6
Der Schwarze Vogel
Aeriel erhob sich und wanderte ziellos durch die eng beieinanderstehenden Pavillons. Sie begegnete keiner Menschenseele. Alle, die aus weiter Ferne einen Blick auf sie erhaschten, machten einen Bogen um sie: Jeder schien in Ehrfurcht vor ihr zu leben. Sie seufzte und sehnte sich nach einem Menschen, der sie nicht augenblicklich erkannte und vor ihr zurückwich. Sie bereute zutiefst, dass sie Erin hatte ziehen lassen. Als sie gerade in eine schmale Gasse einbog, um einen Weg aus dem Gewirr an Zelten und Vorratspavillons zu finden, drang zufällig ein Gesprächsfetzen an ihr Ohr. Stirnrunzelnd blieb sie stehen, denn sie erblickte niemanden in der Nähe.
Ein großes grünes Zelt aus glänzender Seide blähte sich vor ihr in der schwachen Wüstenbrise auf. Aeriel spürte den kühlen Windhauch an ihrer Wange und den groben Sand, der bei jeder Woge aufwirbelte. Das klatschende Flattern der offenen Zeltklappe unterstrich nur die Stille. Verwundert lauschte sie und spitzte die Ohren, doch für einen langen Moment hörte sie nur das Säuseln des Windes und der Seide. Dann drangen sie wieder zu ihr, die leisen, gedämpften Stimmen – eine davon unverkennbar Irrylaths.
»Wenn du deine Reiter so positionierst, könnten sich die Bogenschützen meiner Mutter hier aufstellen …«
Aeriel erstarrte, sie vernahm das schwache Kratzen von Metall auf Metall. Ein anderer sprach.
»Dann könnten unsere Fußsoldaten hier und hier getrennt aufmarschieren.«
Sabr. Aeriel erkannte sie nun, vergegenwärtigte sich die Banditenkönigin, die wohl einen Dolch zog und die Waffe auf Irrylath richtete. Wieder das Geräusch von kratzendem Metall: Der Dolch wurde zurück in die Scheide gesteckt.
»Du hast mir nie erzählt, was mit der prächtigen Berner Klinge geschah, die ich dir damals zum Geschenk machte.«
Ein neckender Ton hatte sich in Sabrs Stimme geschlichen. Aeriel blinzelte. Die Banditenkönigin war nur selten zu Scherzen aufgelegt. Dann hörte sie das Rascheln von Pergamenten.
»Sie ist zerbrochen«, gab Irrylath knapp zur Antwort.
Ihre Stimmen kamen nicht aus dem Innern des Zeltes, erkannte Aeriel plötzlich und drängte sich näher an den dunklen Pavillon. Seine Rückseite grenzte an eine Sanddüne und ein safrangelbes Zelt, die zusammen einen kleinen Innenhof umfassten.
»Wie war das möglich?«, fragte die Cousine des Prinzen. »Die Klinge war aus Berner Stahl gefertigt.«
Aeriel verharrte ruhig neben dem grünen Pavillon und lauschte gebannt. Kein Ton von Irrylath. Behutsam spähte sie hinter die grüne Seide. Sabr und Irrylath befanden sich in dem jenseitigen Hof. Sie waren alleine, ohne den üblichen Schwarm an Dienstboten und Begleitern. Halb abgewandt von seiner Cousine beugte sich der Prinz von Avaric über eine Schriftrolle. Sabr spielte mit ihrer eigenen Berner Klinge.
»Ich schenke dir noch eine«, sagte sie sanft.
»Lieber nicht«, erwiderte er hastig, richtete sich auf und rollte das Pergament ein.
Er rückte von Sabr ab, wenn auch nur einen Schritt. Sie folgte und legte ihm ohne jede Scheu eine Hand auf die Narben, die seine Wange überzogen. Ariel war erstaunt. Sie presste die Zähne fest zusammen, um nicht laut aufzuschreien. Erwartungsgemäß hätte Irrylath von Sabr zurückschnellen müssen, doch stattdessen wandte er sich um, langsam, beinahe widerwillig, und sah sie an.
»Kannst du mich denn nicht lieben, Cousin«, fragte sie ihn, »nicht einmal ein kleines bisschen?«
Eine Welle der Empörung brach über Aeriel zusammen, dann blindwütige Eifersucht. Irrylath hätte ihr nie eine solche Berührung gestattet. Sie biss sich auf die Zunge, in der Hoffnung, er würde sich wehren und Sabr grob beiseiteschieben, sie beschimpfen, doch er schüttelte nur schwach das Haupt, und seine Augen zeugten von verzweifelter Traurigkeit, nicht Zorn.
»Ich kann keine Frau lieben, solange der Zauber der Hexe auf mir ruht«, erwiderte er. »Das habe ich dir doch schon gesagt.«
Er hatte es ihr erzählt! Unverständnis erfasste Aeriel. Ihre Finger schlossen sich fest um die Zeltstange des seidenen Pavillons. Sie hatte angenommen, nur sie und vielleicht Königin Syllva seien in das Geheimnis eingeweiht. Alles, was Erin und das Lager zu wissen glaubten, entsprang lediglich Gerüchten. Dennoch hatte er sich Sabr anvertraut. Weshalb? Diejenige, die von vielen weiterhin als Königin von Avaric bezeichnet wurde, löste mit wehmütiger Miene die Hand von ihm.
»Ja«, sagte sie leise. »Und die einzige Genugtuung, die ich darüber empfinde, ist, dass du sie auch nicht lieben kannst.«
»Rede nicht so von ihr«, flüsterte Irrylath. Jäh drehte sich Sabr weg.
»Sie jagt dir Angst ein, nicht wahr?«, fauchte die Cousine des Prinzen. »Beinahe so sehr wie die Hexe selbst. Du fürchtest, ihre magischen grünen Augen sähen alles.« Sabr schnaubte verächtlich. »Und? Sehen sie uns jetzt?«
Vom Zelt nur halb verdeckt, stand Aeriel wie angewurzelt da, zu benommen, um sich zu bewegen. Sie fühlte sich machtlos, ausgeliefert, nackt. Doch weder ihr Gemahl noch die angebliche Königin von Avaric nahmen Notiz von ihr, sie hatten bloß Augen füreinander.
»Sie stand im Tempelfeuer von Orm«, fuhr Sabr erbittert fort. »Es hat ihren Schatten verbrannt. Sie trägt eine Perle um den Hals, die vor Licht pulsiert. Welch eine Sterbliche mag das sein?«
Die Banditenkönigin drehte sich wieder zu Irrylath und packte ihn am Arm. Diesmal wand er sich nicht ab.
»Ich beschwöre dich, sie ist keine Sterbliche! Sie ist ein übernatürliches Wesen, Ravennas Zauberin. Wie solltest du sie lieben? Wahrscheinlich ist der Bann der Hexe nur ein geschickter Trick deinerseits, um sie dir vom Leib zu halten.«
Der Prinz schüttelte den Kopf. Seine Stimme klang heiser. »Wenn es doch so wäre!«
Seine Cousine schien ihn nicht zu hören. Ihre Fingerknöchel waren weiß, während sie seinen Arm umklammerte. »Aber ich bin eine Sterbliche. Ich wäre zufrieden, schenktest du mir bloß dein Herz. Wahrhaftig …«
Da befreite er sich aus ihrem Griff. Der Atem stockte Aeriel, als sie das Geschehen beobachtete. Ihre Knie zitterten. Krampfhaft hielt sie sich an der Zeltstange fest.
»Ich bin nicht Herr meiner Gefühle«, sagte Irrylath. »Mein Herz gehört nicht mir.«
»Sie hat es gestohlen, nicht wahr?«, fauchte Sabr.
Der Prinz senkte den Kopf, blickte weg. Dann berührte er seine Brust. »Und mit Blei überzogen.«
»Ich sprach nicht von der Hexe«, entgegnete die Banditenkönigin. »Als sie dich erlöste und das Blei entfernte, hat sie dir nicht dein eigenes Herz zurückgegeben, nicht wahr? Sie hat es für sich behalten.«
Sabr umkreiste ihn, um ihm direkt ins Gesicht zu sehen, legte ihm die Hand auf die Brust.
»Das Herz, das hier schlägt, gehört dir nicht«, beharrte sie. Er wich ihrem Blick aus. »Wie kannst du dann behaupten«, fuhr sie leise fort, »dass sie dich nicht an sich binden will, wie schon die Hexe vor ihr?«
Aeriel spürte, wie eisige Wut in ihr aufwallte. Lügen, lauter Lügen! Sie hatte ihn nur retten wollen, indem sie ihm ihr eigenes schlagendes Herz einpflanzte. Es war Talb, der Magier, der das verzauberte Herz des Geflügelten genommen, es vom Blei der Hexe befreit und in die Brust der sterbenden Aeriel gelegt hatte.
»Ich liebe dich«, sagte Sabr.
»Sag das nicht«, gab der Prinz barsch zurück.
Sabrs Hand verharrte auf seinem Herzen. »Es kümmert mich nicht, ob du dich mir hingeben willst oder nicht. Ich will nur von dir geliebt werden.«
Er hob den Kopf und sah dann weg. Aeriel erkannte die Verzweiflung in seinen Augen. »Das kann ich nicht«, flüsterte er. »Ich weiß nicht, wie. Die Hexe hat immer noch ihre Krallen in mich geschlagen. Ich kann weder dich noch sie noch sonst einen Menschen lieben, solange die Weiße Hexe am Leben ist.«
Alles um Aeriel schien sich wild zu drehen. Da, er hatte es benutzt, Sabrs Wort, dieses namenlose sie. Sabr streckte die Arme aus und nahm das Gesicht des Prinzen in ihre Hände, doch Aeriel sah nur verschwommen.
»Ich werde es dir zeigen«, sagte sie. »Ich werde dir helfen.« Erneut schüttelte er das Haupt.
Rasende Eifersucht verzehrte Aeriel. Wie konnte sich die Banditenkönigin erdreisten? Wie war es Sabr gelungen, die Irrylath erst wenige Tagmonate kannte, eine solche Nähe aufzubauen? Sie, Aeriel, hatte jeglichen Versuch unternommen, ihn zu berühren, ihm Trost zu spenden, seine Gefühle zu ergründen, nur um wiederholt zurückgewiesen zu werden. Du kannst mir nicht helfen, hatte er einst im Sternenlicht erklärt. Niemand kann mir helfen. Doch sie hörte ihn diese Worte nicht vor Sabr wiederholen.
»Ob du mich nun liebst oder nicht«, wisperte sie, »ob du dich mir hingeben darfst oder nicht, ich liebe dich. Und ich wünschte, dein Herz gehörte allein dir, damit du es der Frau schenktest, die du erwählst, und wäre kein Objekt der Begierde, das im Wettstreit zwischen der Weißen Hexe und einer grün-äugigen Zauberin von ihren scharfen Zähnen in Stücke gerissen wird.«
»Oh, Cousine«, sagte Irrylath, »wenn es doch nur so wäre!«
Aeriel empfand nichts als Übelkeit, während sie benommen aus dem
Lager taumelte. Die trockene Kruste des roten Sandes brach und
barst bei jedem Schritt. Sie begegnete niemandem. Niemand hielt sie
auf. Die Pavillons rückten in weite Ferne. Die Nacht dehnte sich
dunkel und lautlos, doch Aeriel konnte weder den abscheulichen
Worten, die unaufhörlich in ihrem Bewusstsein widerhallten, noch
der Erinnerung an Irrylath und Sabr entfliehen.
»Diebin!«, keuchte sie zitternd, kaum in Lage, Atem zu schöpfen. »Königin der Diebe!« Erin hatte Recht behalten. Aeriel kämpfte gegen ihre Tränen. »Irrylath gehört mir.«
In der Düsternis bewegte sich etwas über ihr. Aeriel blieb strauchelnd stehen. Mit einer Hand an der Brust spähte sie zu dem fahlen Schimmer der Sterne und dem Strahlenkranz von Oceanus. In ihrer Handfläche barg sie das blasse Glühen der Perle.
Das Geschöpf vor ihr krächzte und spreizte die Schwingen. So groß wie ihr Unterarm stand es aufrecht vor ihr: Es war vollkommen schwarz. Seine Federn schienen jegliches Licht zu absorbieren, sie waren unergründlich wie Schatten. Aeriel erstarrte. Der Schwarze Vogel krächzte erneut und starrte sie an. In seinem Schnabel hielt er eine silberne Nadel.
»Sei gegrüßt, kleine Zauberin«, sagte er und nahm beim Reden die Nadel in eine Klaue.
Eine Gänsehaut lief Aeriel über den Rücken. »Du bist einer der Rhuks der Hexe.«
»Ja«, lachte er.
»Was willst du von mir?«, verlangte sie zu wissen, während sie suchend den Blick schweifen ließ, verwundert, wie sie so töricht sein konnte, das Lager allein und unbewaffnet zu verlassen. Die leeren Dünen türmten sich schier endlos um sie auf.
»Unsere Herrin hat dir einen Vorschlag zu unterbreiten«, kicherte der Rhuk. Genüsslich spielte er mit der silbernen Nadel in seinen Zehen.
»Nenn sie nicht meine Herrin«, fauchte Aeriel. »Deine Gebieterin war nie die meine.«
»Meine Herrin wünscht eine Unterredung mit dir«, erwiderte der Vogel. »Krieg ist vermeidbar. Gewiss kann diese Angelegenheit freundschaftlich zwischen euch beigelegt werden, von Angesicht zu Angesicht.«
»Ich hege wahrlich die Absicht, sie von Angesicht zu Angesicht zu treffen«, entgegnete Aeriel erzürnt, »alsbald wie möglich, und zwar mit einer Armee im Rücken.«
Der Schwarze Vogel zischte. »Verzichte auf Irrylath. Meine Herrin hat ein Vorrecht auf ihn.« Auf einem Bein hüpfte er über den Sand auf sie zu, mit dem anderen hielt er die Nadel fest umklammert.
»Meine Herrin wird dich mit jedem Geliebten entlohnen, den du begehrst. Sie wird Sabr töten, sollte das dein Wunsch sein.«
Aeriel wich vor dem Boten der Hexe zurück.
»Meine Herrin wird dir Unsterblichkeit verleihen, auf dass du zu einer der ihren wirst«, krächzte der Schwarze Vogel. »Sie hat sich schon immer nach einer Tochter gesehnt, einer Erbin …«
»Sie ist nicht unsterblich«, rief Aeriel, angewidert vom Anblick des Vogels: Die Lorelei fertigte die Schwingen der Vampire aus Federn von seinesgleichen. »Müsste sie dem Tode nicht ins Auge blicken, würde sie mich nicht fürchten.«
Der Rhuk lachte. »Tu es für Irrylath«, summte er. »Es wird ihm schlimm ergehen, solltest du meine Herrin zwingen, ihn von dir zu reißen.«
»Nein!«, schrie Aeriel und verlor in dem weichen, tückischen Sand beinahe das Gleichgewicht.
»Unterwirf dich!«, rief der Vogel. »Ravennas Glück hat sich von dir abgewandt. Du kennst nicht einmal die letzte Stanze des Reimes. Meine Herrin wird dich großzügig entschädigen, wenn du dich jetzt ergibst.«
Aeriel spürte, wie der Boden unter ihren Füßen steil anstieg. Der Rhuk hatte sie gegen eine abschüssige Sanddüne gedrängt. Einen Moment wallte Panik in ihr auf, als sie erkannte, dass jeglicher Fluchtweg abgeschnitten war.
»Deine Herrin hat schreckliche Angst vor mir«, erwiderte sie verbissen, während sie sich Erins Worte ins Gedächtnis rief. »Glaubte die Hexe, gegen uns siegen zu können, hätte sie längst ihre Armee geschickt.«
»Meine Herrin hat deine Armee so weit ziehen lassen, weil es ihr ein ergötzlicher Zeitvertreib ist«, antwortete der Rhuk, »Kinder beim Kriegsspiel zu beobachten.« Die silberne Nadel glitzerte in seiner Zehe. »Und weil du ihr den unschätzbaren Dienst erweist, all ihre Feinde an einem Ort zu versammeln.«
Aeriel biss die Zähne zusammen. Ihre Hand krallte sich in den Stoff ihres Gewandes und ballte sich zur Faust. Was erdreistete sich dieses Geschöpf, sie in die Enge zu treiben und Forderungen zu stellen? Was fiel ihm ein, sie zwingen zu wollen, Irrylath und den Krieg zu opfern? Als sie sich von der Düne löste und ungestüm auf den schwarzen Rhuk zuging, flatterte das Tier hastig rückwärts und wirbelte einen feinen, trockenen Sandregen auf. Aeriel beschleunigte ihren Schritt.
»Warum hat deine Herrin einen wie dich zu mir geschickt?«, wollte sie gleichmütig wissen. »Deinesgleichen zu töten ist mir schon früher gelungen.«
»Meine Herrin hat nicht die Absicht, dich zu töten«, zischte der Schwarze Vogel, »denn dann würde die Magie, die in dir eingeschlossen ist, entfleuchen und frei in der Welt herumschweben. Einer ihre Feinde könnte sie aufschnappen, so wie du die Zauberkraft des Sternenpferdes in dir aufgesogen hast. Es ist besser, dich zu bannen.«
Mit einem heiseren Schrei glitt der Schwarze Vogel in die Höhe. Für den Bruchteil einer Sekunde glaubte Aeriel, ihn in die Flucht geschlagen zu haben. Zu spät erkannte sie, dass er auf sie zuflog. Sie spürte seine flatternden Flügel in ihrem Gesicht und schlug verzweifelt auf ihn ein. Erneut schoss er herab und hackte mit dem Schnabel nach ihr, und diesmal, als Aeriel herumschnellte und dem Vogel ausweichen wollte, gab der Sand unter ihren Füßen nach, und sie strauchelte.
Sie schlug hart mit den Rippen auf dem Boden auf. Da spürte sie die Klauen des Schwarzen Vogels an ihrem Rücken. Er musste die Nadel fallen gelassen oder sie wieder im Schnabel haben. Keuchend, jeder Atemzug ein schmerzhaftes Stechen, zog sie sich auf den Ellbogen und versuchte mit aller Gewalt, den Rhuk zu verscheuchen. Das widerwärtige Geschöpf, das seine Zehen in ihre Schulter bohrte, erfüllte Aeriel mit Abscheu und ließ sie erschaudern.
Da spürte sie einen Stich hinter dem Ohr, scharf wie ein winziges Schwert. Unerträgliche Schmerzen bemächtigen sich ihrer, zu beißend, als dass sie auch nur einen einzigen Schrei hätte ausstoßen können. Aeriel schlug mit beiden Händen wild auf den Vogel ein. Zu ihrem Erstaunen hatte sich das Glühen der Perle, nun nicht länger verborgen, zu einem wahren Leuchtfeuer entzündet. Was hatte dieses gleißende Licht herbeigeführt? Nie zuvor war so etwas geschehen. Im selben Moment gaben die Krallen des Rhuks sie frei, und seine Schwingen strichen steif über ihre Wange.
»Das Licht, das Licht!«, krächzte er.
Benommen bemerkte Aeriel, dass der Rhuk neben ihr auf dem Boden zappelte und sich blindwütig wand, als würde er bei lebendigem Leib verbrennen. Das Licht der Perle wurde bereits schwächer. Eine entsetzliche Kälte umfing Aeriel. Zitternd glitt sie mit der Hand hinter ihr Ohr. Ihre Finger strichen über den kleinen silbernen Hügel, der aus ihrem Knochen ragte. Ein markerschütternder Schauder pulsierte durch ihren Körper. Irgendetwas riss an ihr, wie eine Perlenkette, aus der die Schnur herausgezerrt wird. Aeriels Gedächtnis löste sich auf. Sie litt Höllenqualen und hatte Todesangst. Es war ihr letzter Gedanke, bevor das Vergessen die Sterne verdunkelte.
Unzählige Stunden später erwachte sie. Ihr Erinnerungsvermögen war kläglich, denn die Nadel in ihrem Kopf hatte ihr den Namen geraubt und einen schrecklichen Zauber entfaltet, um Aeriel alles vergessen zu lassen. Der Schwarze Vogel lag tot neben ihr auf dem Sand. Sie erhob sich, stand eine Weile reglos da und musterte ihn, bevor sie eilig davonschritt. Das Tier war für sie bedeutungslos. Sie erinnerte sich nicht daran. Die Perle auf ihrer Brust glühte sanft, unbemerkt. Aeriel tauchte tiefer in die Wüste ein, verschwendete keinen Gedanken an das Lager, denn auch das war für sie nicht länger von Bedeutung. Sie war ein Niemand. Ein blasses, namenloses Mädchen.
»Und so bist du weitergewandert und irgendwann in die Höhlen der Zwerge gestolpert, wo du den Pilgerruf vernommen hast, der nach all den Jahren immer noch wirkt, und fandest den Weg zu mir.«
Aeriel vernahm wieder die Stimme der Gottgleichen. Die züngelnden Bilder auf der großen Glaskugel waren verblasst. Sie schwebten vor ihr in der Luft, schwerelos wie hauchzarte Spinnweben, die nur noch schwach azurblau glimmten. Das Gemach war in Zwielicht gehüllt, nicht länger vollkommen dunkel. Aeriel ließ den Blick über die dunkelblauen Wände und den herabhängenden Gazestoff schweifen. Das Ruhebett, auf dem sie lag, war niedrig und komfortabel. Jemand drückte ihr einen kühlen Verband auf die Stirn. Eine eigentümliche Starre verhinderte, dass sie den Kopf drehen konnte. Die Gottgleiche richtete ein weiteres Mal das Wort an sie.
»Weißt du, an welchem Ort du und deine Gefährten euch befindet?«
Aeriel verlagerte das Gewicht, versuchte, sich aufzurichten. Natürlich wusste sie es. »In der Stadt aus Kristallglas.«
»Weißt du, wer du bist?«, fragte die Gottgleiche.
Das war leicht. »Aeriel.«
»Und weißt du, wer ich bin?«
Aeriel sog scharf die Luft ein, als die Erkenntnis sie schlagartig traf. »Ravenna«, hauchte sie. »Die letzte Gottgleiche auf Erden. «
Die Frau neben ihr lachte, sanft und leise. »Mein Name lautet nicht Ravenna«, erwiderte sie, »das ist der Name der Stadt, die du Kristallglas nennst. Ihr echter Name ist NuRavenna, nach einer sehr alten Stadt auf meiner eigenen Welt.«
Sie lachte erneut, und die federleichte Kugel erbebte kaum merklich, als die Worte der Gottgleichen die Luft aufwirbelten.
»Mein eigener Name ist fast unaussprechlich. Das ist der Grund, weshalb ich so lange einfach ›die Herrin von Ravenna‹ genannt wurde. Zu irgendeinem Zeitpunkt wurde er zu ›die Herrin Ravenna‹ und manchmal sogar ›die Ravenna‹ verkürzt – die Zwerge bezeichnen mich immer noch so –, und schließlich werde ich heutzutage von den Oberländern lediglich ›Ravenna‹ genannt. Du solltest dieser Tradition folgen. Bist du stark genug, um aufzustehen?«
Aeriel brachte ein Kopfnicken zuwege. Ihr Körper fühlte sich merkwürdig an, steif und gleichzeitig sonderbar geschmeidig, beinahe, als sei sie in einer Gestalt erwacht, die völlig unberührt und frisch war. Dieser Gedanke beunruhigte sie. Einen Moment lang, während sie sich in eine aufrechte Sitzposition zog, tropfte ihr das Blut aus dem Kopf, und ihr schwindelte. Dann fand sie ihr inneres Gleichgewicht wieder. Ihre Hand glitt an ihre Brust, die nun leer war.
»Ravenna«, flüsterte sie, »was ist mit meiner Perle geschehen? «
»Streck die Hand aus«, erwiderte die andere sanftmütig.
Als Aeriel gehorchte, schwebte die riesige, zerbrechlich anmutende Kugel näher. Sie senkte sich zitternd und verdichtete sich, während ihr blaues Licht an Intensität zunahm, bis sie hart und fest wurde, nicht größer als ein Daumennagel, und sich in Aeriels Handfläche schmiegte. Fassungslos starrte das Mädchen auf ihre Finger.
»Meine Perle«, wisperte es leise.
»Ja, mein Kind«, sagte die Gottgleiche. »Auch wenn sie nun weit mehr ist als nur das entzündete Ei eines Glühwürmchens.«
Als Aeriel die Perle näher an ihr Gesicht brachte, um sie eingehend zu betrachten, kam Ravennas mächtige dunkle Hand und berührte das glühende Kleinod. Aeriel verspürte ein Aufwallen von Energie in sich, unsäglich kühl, wie das sanfte Kitzeln einer Feder, und das Licht in der winzigen Perle aus Korund wandelte sich von himmelblau zu weiß.