeriel blickte auf. Ihr war eiskalt. Die Flamme der Lampe spendete keine Wärme. »Ich kann das Krächzen dieser Vögel nicht leiden«, sagte sie. »Hat dein Onkel je von der Weißen Hexe gesprochen, von einer Lorelei?«
»Hexe?«, sagte Roschka. »Ich weiß von keiner Hexe. Obwohl die Diener sagen, dass mein Onkel nach den Besuchen des Vogels nicht schlafen kann und manchmal etwas von einer weißen Königin murmelt.«
Aeriel schrak entsetzt zusammen. Sie wollte reden, schwieg dann aber. In wie vielen anderen Träumen sprach die Lorelei? Was würde aus der Welt werden, wenn sie die lons von Westernesse gefangen nahm, ehe Aeriel sie fand?
Sie schloss die Augen, ihr war nach Weinen zumute. Was tue ich hier?, dachte sie. Ich könnte schon längst in Orm sein. Sie öffnete die Augen wieder und sah Roschka an.
»Aber was ist aus deiner Schwester geworden?«, fragte sie. »Du sagtest, sie war die Ältere. Sollte sie dann nicht Kronprinzessin sein?«
Der junge Mann nickte. »Darauf wollte ich zu sprechen kommen. Als mein Onkel den Thron bestieg, sagte er, wenn Königin Eryka ihn heiraten würde, besäßen ausschließlich ihre Kinder das Erbrecht. Seine eigenen würde er ausschließen. Aber der Diener meines Vaters hatte ihr eine große schwarze Feder gezeigt, die er an der Stelle gefunden hatte, wo mein Vater gestorben war, und sie lehnte sein Angebot ab.
Er sperrte sie dann in den Turm, wo er sich immer mit dem Vogel traf, und sagte, er würde sie erst herauslassen, wenn sie ihn heiratete. Er vermischte ihre Speisen mit Hungergewürz, damit sie ihre erste Liebe vergaß und sich allein nach ihm sehnte. Sie aß, bis sie so dünn war, dass sie durch das schmale Fenster ihrer Zelle schlüpfen konnte.
Ihre Zofe hatte ihr ein Seil gebracht, aber es riss, ehe sie den Boden erreicht hatte. Sie fiel, nicht tief, aber weil sie so geschwächt war, starb sie.«
Roschka starrte ins Licht der Lampe. Seine Lippen waren schmal geworden, seine grünen Augen blickten dunkel und hart.
»Die Zofe meiner Mutter sagte, sie suchten den ganzen Turm ab, konnten die Prinzessin aber nicht finden. Mich hatte man bereits aus der Obhut meiner Mutter genommen, aber die Zofe behauptete, ein kleines Mädchen könne nicht ohne Gewalt aus den Armen ihrer Mutter entfernt werden. So ließ mein Onkel sie gewähren.
Die Zofe meiner Mutter schwört, dass sie einen großen weißen Vogel vor dem Fenster ihrer Herrin sah, der das Kind forttrug. Aber ich glaube, sie war verrückt vor Kummer und Schmerz und dass mein Onkel die Kronprinzessin ermordete.«
Aeriel war ganz steif vom langen Sitzen. »Was hat das alles mit mir zu tun?«, fragte sie. »Und warum hat dein Onkel dich am Leben gelassen?«
Roschka lächelte dünn. »Ich bin nicht in Gefahr. Mein Onkel hat keine Frau.«
»Frau?«, fragte Aeriel.
»Um ihm einen Enkel zu gebären«, sagte der Kronprinz. »Solange bin ich der einzige Erbe. Alle Frauen in diesem Schloss sind geflohen. Und die Töchter der Adeligen leben versteckt, selbst die Bauersfrauen.
Sie leben, wie einst das Erdvolk lebte. Niemand bestellt das Land. Es ist nicht mehr fruchtbar. Die Flamme ist erloschen. Die Träger des Lichts haben keine Nahrung mehr …«
»Träger des Lichts?«, fragte Aeriel. Sie hatte den Faden verloren. Die Stimme des jungen Mannes war zu einem Murmeln geworden. Er sah Aeriel an.
»Die Perlenmacher«, sagte er. »Sie bringen das blaue Salz aus dem Meer. Kleine Wesen wie Glühwürmchen oder Leuchtkäfer. Einst ließen sie Pirs erstrahlen, man nannte es das Juwel des Westens. Nun ist alles außer dem Besitz des Fürsten zur Einöde geworden.«
»Weil der Fürst keine Frau hat?«
»Keine Frau will einen Unbekannten-Namenlosen heiraten. Mein Onkel schickt jeden Tag seine Jäger nach einer Frau aus. All die Jahre jagt er nun schon. Er hat fünf Frauen gefangen, aber sie sind entweder entkommen oder gestorben. Nachts jagt er sie mit anderen Mitteln.«
»Anderen Mitteln?«, wiederholte Aeriel.
»Mit einem Engel«, antwortete Roschka. »Ein Geschenk der Herrin seiner Träume. Man sagt, seine Schwingen sind schwärzer als …«
»Aber«, sagte Aeriel, »er jagte den Grauen Stier, als er uns fand.«
»Ach.« Roschka nickte. »Das hätte ich erwähnen sollen. Seit drei Tagmonaten schon jagt er den Grauen Stier, und der Engel ebenfalls, weil die Weiße Dame es so will.«
»Sie will den Stier haben, die Weiße Hexe?«, fragte Aeriel. »Warum?«
»Wer weiß das schon. Er weiß es nicht. Vielleicht gibt sie ihm seinen Namen wieder, wenn er ihn fängt.«
Aeriel schwieg. Sie konnte nicht denken, wurde schweigsam wie Erin, wie ein Schatten. Sie verstand nur eins von dem, was der Prinz gesagt hatte: Der Fürst hatte ihre Gargoyles den ganzen Tagmonat über gejagt, und sie hatte es gewusst, und es hatte ihr nichts ausgemacht. Hungergewürz. Sie schauderte.
»Es gibt eine Prophezeiung«, sagte der junge Mann. »Die letzte Frau, die die Jäger gefangen nehmen, verkündete sie, ehe sie starb. Sie rief, es stünde auf den Felsen geschrieben, dass die Fackel wieder brennen und der Pirsalon zurückkehren und der rechtmäßige Erbe kommen würde.«
»Pirsalon!«, rief Aeriel überrascht.
»Der große Hirsch«, sagte Roschka. »Der Wächter von Pirs. Der Engel trug ihn fort, als er kam.«
Aeriel fühlte, wie das Blut in ihr wallte. »Ich suche den Pirsalon«, sagte sie. »Ich muss ihn finden.«
Roschka schien kaum zuzuhören. »In einem Jahr bin ich mündig«, sagte er. »Und mein Onkel fürchtet um seine Herrschaft. Die Hohen Familien wollen sich nicht mehr von ihm regieren lassen. Sie wissen, dass ein Fluch auf ihm lastet. Nur wenn er heiratet, kann er sich retten …«
»Aber was habe ich mit dem allen zu tun?«, fragte Aeriel wieder. Ihr Kopf schmerzte von dem vielen Zuhören.
Der grünäugige Junge kniete vor ihr. »Er will dich heiraten, Aeriel.«